Produktdetails
- Verlag: Artemis & Winkler
- ISBN-13: 9783538065628
- ISBN-10: 3538065624
- Artikelnr.: 25209859
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.03.2012Das große Fressen für Weltverweigerer
Vera Bischitzkys Neuübersetzung von Iwan Gontscharows Wunderroman "Oblomow"
Von Andreas Platthaus
Es ist ein Teufelskreislauf, den Iwan Gontscharow in seinem 1859 erschienenen Roman "Oblomow" den Titelhelden abschreiten lässt. Dabei ist dieser dreißigjährige Ilja Iljitsch Oblomow nicht nur von Dämonen, sondern auch von einigen Engeln umgeben. Und das Leben könnte so angenehm für ihn sein: Als in Sankt Petersburg wohnender Gutsbesitzer gebietet er über ein Dorf mit dreihundert Seelen, also Leibeigenen, und bezieht von dort regelmäßige Einkünfte und Abgaben. Doch da ist die Unentschiedenheit von Oblomow, die ihn aus Sorge vor den Unwägbarkeiten des Schicksals zu einem gänzlich passiven Menschen werden lässt, einem Anti-Odysseus. Nennt Homer seinen fahrenden Helden einen "edlen Dulder", der umso berechtigter Ruhm und Ehre beanspruchen darf, weil er sich dem Schicksal stellt, so charakterisiert Gontscharow seine unbewegliche Hauptfigur als ängstlichen Zauderer, der das Fatum flieht. Da jede Handlung Konsequenzen hat, kann aus seiner Sicht nur völlige Apathie das Böse zuverlässig bannen. Das Gute indes bannt sie auch.
"Oblomow" ist aber nicht nur moralisch ein Schwellenbuch, sondern auch literaturgeschichtlich: der erste der großen russischen Romane aus der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Tolstoi hat ihn geliebt, und wenn man liest, was für ein Frauenbild Gontscharow in seinem Roman inszeniert, dann sieht man sofort, dass sich die Figur der Anna Karenina nicht nur dem Vorbild von Nikolai Tschernyschewskis "Was tun" verdankt (der vier Jahre nach "Oblomow" erschien, als es zum guten Ton der russischen Intelligenz gehörte, aus Gontscharows Roman zu zitieren).
Und das Buch ist ein Welterfolg. Allein acht Mal wurde der Roman ins Deutsche übertragen; die jüngste, gerade bei Hanser erschienene Fassung stammt von Vera Bischitzky, die 2010 mit ihrer fulminanten Übersetzung von Gogols "Toten Seelen" Anspruch auf den Platz anmeldete, den die im selben Jahr verstorbene großartige Svetlana Geier innehatte. Sie hatte mit ihren Neuübersetzungen der Romane Dostojewskis seit Ende der achtziger Jahre jene Welle von Publikationen ausgelöst, die uns die Hauptwerke der russischen Literatur neu geschenkt hat. Auch "Oblomow", seit 1960 nicht mehr neu ins Deutsche übertragen, ist einer ihrer Ausläufer. Hoffentlich strandet noch viel mehr an.
Vera Bischitzky übersetzt den Roman mit leichter Hand, ihre Dialoge lesen sich wunderbar, die beschreibenden Passagen sind mustergültig präzise und poetisch. In ihren reichen Anmerkungen preist sie jedoch die eigene Leistung selbst ein wenig zu sehr an, und es hat schon eine komische Komponente, dass ausgerechnet in Oblomows Brief an die von ihm geliebte Olga, der zu seiner vollsten rhetorischen Zufriedenheit ausfällt, folgende Passage in der deutschen Fassung zu lesen ist: "In meinem tiefen Kummer tröste ich mich ein wenig damit, dass mir diese kurze Episode in unserem Leben für immer eine reine, duftige Erinnerung hinterlassen wird, die allein schon bewirkt, dass ich nicht wieder in meinen früheren Dämmerzustand zurückfalle . . ." Komisch nicht, weil genau das später doch wieder geschieht, sondern weil sich Oblomow zuvor an seiner stilistischen Geschicklichkeit bei der Niederschrift erfreut hatte: "Kein einziges Mal kam es zu einer dichten, unangenehmen Begegnung zweier welcher und zweier dass." Doch genau das unterläuft Bischitzky.
