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Ein Schelmenroman, eine meisterhafte Groteske und eine Zeitreise in die jüngere deutsche Vergangenheit. Jens Behse ist gestorben und blickt auf sein Leben zurück: die scharfsinnige, sprachmächtige und ironische Erzählung einer Kindheit und Jugend in Deutschland.
Jens Behse heißt der junge Held des Romans Oberland , der Anfang der siebziger Jahre mit einer turbulenten Überfahrt nach Helgoland beginnt und 1989 mit einem inszenierten Selbstmord vor dem Hamburger Rathaus endet. Behse, im ersten Kapitel sechsjährig, kommentiert furios eine Urlaubsreise nach Helgoland. Der Mittelteil erzählt vom…mehr

Produktbeschreibung
Ein Schelmenroman, eine meisterhafte Groteske und eine Zeitreise in die jüngere deutsche Vergangenheit.
Jens Behse ist gestorben und blickt auf sein Leben zurück: die scharfsinnige, sprachmächtige und ironische Erzählung einer Kindheit und Jugend in Deutschland.
Jens Behse heißt der junge Held des Romans Oberland, der Anfang der siebziger Jahre mit einer turbulenten Überfahrt nach Helgoland beginnt und 1989 mit einem inszenierten Selbstmord vor dem Hamburger Rathaus endet.
Behse, im ersten Kapitel sechsjährig, kommentiert furios eine Urlaubsreise nach Helgoland.
Der Mittelteil erzählt vom vierzehnjährigen Lulatsch und seiner bis auf die Knochen bürgerlichen Lehranstalt, von den »Egaljungen« und »Füllmädchen« seiner Klasse, von den berüchtigten »Alphatieren«, die ihn nur als Briefchenträger wahrnehmen. Und von einem beeindruckend korpulenten und frühreifen Mädchen, das seinen Mitschülern erste erotische Erlebnisse verschafft. Für seine politisch überkorrekten Eltern und deren 68er-Mief hat Jens Behse nur beißenden Spott übrig. Seine wohlstandsgesättigte, gleichgültige Umwelt hält für ihn nur ein Leben voller Bedeutungslosigkeit bereit.
Am Ende des Romans leistet Behse, inzwischen 22 Jahre alt, seinen Zivildienst auf der Sterbestation eines Hamburger Krankenhauses, wo er sich nicht nur mit dem fremden, sondern auch mit dem eigenen Tod befasst. Denn die Todessehnsucht bleibt Jens Behses beherrschendes Lebensgefühl, der Tod ist sein einziges wahres, unumstößliches Ziel.

Der Roman Oberland sucht seinesgleichen in der jungen deutschsprachigen Literatur, er ist ein großer literarischer Entwurf, intelligent, aus einer verblüffenden Perspektive erzählt und mit viel Tempo und Sprachwitz geschrieben; eine vielstimmige Zeitreise in die deutsche Vergangenheit.
Oberland ist ein wortstarker Nachruf: auf Jens Behse, der stirbt, um in einer dreitägigen Totenwache noch einmal, mit »unendlich nachweltlicher Muße«, seine bisherige Existenz zu erleben.

Autorenporträt
Marcus Jensen, geboren 1967 in Hamburg, lebt heute in Berlin.
Gewinner des 4. Open-Mike-Wettbewerbs und des Würth-Preises, Auszeichnungen beim Bettina-von-Arnim-Preis, bei der Literaturförderung Kulturbehörde Hamburg, Stipendium des Künstlerdorfs Schöppingen, des LCB Berlin und des Darmstädter Literaturfonds.
1999 veröffentlichte Marcus Jensen in der FVA sein von der Kritik hochgelobtes Debüt Red Rain.
Weitere Informationen zu Marcus Jensen im Internet unter: www.marcusjensen.de
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.04.2004

