Jonas Becker hat seine Zelte in Berlin abgebaut und nichts zurückgelassen. Es zieht ihn nach Paris, wo er eine Biografie über den Autor Richard Stein schreiben möchte, der dort schon lange lebt. In der Rue Oberkampf bewohnt er ein kleines Appartement und schon an seinem ersten Tag erlebt er die
Metropole in einem Ausnahmezustand, aus dem sie nicht mehr herauskommen wird: die Anschläge auf die…mehrJonas Becker hat seine Zelte in Berlin abgebaut und nichts zurückgelassen. Es zieht ihn nach Paris, wo er eine Biografie über den Autor Richard Stein schreiben möchte, der dort schon lange lebt. In der Rue Oberkampf bewohnt er ein kleines Appartement und schon an seinem ersten Tag erlebt er die Metropole in einem Ausnahmezustand, aus dem sie nicht mehr herauskommen wird: die Anschläge auf die Redaktion von Charlie Hebdo schreiben sich tief in das Gedächtnis der Stadt. Die Tage verbringt Jonas mit Interviews Steins, nachts erobert er mit seiner neuen Freundin Christine die Bistros und Bars. Zwei Unterbrechungen erlebt sein neuer Rhythmus, zum einen erhält er unerwartet Besuch von Fabian, seinem früheren Freund und Kollegen, der sich ein monatelang gehütete Geheimnis von der Seele reden muss, zum anderen reist er mit Stein in die USA, um dort dessen Sohn zu suchen. Wieder zurück in Frankreich schließt Jonas die Biografie ab, ein Abschnitt geht zu Ende. Aber dies ist nicht der womöglich fatale Endpunkt seines Paris Aufenthaltes.
Es gibt Bücher, bei denen man schon nach wenigen Seiten merkt, dass das einer der Romane ist, in die man unmittelbar versinkt und gefühlt Teil der Geschichte wird. Hilmar Klute war mir bislang nicht als Autor bekannt, aber unabhängig von der Thematik hat mich sein Schreibstil restlos überzeugen können. Mit versierten, starken Bildern erweckt er nicht die Figuren zum Leben, sondern auch Paris und die Schockstarre, in der sich die Metropole nach den Anschlägen befand, wird immer wieder greifbar.
Die Geschichte um den Autor, der interviewt wird, liefert den Anlass für den Umzug und die Handlung, für mich jedoch tritt dies tatsächlich zunehmend zurück. Es sind andere Aspekte, die mich bei der Lektüre gepackt hatten. Den Rahmen setzen die Anschläge, man ahnt schnell, dass Charlie Hebdo der Anfangspunkt war und es ist bekannt, was nur den Endpunkt setzen kann. Zwischen diesen verstörenden Ereignissen liegt eine Sinnsuche, die sich auch im Protagonisten wiederfindet, der vermeintlich alles hinter sich gelassen hat, aber kann man sich wirklich von der eigenen Vergangenheit lösen? Schmerzlich wird Jonas bewusst, dass dem nicht so ist. Das Vakuum, in dem er sich befindet, ist auch nicht sein Leben, er sucht nach selbigen und bis er es gefunden hat, füllt er es mit jenem von Stein, der ihm vorhält, zu ängstlich zu sein, um wirklich zu leben.
Daneben dreht sich der Roman immer wieder um Literatur und Sprache. Der Spruch an einer Hauswand – „Il faut se méfier des mots“ – wird zu einem Leitspruch, der ihn verfolgt. Welche Worte, welche Zeichen benutzt er? Welche hatten die Karikaturisten von Charlie Hebdo verwendet, die so sehr den Hass ihrer Mörder provozierten und mit welchen wird die Trauer um sie öffentlich bekundet? Wie konnten ihn Bücher als Jugendlicher so faszinieren, dass er tagelang gedanklich aus der realen Welt ausbrach und weshalb kann er das als Erwachsener nicht mehr so intensiv erleben? Woraus sich wiederum die Frage ergibt, weshalb er scheinbar permanent auf der Suche nach einem Ausweg, einer Flucht aus dem eigenen, selbst gestaltet oder eher: selbst verschuldeten Leben ist. Er gehört zu einer Generation, der alles möglich, aber nichts perfekt genug ist. Nie festlegen, immer noch ein Türchen offenhalten, weil es noch etwas Besseres geben könnte. Die Jagd nach dem Ultimativen ist letztlich der einzige Sinn des Daseins, der wenig Freude und Befriedigung gibt.
Die Straße im 11. Arrondissement wirkt als Titelgeber, die zugehörige Metro-Station gestaltet das Cover des Buchs. In engem Radius um diese spielt sich die Handlung ab, die auch thematisch kaum ausbricht. Es ist jedoch kein Treten auf der Stelle, sondern eher ein Innehalten, wie dies nach extremen Ereignissen eintritt. Ein in seinen Bildern und der Gesamtkonstruktion stimmiger Roman, der durch eine pointierte Sprache besticht und mit einem interessanten Protagonisten überzeugt.