Nun hat Reinhold von Walter diese Passage in seiner noch heute greifbaren klassischen Übersetzung von 1926, die Bischitzky bisweilen als (negativer) Vergleichsmaßstab dient, nicht besser gemeistert. Aber wie steht es etwa hiermit: "Ebenso vorsichtig und sachte wie mit der Phantasie ging er auch mit seinem Herzen um. Da er häufig strauchelte, musste er sich eingestehen, dass die Sphäre der Herzensdinger noch eine terra incognita war." So weit Bischitzky. Von Walter übersetzt umständlicher: "Nicht minder fein und vorsichtig wie die Phantasie beobachtete er auch das Erlebnis seines Herzens. Hier ging er freilich des öfteren in die Irre und musste bekennen, dass die Sphäre der Führungen des Herzens noch unbekanntes Land sei." Bischitzky rettet den lateinischen Terminus des Originals, lässt aber die Zuordnung ihres "Strauchelns" unklar werden. Ein simples "dabei" oder "hierbei" hätte gereicht.
Doch das Leitprinzip ihrer neuen Übersetzung ist erkennbar Entschlackung. Und das ist gut so, denn dadurch wird erkennbar, dass "Oblomow" nicht nur ein Virtuosenstück der Sprache darstellt. Es ist nun leichter, Gontscharows Roman als große Allegorie auf das zaristische Russland zu lesen - als Riesenreich, das angesichts der Herausforderungen durch Moderne und Weltpolitik in gespenstische Starre verfiel. Nicht umsonst schrieb Gontscharow am "Oblomow" während und unmittelbar nach dem Krimkrieg und siedelte das Geschehen im Buch kurz davor an. Das Verhalten seines Helden wurde denn auch sprichwörtlich, nicht nur in Russland. Im Roman prägt der deutschstämmige Freund Oblomows mit dem sprechenden Namen Andrej Stolz den berühmten Begriff für sein verhängnisvolles Zögern: oblomowschtschina - die Oblomowerei (auch Bischitzky bewahrt das eingeführte Wort). Lieber ein Schrecken ohne Ende als ein etwaiges Ende mit Schrecken.
Das entsprach zeitweise Gontscharows eigenen Erfahrungen bei der Niederschrift des Romans. Zehn Jahre mussten die russischen Leser nach der Einzelpublikation des berühmten neunten Kapitels mit dem Namen "Oblomows Traum" noch auf den fertigen "Oblomow" warten, weil Gontscharow sich immer wieder außerstande fühlte, die unterlassenen Handlungen dieses Weltverweigerers im Dienste einer Schlaraffenlandutopie, die aus nichts als Schlafen, Essen, Reden und Spazierengehen bestehen sollte, mit der nötigen Konsequenz auszumalen.
Nach Don Quijote ist Oblomow der zweite große Antiheld der Literaturgeschichte, aber sein Buch treibt ihn bis in den Tod. Man weiß es (oder spürt es sonst), und doch wünscht man ihm 750 Seiten lang nur einmal jenen Funken Initiative, der ihn gerettet hätte. Und der das Buch verdorben hätte. Denn es ist ja, wie Oblomows Freund Stolz, der am Ende des Romans zum wahren Helden (und zum am positivsten gezeichneten Deutschen in der russischen Literatur) wird, feststellt: "Das wäre eine andere Geschichte gewesen und ein anderer Held, der uns nichts angeht."
Ein Ende mit Schrecken, das wir als Leser fürchten, ist der Schlusssatz eines guten Romans. Der von "Oblomow" lädt sofort zum Wiedereinstieg am Anfang ein - zum literarischen Engelskreislauf.
Iwan Gontscharow: "Oblomow". Roman in vier Teilen.
