Helmer van Wonderen räumt auf. Er verfrachtet seinen bettlägerigen Vater ins Obergeschoß des alten Bauernhauses, entrümpelt das Erdgeschoss, streicht die Wände und schafft neue Möbel an. Das Gemälde mit den schwarzen Schafen, die Fotografien von Mutter und die alte Standuhr kommen nach oben, alle Pflanzen, die blühen können, auf den Misthaufen. Und da Vater ihm nicht den Gefallen tut, einfach zu verschwinden, sich von einem Windstoß hinwegfegen zu lassen oder wenigstens zu sterben, richtet der Sohn sein Leben unten neu ein. Doch die ländliche Ruhe währt nicht lang, denn Helmers Neffe Henk, der pubertierende Sohn seines verstorbenen Zwillingsbruders, soll bei seinem Onkel das Arbeiten lernen ...Genau in der Beobachtung von Mensch und Natur, subtil in der Anspielung und von zärtlicher Skurrilität, entwickelt Bakkers trockener, lakonischer Erzählstil von der ersten Seite an einen unwiderstehlichen Sog.
»In Oben ist es still hat G. Bakker beeindruckend und glaubwürdig beschrieben, wie ein Mann sich aus einer bedrückenden Vergangenheit und freudlosen Gegenwart befreit und neue Chancen wahrnimmt.« Sigrid Seegers ARD Druckfrisch 20150510
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.08.2009Der Bauer und sein Knecht
Gerbrand Bakkers Roman „Oben ist es still”
Der Bauer, früher einmal eine wichtige literarische Figur, taucht in heutigen Romanen nur noch selten auf. Die Literatur ist, wie die Gesellschaft überhaupt, urban geworden und selbstreflexiv. Höchstens noch als Biobauer oder Vermieter von Ferienwohnungen spielt der Landwirt im Bewusstsein der nicht-agrarischen Mehrheitsbevölkerung eine Rolle. 2006 aber hat in den Niederlanden der 1962 geborenen Gerbrand Bakker mit seinem Romandebüt für Furore gesorgt. Es ist tatsächlich ein Bauernroman – in jenem Land, von dem gewöhnlich die Bilder einer vollständig zersiedelten Landschaft und einer denkbar naturfernen Gemüseindustrie kursieren.
Der Held, Helmer van Wondern, blickt denn auch nicht auf einen typisch bäuerlichen Lebenslauf zurück. Auf dem Hof seiner Eltern aufgewachsen, hat er nach der Schule zunächst einmal im nahen Amsterdam Literatur studiert, weil eigentlich sein Zwillingsbruder Henk dazu ausersehen war, den Hof zu erben. Henk jedoch kam bei einem Verkehrsunfall ums Leben, seine Freundin Riet, die am Steuer gesessen hatte, überlebte schwer verletzt. Helmer zögerte keinen Moment, vom Hörsaal in den Kuhstall zurückzukehren. Seit die Mutter gestorben und der Vater zum Pflegefall geworden war, bewirtschaftet er den Hof alleine. Und obwohl er im Roman als Ich-Erzähler fungiert, stellt man sich Helmer als einen verschlossenen Menschen vor, dem das Reden überhaupt nicht liegt, der also auch nicht jammert und nicht grübelt, sondern mit fatalistischer Ruhe erledigt, was eben zu erledigen ist.
Auch als sich nach vielen Jahren des Schweigens eines Tages Riet bei ihm meldet. Nach Henks Tod hat sie einen anderen Mann geheiratet und ist Mutter eines Sohnes geworden, den sie Henk genannt hat, angeblich nach einem Onkel und nicht nach ihrem verunglückten Freund. Dieser junge Henk nun hat gerade die Schule verlassen, weiß nichts Vernünftiges mit sich anzufangen und so bittet sie Helmer, ob er nicht auf unbestimmte Zeit zu ihm auf dem Hof leben könne, vielleicht auch, damit er das Arbeiten lernt? Das ist ja nun eigentlich eine Zumutung: Einen völlig unbekannten, offensichtlich etwas schwierigen jungen Mann aufzunehmen, der ihn durch seinen Namen, sein Alter und nicht natürlich auch wegen seiner Mutter wie ein Wiedergänger seines tödlich verunglückten Zwillingsbruders erscheinen muss.
Helmer aber akzeptiert das mit stoischer Gelassenheit, kauft auch noch einen Fernseher, wie der junge Mann das fordert und tatsächlich entwickeln die beiden in kurzer Zeit eine erstaunlich unkomplizierte Form des Zusammenlebens: Man trinkt, man raucht, man kümmert sich ums Vieh und redet dabei nicht viel. Gut, manchmal regt sich Helmer auf, wenn Henk am Morgen nicht rechtzeitig aus dem Bett kommt, aber das war es dann auch schon.