Wer zählt die Stimmen, nennt die Moden?
Radio Jenseits: Marcus Jensens zweiter Roman „Oberland” handelt von Parka und Geodreieck
Warum sind Parkas wieder in? Sie sind zunächst einmal in, weil sie einmal in waren, und warum sie es damals waren, ist heute vor allem insofern wichtig, als sie heute gerade nicht deshalb in sind. Die achtziger Jahre sind vorbei, und als eines ihrer Symbole lässt sich der Parka zitieren, weil er heute im kulturellen Zeichensystem isoliert dasteht: er hat Anführungsstriche bekommen. Am Parka lassen sich, wie an einem Kleiderständer, die Achtziger aufhängen. Ganz anders verhält es sich mit dem Geodreieck. Auch das Geodreieck mag Teil der Erinnerung an eine Jugend in den Siebzigern und Achtzigern sein. Das gilt aber nur für die, die heute um die fünfunddreißig sind. Das Geodreieck ist nämlich schon seit Jahrzehnten Inventar der Jugend, generationsübergreifend. Wenn es für Jugend steht, dann für eine, die es alle zehn Jahre neu gibt. Im Gegensatz zum Parka hat es keinen brauchbaren Zeitindex, und was mit ihm unterstrichen wurde, dürfte kaum je wichtig gewesen sein. Der Parka hat etwas bedeutet, das Geodreieck war dazu da, etwas Bedeutung zu geben, was keine hatte.
Und so ist alles Parka oder Geodreieck, Ding oder Dingsbums in dem vor Zeitdetails strotzenden Siebzigerachtzigerjugendroman „Oberland” von Marcus Jensen, Jahrgang 1967, einem so unebenen Roman, dass man hinter der Unebenheit fast ein Programm vermutet, das matrixmäßig eine Schieflage der Welt nach der anderen produziert. Mit einer Schieflage fängt es an. Jens Behse, Erzähler des Romans und wie sein Autor 1967 geboren, befindet sich 1973 mit seinen Eltern auf einem Schiff Richtung Helgoland, und es stürmt, dass die Dinge vom Tisch rutschen. Wie es hier dröhnt vor Naturgewalt, ist großartig geschildert. Gleich zeigt sich Jensens fabelhaftes Beschreibungstalent. Doch schon hier, im ersten der drei Teile des Buchs, deutet sich an, was dem Leser fortan zu schaffen machen wird: ein immer krasseres Auseinanderklaffen von Sprache und Inhalt. Die Beschreibungen gehen weiter und weiter, werden immer kleinteiliger: „In der Cola stiegen die Kohlensäurebläschen hoch.” Es ist viel die Rede von Alexandra, der zu früh verstorbenen Schnulzensängerin, von der grotesk gründlichen Bombardierung und Sprengung Helgolands und den politischen Moden der siebziger Jahre, wenn der Vater der Gastwirtin verbietet, die blutrünstige Geschichte von Störtebeker zu erzählen, weil dies dem Erziehungsstil des Pazifisten widerspricht. Die wortreichen Schilderungen wirken echt und lebendig, aber es bleibt die Frage, wozu sie da sind.
Teil zwei, der acht Jahre später spielt und von Behses Schulzeit berichtet, macht das Zeitpanorama dann zur Chefsache und lässt es mit dem vagen Themenkomplex Jugend zusammenfallen. Es beeindruckt, wie viele Stimmen und Strömungen Jensen aufgegriffen und wiederbelebt hat. OMD, Neue deutsche Welle, Mad-Hefte, Atomkriegspanik, Immanenz, Pershing II. Man muss sich „Oberland” wie ein Radio vorstellen, das die Stimmen der Siebziger und Achtziger einfängt. Das ist schon deshalb so, weil Behse tot ist: von oben, vom „Oberland” aus, schaut er auf sein Leben zurück, das 1989, im dritten Teil, in der Innenstadt von Hamburg per Selbstmord mit Handgranate zu Ende geht.
Auf Tuchfühlung mit dem Tod