Aus dem Russischen von Vera Bischitzky. Hanser Verlag, München 2012. 840 S., geb., 34,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vera Bischitzkys Neuübersetzung von Iwan Gontscharows Wunderroman "Oblomow"
Von Andreas Platthaus
Es ist ein Teufelskreislauf, den Iwan Gontscharow in seinem 1859 erschienenen Roman "Oblomow" den Titelhelden abschreiten lässt. Dabei ist dieser dreißigjährige Ilja Iljitsch Oblomow nicht nur von Dämonen, sondern auch von einigen Engeln umgeben. Und das Leben könnte so angenehm für ihn sein: Als in Sankt Petersburg wohnender Gutsbesitzer gebietet er über ein Dorf mit dreihundert Seelen, also Leibeigenen, und bezieht von dort regelmäßige Einkünfte und Abgaben. Doch da ist die Unentschiedenheit von Oblomow, die ihn aus Sorge vor den Unwägbarkeiten des Schicksals zu einem gänzlich passiven Menschen werden lässt, einem Anti-Odysseus. Nennt Homer seinen fahrenden Helden einen "edlen Dulder", der umso berechtigter Ruhm und Ehre beanspruchen darf, weil er sich dem Schicksal stellt, so charakterisiert Gontscharow seine unbewegliche Hauptfigur als ängstlichen Zauderer, der das Fatum flieht. Da jede Handlung Konsequenzen hat, kann aus seiner Sicht nur völlige Apathie das Böse zuverlässig bannen. Das Gute indes bannt sie auch.
"Oblomow" ist aber nicht nur moralisch ein Schwellenbuch, sondern auch literaturgeschichtlich: der erste der großen russischen Romane aus der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Tolstoi hat ihn geliebt, und wenn man liest, was für ein Frauenbild Gontscharow in seinem Roman inszeniert, dann sieht man sofort, dass sich die Figur der Anna Karenina nicht nur dem Vorbild von Nikolai Tschernyschewskis "Was tun" verdankt (der vier Jahre nach "Oblomow" erschien, als es zum guten Ton der russischen Intelligenz gehörte, aus Gontscharows Roman zu zitieren).
Und das Buch ist ein Welterfolg. Allein acht Mal wurde der Roman ins Deutsche übertragen; die jüngste, gerade bei Hanser erschienene Fassung stammt von Vera Bischitzky, die 2010 mit ihrer fulminanten Übersetzung von Gogols "Toten Seelen" Anspruch auf den Platz anmeldete, den die im selben Jahr verstorbene großartige Svetlana Geier innehatte. Sie hatte mit ihren Neuübersetzungen der Romane Dostojewskis seit Ende der achtziger Jahre jene Welle von Publikationen ausgelöst, die uns die Hauptwerke der russischen Literatur neu geschenkt hat. Auch "Oblomow", seit 1960 nicht mehr neu ins Deutsche übertragen, ist einer ihrer Ausläufer. Hoffentlich strandet noch viel mehr an.
Vera Bischitzky übersetzt den Roman mit leichter Hand, ihre Dialoge lesen sich wunderbar, die beschreibenden Passagen sind mustergültig präzise und poetisch. In ihren reichen Anmerkungen preist sie jedoch die eigene Leistung selbst ein wenig zu sehr an, und es hat schon eine komische Komponente, dass ausgerechnet in Oblomows Brief an die von ihm geliebte Olga, der zu seiner vollsten rhetorischen Zufriedenheit ausfällt, folgende Passage in der deutschen Fassung zu lesen ist: "In meinem tiefen Kummer tröste ich mich ein wenig damit, dass mir diese kurze Episode in unserem Leben für immer eine reine, duftige Erinnerung hinterlassen wird, die allein schon bewirkt, dass ich nicht wieder in meinen früheren Dämmerzustand zurückfalle . . ." Komisch nicht, weil genau das später doch wieder geschieht, sondern weil sich Oblomow zuvor an seiner stilistischen Geschicklichkeit bei der Niederschrift erfreut hatte: "Kein einziges Mal kam es zu einer dichten, unangenehmen Begegnung zweier welcher und zweier dass." Doch genau das unterläuft Bischitzky.