Auf nach Dänemark
Solche Alltagsschilderungen, durchsetzt mit peniblen Beschreibungen von Vögeln, Bäumen und landwirtschaftlichem Gerät, lesen sich erst einmal so ruhig wie eine niederländische Landschaft unter grauer Wolkendecke liegt. Weniger vom Sprechen als vom Sehen lebt dieser Roman, vom genauen Blick eines Erzählers, der als Bauer gelernt hat, auch die unauffälligen Zeichen der Natur zu deuten. Beobachtung ist alles, auch mit den Nachbarn redet man nur das Nötigste und verfolgt ansonsten mit dem Fernglas, was sich im Haus nebenan so abspielt. Die Schafe wiederum, zahlreich auf den nassen Feldern platziert, beobachten ihrerseits stumm die Beobachter.
Eine Idylle stellt man sich anders vor und an entscheidenden Stellen bricht denn auch dieses ruhige Erzählgewebe auf: Wenn Helmers Blick an Henks Handgelenk hängen bleibt oder wenn er sich an die kräftigen Muskeln eines Knechts erinnert, den sein Vater ohne weitere Begründung vom Hof weg schickte, als er noch ein Kind war. In diesen Momenten blitzt eine Sinnlichkeit auf, die man gar nicht für möglich gehalten hätte in einer Welt, die nur den Wechsel der Jahreszeiten und die Arbeit kennt. Wie steht es da um Liebe und Zärtlichkeit? Weiß Helmer eigentlich, dass er homosexuell ist? Er spürt wohl ein Tabu, das auch noch vor den Toren des toleranten Amsterdam gilt, und er ahnt, dass der plötzliche Abschied des Knechts irgendetwas mit diesem Verbot zu tun hatte. Kann er darüber nicht sprechen, will er darüber nicht sprechen? Bakkers wortkarger Roman lebt nicht von Dialogen oder inneren Monologen, sondern von der Intensität der Szenen und Bilder, die wie eine literarische Anverwandlung niederländischer Landschaftsmalerei wirkt.
Nachdem der Vater in seiner Dachkammer gestorben ist und Henk sich ebenso beiläufig wieder nach Hause zu seiner Mutter verabschiedet hat, wie er bei Helmer eingezogen war, taucht der vor vielen Jahren verscheuchte Knecht wieder auf dem Hof auf und macht sich, als sei das die selbstverständlichste Sache der Welt, mit Helmer auf den Weg nach Dänemark. Man wird in diesem Augenblick Zeuge einer großen Befreiung. Aber man erfährt nicht mehr, wie es mit den beiden dort weitergeht. Man will auch gar nicht danach fragen. Es wäre den Figuren nicht angemessen. Man hat gelernt zu schweigen, wenn Henk schweigt. TOBIAS HEYL
GERBRAND BAKKER: Oben ist es still. Roman. Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 316 S., Euro 19,80.
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Gerbrand Bakkers Roman „Oben ist es still”
Der Bauer, früher einmal eine wichtige literarische Figur, taucht in heutigen Romanen nur noch selten auf. Die Literatur ist, wie die Gesellschaft überhaupt, urban geworden und selbstreflexiv. Höchstens noch als Biobauer oder Vermieter von Ferienwohnungen spielt der Landwirt im Bewusstsein der nicht-agrarischen Mehrheitsbevölkerung eine Rolle. 2006 aber hat in den Niederlanden der 1962 geborenen Gerbrand Bakker mit seinem Romandebüt für Furore gesorgt. Es ist tatsächlich ein Bauernroman – in jenem Land, von dem gewöhnlich die Bilder einer vollständig zersiedelten Landschaft und einer denkbar naturfernen Gemüseindustrie kursieren.
Der Held, Helmer van Wondern, blickt denn auch nicht auf einen typisch bäuerlichen Lebenslauf zurück. Auf dem Hof seiner Eltern aufgewachsen, hat er nach der Schule zunächst einmal im nahen Amsterdam Literatur studiert, weil eigentlich sein Zwillingsbruder Henk dazu ausersehen war, den Hof zu erben. Henk jedoch kam bei einem Verkehrsunfall ums Leben, seine Freundin Riet, die am Steuer gesessen hatte, überlebte schwer verletzt. Helmer zögerte keinen Moment, vom Hörsaal in den Kuhstall zurückzukehren. Seit die Mutter gestorben und der Vater zum Pflegefall geworden war, bewirtschaftet er den Hof alleine. Und obwohl er im Roman als Ich-Erzähler fungiert, stellt man sich Helmer als einen verschlossenen Menschen vor, dem das Reden überhaupt nicht liegt, der also auch nicht jammert und nicht grübelt, sondern mit fatalistischer Ruhe erledigt, was eben zu erledigen ist.