Was bis dahin passiert, pendelt zwischen dem Überbringen von Liebesbriefen an Sven, Behses Freund; dem Protokollieren einer Initiationsszene zwischen Sven und dem dicken, frühreifen und von Jensen gekonnt charakterisierten Mädchen Steff; einem Selbstmordversuch an Sylvester; Arbeit an der Theorie des Todes und Séancen mit Lehrern; Behses Liebe zu Steff, deren Selbstmord; am Ende Behses Zivildienst auf der Krebsstation – da ist der Held mit dem Tod schon auf Tuchfühlung. So geht der todesversessene Jens „Jens-eits” Behse wie Störtebeker an den zweiundzwanzig Jahren seines Lebens vorbei.
Jensen hat raffiniert konstruiert, um dem Roman Form zu geben. Geodreieckform. Erst mit dem dritten Teil ist sie komplett, indem der dritte Teil sich symmetrisch zum ersten fügt. Ein aufgedecktes Geheimnis Steffs Eltern betreffend offenbart, dass schon im Anfang der Keim alles Kommenden lag. Zahlenspiele über Zahlenspiele, Spiegelungen, Prophezeiungen. Und doch neigt „Oberland” zur amorphen Detailmasse ohne Fokus, wenn man unter Fokus nicht bloß wieder den allgegenwärtigen Tod verstehen will. Oder ist das Problem schon damit vom Tisch, dass die Zeit auch schon eine Richtung ist? Dass der Tod existenzphilosophisch der Sinn von Dasein ist? Die rückblickende Perspektive, aus der alles auf den Tod zuläuft, verringert jedenfalls auch die erzählerischen Möglichkeiten. Wo ein Entwicklungsroman von der Offenheit seines Ausgangs lebte und für Kontingenz und die Macht der vergehenden Zeit offen wäre, ist Jensens negative Bildungserzählung eine stringente Desintegrationsgeschichte mit gewissem Ausgang, die den Helden so weit aus allem herauslöst, bis er tot ist.
Man könnte den Hauptunterschied der Jugendgeschichte „Oberland” zu anderen Exponenten des inzwischen sehr beliebten Genres darin sehen, dass hier mit mehr mit technischem Raffinement gearbeitet wird, doch waren auch Bücher wie „Griff in die Luft” von Peter Renner oder Marcus Brauns „Hochzeitsvorbereitungen” in dieser Hinsicht nicht ohne Grazie. Was „Oberland” von ihnen und anderen unterscheidet, ist vor allem, dass die Jugend hier eine grauenhafte Zeit ist, und dass von ihr in kalten, manchmal auch zynischen Worten erzählt wird. Dieser Ton stört eher durch seine Eintönigkeit als durch seinen eigentlichen Gehalt. Der Tunnelblick aufs Ende ist ein Grund für seine Permanenz, ein anderer sicherlich die überall zum Ausdruck kommende Verachtung für die pädagogisch ausgelebten Überzeugungen der friedensbewegten Eltern, die alles gut meinen und alles falsch machen.
Mit den gleichen Gründen hängt wohl zusammen, dass zwar die meisten Details neutral besetzt und eine Ehrensache des Realismus sind, manche aber, wie die im 68er-Umkreis, scharf dagegen abstechen und groteske Bilder ergeben. Das trifft insbesondere auf die Selbstbeschreibungen Behses zu, der schon als Vierzehnjähriger über 1,90 Meter misst und täglich vor dem Spiegel stehend seinen Körper nach tödlichen Krankheiten absucht. So einseitig dieser Erzähler gezeichnet ist, weil er sich selber so einseitig wahrnimmt, so intelligent sind dann wieder die Reflexionen, die ihm Jensen in den Mund legt. Was in „Oberland” wiederkehrt, ist das, was nicht zusammenpasst.
KAI MARTIN WIEGANDT
MARCUS JENSEN: Oberland. Roman. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2004. 506 Seiten, 24,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.03.2004