Nun hat Reinhold von Walter diese Passage in seiner noch heute greifbaren klassischen Übersetzung von 1926, die Bischitzky bisweilen als (negativer) Vergleichsmaßstab dient, nicht besser gemeistert. Aber wie steht es etwa hiermit: "Ebenso vorsichtig und sachte wie mit der Phantasie ging er auch mit seinem Herzen um. Da er häufig strauchelte, musste er sich eingestehen, dass die Sphäre der Herzensdinger noch eine terra incognita war." So weit Bischitzky. Von Walter übersetzt umständlicher: "Nicht minder fein und vorsichtig wie die Phantasie beobachtete er auch das Erlebnis seines Herzens. Hier ging er freilich des öfteren in die Irre und musste bekennen, dass die Sphäre der Führungen des Herzens noch unbekanntes Land sei." Bischitzky rettet den lateinischen Terminus des Originals, lässt aber die Zuordnung ihres "Strauchelns" unklar werden. Ein simples "dabei" oder "hierbei" hätte gereicht.
Doch das Leitprinzip ihrer neuen Übersetzung ist erkennbar Entschlackung. Und das ist gut so, denn dadurch wird erkennbar, dass "Oblomow" nicht nur ein Virtuosenstück der Sprache darstellt. Es ist nun leichter, Gontscharows Roman als große Allegorie auf das zaristische Russland zu lesen - als Riesenreich, das angesichts der Herausforderungen durch Moderne und Weltpolitik in gespenstische Starre verfiel. Nicht umsonst schrieb Gontscharow am "Oblomow" während und unmittelbar nach dem Krimkrieg und siedelte das Geschehen im Buch kurz davor an. Das Verhalten seines Helden wurde denn auch sprichwörtlich, nicht nur in Russland. Im Roman prägt der deutschstämmige Freund Oblomows mit dem sprechenden Namen Andrej Stolz den berühmten Begriff für sein verhängnisvolles Zögern: oblomowschtschina - die Oblomowerei (auch Bischitzky bewahrt das eingeführte Wort). Lieber ein Schrecken ohne Ende als ein etwaiges Ende mit Schrecken.
Das entsprach zeitweise Gontscharows eigenen Erfahrungen bei der Niederschrift des Romans. Zehn Jahre mussten die russischen Leser nach der Einzelpublikation des berühmten neunten Kapitels mit dem Namen "Oblomows Traum" noch auf den fertigen "Oblomow" warten, weil Gontscharow sich immer wieder außerstande fühlte, die unterlassenen Handlungen dieses Weltverweigerers im Dienste einer Schlaraffenlandutopie, die aus nichts als Schlafen, Essen, Reden und Spazierengehen bestehen sollte, mit der nötigen Konsequenz auszumalen.
Nach Don Quijote ist Oblomow der zweite große Antiheld der Literaturgeschichte, aber sein Buch treibt ihn bis in den Tod. Man weiß es (oder spürt es sonst), und doch wünscht man ihm 750 Seiten lang nur einmal jenen Funken Initiative, der ihn gerettet hätte. Und der das Buch verdorben hätte. Denn es ist ja, wie Oblomows Freund Stolz, der am Ende des Romans zum wahren Helden (und zum am positivsten gezeichneten Deutschen in der russischen Literatur) wird, feststellt: "Das wäre eine andere Geschichte gewesen und ein anderer Held, der uns nichts angeht."
Ein Ende mit Schrecken, das wir als Leser fürchten, ist der Schlusssatz eines guten Romans. Der von "Oblomow" lädt sofort zum Wiedereinstieg am Anfang ein - zum literarischen Engelskreislauf.
Iwan Gontscharow: "Oblomow". Roman in vier Teilen.
Aus dem Russischen von Vera Bischitzky. Hanser Verlag, München 2012. 840 S., geb., 34,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main