Auch als sich nach vielen Jahren des Schweigens eines Tages Riet bei ihm meldet. Nach Henks Tod hat sie einen anderen Mann geheiratet und ist Mutter eines Sohnes geworden, den sie Henk genannt hat, angeblich nach einem Onkel und nicht nach ihrem verunglückten Freund. Dieser junge Henk nun hat gerade die Schule verlassen, weiß nichts Vernünftiges mit sich anzufangen und so bittet sie Helmer, ob er nicht auf unbestimmte Zeit zu ihm auf dem Hof leben könne, vielleicht auch, damit er das Arbeiten lernt? Das ist ja nun eigentlich eine Zumutung: Einen völlig unbekannten, offensichtlich etwas schwierigen jungen Mann aufzunehmen, der ihn durch seinen Namen, sein Alter und nicht natürlich auch wegen seiner Mutter wie ein Wiedergänger seines tödlich verunglückten Zwillingsbruders erscheinen muss.
Helmer aber akzeptiert das mit stoischer Gelassenheit, kauft auch noch einen Fernseher, wie der junge Mann das fordert und tatsächlich entwickeln die beiden in kurzer Zeit eine erstaunlich unkomplizierte Form des Zusammenlebens: Man trinkt, man raucht, man kümmert sich ums Vieh und redet dabei nicht viel. Gut, manchmal regt sich Helmer auf, wenn Henk am Morgen nicht rechtzeitig aus dem Bett kommt, aber das war es dann auch schon.
Auf nach Dänemark
Solche Alltagsschilderungen, durchsetzt mit peniblen Beschreibungen von Vögeln, Bäumen und landwirtschaftlichem Gerät, lesen sich erst einmal so ruhig wie eine niederländische Landschaft unter grauer Wolkendecke liegt. Weniger vom Sprechen als vom Sehen lebt dieser Roman, vom genauen Blick eines Erzählers, der als Bauer gelernt hat, auch die unauffälligen Zeichen der Natur zu deuten. Beobachtung ist alles, auch mit den Nachbarn redet man nur das Nötigste und verfolgt ansonsten mit dem Fernglas, was sich im Haus nebenan so abspielt. Die Schafe wiederum, zahlreich auf den nassen Feldern platziert, beobachten ihrerseits stumm die Beobachter.
Eine Idylle stellt man sich anders vor und an entscheidenden Stellen bricht denn auch dieses ruhige Erzählgewebe auf: Wenn Helmers Blick an Henks Handgelenk hängen bleibt oder wenn er sich an die kräftigen Muskeln eines Knechts erinnert, den sein Vater ohne weitere Begründung vom Hof weg schickte, als er noch ein Kind war. In diesen Momenten blitzt eine Sinnlichkeit auf, die man gar nicht für möglich gehalten hätte in einer Welt, die nur den Wechsel der Jahreszeiten und die Arbeit kennt. Wie steht es da um Liebe und Zärtlichkeit? Weiß Helmer eigentlich, dass er homosexuell ist? Er spürt wohl ein Tabu, das auch noch vor den Toren des toleranten Amsterdam gilt, und er ahnt, dass der plötzliche Abschied des Knechts irgendetwas mit diesem Verbot zu tun hatte. Kann er darüber nicht sprechen, will er darüber nicht sprechen? Bakkers wortkarger Roman lebt nicht von Dialogen oder inneren Monologen, sondern von der Intensität der Szenen und Bilder, die wie eine literarische Anverwandlung niederländischer Landschaftsmalerei wirkt.
Nachdem der Vater in seiner Dachkammer gestorben ist und Henk sich ebenso beiläufig wieder nach Hause zu seiner Mutter verabschiedet hat, wie er bei Helmer eingezogen war, taucht der vor vielen Jahren verscheuchte Knecht wieder auf dem Hof auf und macht sich, als sei das die selbstverständlichste Sache der Welt, mit Helmer auf den Weg nach Dänemark. Man wird in diesem Augenblick Zeuge einer großen Befreiung. Aber man erfährt nicht mehr, wie es mit den beiden dort weitergeht. Man will auch gar nicht danach fragen. Es wäre den Figuren nicht angemessen. Man hat gelernt zu schweigen, wenn Henk schweigt. TOBIAS HEYL
GERBRAND BAKKER: Oben ist es still. Roman. Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 316 S., Euro 19,80.
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»In Oben ist es still hat G. Bakker beeindruckend und glaubwürdig beschrieben, wie ein Mann sich aus einer bedrückenden Vergangenheit und freudlosen Gegenwart befreit und neue Chancen wahrnimmt.« Sigrid Seegers ARD Druckfrisch 20150510