Aus morgen wird nichts
Der coole Blickwinkel der Ewigkeit: Marcus Jensen in der Zeitschleife / Von Richard Kämmerlings

Steff weiß, wie es läuft. Mit ihren laut Poesiealbumeintrag 119,3 Kilogramm nimmt sie das ganze Gewicht jugendlicher Ängste und Sorgen locker auf ihre breiten Schultern. Zweimal ist sie sitzengeblieben und ihren Mitschülern der neunten Klasse des Heisenberg-Gymnasiums in Pinneberg nicht nur in der körperlichen Entwicklung voraus. Sie hat "es" schon oft getan, und so manchem ihrer Mitschüler reicht sie hilfreich die Hand über die Schwelle sexueller Erfahrung, die in diesem Alter die Klasse spaltet. Im Putzmittelraum treibt sie es mit Sven, dem großsprecherischen Klassenschönsten, und in der großen Pause nimmt sie sich jene zur Brust, die noch im Affenkäfig ihrer Pubertätskrisen gefangen sind: "Schnuckel, nimm dich später in acht vor Frauen, die ihre Männer immer noch Jungs nennen: Da ist was faul."

Doch diese Steff, die die Komplexe und Schwachstellen ihrer Klassenkameraden mit unfehlbarem Röntgenblick durchschaut, die hinter dem Wehrmachtsfimmel des Angebers die Angst des Farbenblinden vor der Ausmusterung wittert, die hinter der Blüte des Klassenschwarms schon das frühe Verwelken ahnt, aber sich ihrerseits von keiner Spitze über ihr Körpergewicht aus der Fassung bringen läßt, hat doch selbst einen unter der Schlagfertigkeitsrüstung versteckten wunden Punkt: Die Familiengeschichte der Halbwaisen ist von einem dunklen Geheimnis überschattet. Als schadenfrohe Mitschüler dem auf die Schliche kommen, macht "heavy Steff", wie die Abi-Band sie viel später besingen wird, ihrem Leben ein Ende. Das war 1982.

Jens Behse, der Erzähler und die Hauptfigur von Marcus Jensens zweitem Roman "Oberland", ist zu diesem Zeitpunkt längst tot. Er starb Ende 1989 mit 22 Jahren und kehrt danach als Wiedergänger in seine Kindheit und Jugend zurück. Noch einmal durchlebt er jenes annus mirabilis 1982, "die extreme Verlängerung von Jungsein im weitesten Sinne, den letzten Zeitpunkt, zu dem Jugend nicht die Vorbereitung auf Job und Familie war". Er weiß immer schon, was passieren wird: daß der Anführer Rudi mit Hauptschulabschluß abgehen und mit Ach und Krach eine Lehre machen, der schöne Falk erst nach dem Abi sein coming-out haben und in der Hamburger Schwulenszene glücklich werden wird. Aber auch, daß die Zeit der entfesselten Graffiti-Sprayer erst noch kommt und daß Nena im nächsten Jahr ihren Siegeszug durch die Hitparaden antritt. Und daß Steff die erste und einzige Liebe seines Lebens werden wird.

Besser: Gewesen sein wird. Denn da die Zukunft für diesen Jens Behse immer schon Vergangenheit ist, ist das Futur II treffender. Jensen errichtet seine ambitionierte Romankonstruktion um ein schlichtes Gedankenspiel herum: Wie wäre es, sein Leben noch einmal zu durchleben, mit dem ganzen Wissen des Späteren (soweit man sich zum Zeitpunkt des Todes noch daran erinnert)? Wie würde das eigene Leben aussehen - sub specie aeternitatis, unter dem coolen Blickwinkel der Ewigkeit betrachtet? Diese Pubertätsphantasie, sich selbst beim Leben, beim Lieben und Leiden von außen zuzuschauen, wird hier zum Narrationsprinzip. Literatur als Nahtoderfahrung: Der Erzähler schwebt über dem OP-Tisch, während dort an seinem offenen Herzen herumgeschnitten wird.

Marcus Jensen ist wie seine Hauptfigur 1967 geboren und in Pinneberg aufgewachsen. So trägt dieser Roman natürlich autobiographische Züge und ist als Porträt von Jens/Jensens Generation angelegt, die meist nach einer Automarke benannt wird. Auch finden sich alle gängigen Accessoires aus den Erinnerungsbüchern und den Achtziger-Jahre-Shows: Raumschiff Enterprise und Yps-Heft mit Gimmick, Neue Deutsche Welle und Anti-Atomkraft-Sticker, Geodreieck und Poesiealbum beschwören jene Zeit plastisch herauf. Wenn Jensen eine Schülerfete mit Songs von "Ideal" und Joachim Witt überblendet, nimmt er die Archivfunktion der Popliteratur - nach Moritz Baßlers These - auf und führt sie zugleich ad absurdum. So verlangt Jens von seinen Mitschülern, daß sie die Texte auswendig lernen, um sie bei einer eventuellen Wiederkehr aus dem Jenseits zitierfähig parat zu haben: Das eigene Leben wird gleich durch die Brille des späteren Chronisten wahrgenommen. Indem Jensen die Grundsituation des Autobiographen - sich selbst in Beziehung zu einem früheren Ich zu setzen und sich der Kontinuität des Lebens erzählend zu versichern - als Plot in die Erzählung einführt, revitalisiert er den Pop-Roman als metaphysischen Thriller. Die Unmittelbarkeit der Lebensgeschichte verbindet sich mit philosophischer Spekulation und bricht deren verkopfte Abstraktheit in den Spintisierereien der Pubertät.

So schlägt Jens, erst durch Steffs beherzte Intervention vom belächelten "Lulatsch" zum Wortführer aufgestiegen, die Mitschüler durch wüste Theorien über die Wiedergeburt in den Bann, über ein Stadium nach dem Tod, in dem man zu Meilensteinen des Lebenswegs zurückkehrt. Wer sich darauf schon zu Lebzeiten vorbereiten will, kann sich allerdings leicht in den Möbiusbändern logischer Paradoxien verheddern. Auch ist Jens die treibende Kraft hinter einem Tischerücken der Clique, an dem sogar die vermeintlich aufgeklärten Lehrer teilnehmen. Doch ausgerechnet in der entscheidenden Sitzung fehlt Jens, der allein die Botschaft des wandernden Glases deuten könnte: Denn sie verkündet die Zahl der Stunden, die er noch zu leben hat.

Der Roman besteht aus drei Teilen. Der erste spielt 1973, während eines Familienurlaubs auf Helgoland, den der damals erst fünfjährige Jens später vergessen hat. So muß der wiedergeborene Beobachter seiner selbst die näheren Umstände wie ein notgelandeter Außerirdischer erst einmal herausfinden. Schuld daran ist ein pubertärer Denkfehler: "Ich unterentwickelter Ahnungsloser werde mich gründlich verrechnen, werde denken, mein Leben könne gar nicht vor 1980 beginnen." Während dem Erzähler, unterstützt durch einige untote Begleiter aus dem Jenseits, wichtige Zusammenhänge seiner Lebenshandlung plötzlich klar werden, wird das Dunkel um den Leser dichter, der erst bei einer abermaligen Lektüre manche Anspielungen und Reflexionen des Beginns verstehen kann. Im langen Mittelteil springt der Roman ins neunte Schuljahr, um schließlich im Epilog die Zeit vor Jens' Tod zu erzählen: Als Zivi in einem Hamburger Krankenhaus pflegt er jene Oma Kerber aus Helgoland, bei der die Familie '73 Urlaub machte und die auf überraschende Weise mit Steffs Schicksal verbunden ist.

Der ganze Roman läßt sich als eine Kreisbewegung um die "Zeitblase" der Pubertät verstehen, in der Jens gefangen ist wie auf dem "Insel-Alcatraz" Helgoland. Der Selbstmord der Freundin ist das zentrale Ereignis, das ihn in die Wiederholungsschleife zwingt. Auf vielfältige Weise spiegeln sich die drei Zeitebenen ineinander: Nietzsches ewige Wiederkehr des Gleichen ist das gleichwinklige Dreieck der Mathestunde; die sommersprossigen Zwillinge auf Helgoland sind das nicht totzukriegende Papageienpärchen der Eltern; die Sprengung 1947 auf Helgoland entspricht den Explosionen der uralten, aber noch funktionierenden Weltkriegshandgranaten der beiden anderen Teile. Das "eins, zwei, drei, vier, fünf" ihrer Zündung durchzieht Jens Behses Leben wie die Refrains der früh verunglückten Schlagersängerin. "Du liest im Roman die letzte Seite, um zu sehen, wer überlebt, was?" fragt Steff einmal. Bei Jensen weiß man von Anfang an, wer stirbt, doch kommt es gerade darauf nicht an.

Kein Wunder, daß der Zahlen- und Zeichenfanatiker Jensen sich von der Jahrtausendwende so sehr faszinieren ließ, daß er in seinem Romandebüt "Red Rain" (1999) die Apokalypse auf das Millennium datierte. Schon dieser trendige Berlin-Roman um einen gedoubelten Medizinmann, der die Polit-Prominenz der Hauptstadt mit Heilsvisionen beglücken soll, war voller zynischer Esoterik- und New-Age-Satire. In "Oberland" nun bekommt der Intimitätszwang der Achtundsechziger ebenso sein Fett weg wie ihre synkretistischen Jenseitslehren, die die behauptete Aufgeklärtheit im mystischen Geschwafel konterkarieren. Diese haßerfüllte Abrechnung mit der Generation der Eltern und Lehrer gehört eher zu den Schwachpunkten des Buchs, dem hier Kürzungen nicht geschadet hätten.

Stärker ist dagegen die oft unausgesprochene Verknüpfung mit den Schatten der NS-Zeit, die ebenfalls zombiehaft fortdauert: Schon Helgoland ist ein symbolischer Ort, wo die Spuren der Vergangenheit in einem gewaltigen Krater sichtbar sind. Die frühen achtziger Jahre mit ihrer Parka-Mode, den faschistoiden Wave-Gesängen, dem latent militaristischen Jugendjargon ("Volle Granate!") - all das verbindet sich zu einem Fundament des Verdrängten, das die friedensdemonstrative Fassade auf unheimliche Weise immer wieder durchdringt. So wenn die Neutronenbombe in den Gesprächen der Eltern schon über dem Hamburger Rathausmarkt zu hängen scheint, die Bombentoten des Zweiten Weltkriegs dagegen, die noch Steffs Mutter traumatisierten, kein Thema sind.

Jensens Roman ist auch ein Rückblick auf einen heute sehr fremden, neurotischen Umgang mit der deutschen Vergangenheit. Genauso weit weg wirkt die fatalistische Fixierung auf den Atom-Tod und das wohlige Suhlen in Suizidgedanken: "Aus morgen wird nichts", so läßt Steff gleich zu Beginn einem Verehrer ausrichten. Jens scheint den Tod zu suchen, um sich für immer in der eigenen Vergangenheit aufhalten zu dürfen - ein Privileg, das außer dem Zombie nur der erinnernde Autor genießt. Zugleich offenbart sich darin der Selbsthaß der geburtenstarken Jahrgänge, die ahnen, "von einer interessanteren Jugend irgendwann als geschlossener Block der Ödnis empfunden zu werden". Doch die Vorstellung, in der eigenen Generationskohorte wie in einem Gefängnis zu stecken, ist selbst historisch bedingt.

Nach Heraklit steigt niemand zweimal in denselben Fluß. Wer sein Leben noch einmal lebt, hätte ein anderes Leben. Mit Büchern ist es nicht anders. Jensens hochintelligenter Roman hat mit dem Leben gemein, daß man ihn beim ersten Durchgang nicht ganz versteht. Doch ist hier gewiß, daß es ein zweites Mal geben kann.

Marcus Jensen: "Oberland". Roman. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2004. 506 S., geb., 24,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Hochintelligent findet Rezensent Richard Kämmerlings diesen Roman, der seinen Informationen zufolge als Porträt der Generation Golf angelegt ist. Erzählt wird die Geschichte von Jens Behse, der nach seinem Tod als Wiedergänger seine Jugend in den 1980ern erneut durchlebt. Behse beobachtet seine Mitschüler und sich selbst mit dem Wissen eines Erwachsenen, was die Romanstruktur bestimmt und philosophische Reflexionen ermöglicht, so Kämmerlings, der autobiografische Züge des Autors ausmacht. Aber das hilft ja vielleicht, die Atmosphäre der 1980er Jahre lebendig einzufangen. Zudem thematisiere der Roman den Umgang der Generation mit der NS-Vergangenheit und verbinde dies mit pubertären und metaphysischen Elementen. "Oberland" besticht den Kritiker besonders durch seine intelligente Verknüpfung persönlicher und historischer Themen, auch wenn er manche Passagen, insbesondere die Abrechnung mit der Elterngeneration, etwas schwächer findet.

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