Der erste Gedichtband von Judith Zander
Judith Zander, die für ihren Roman 'Dinge, die wir heute sagten' großes Lob und viel Aufmerksamkeit erhielt, wurde schon vielfach für ihre Gedichte ausgezeichnet. In 'oder tau' hält sie Beobachtungen, Stimmungen, Eindrücke fest, die durch ihre sehr genaue Sprache große Präsenz gewinnen. Mit ebenso viel Wirklichkeitssinn wie poetischer Imagination beschreibt sie ihre Welt - immer der Natur, den Dingen und Empfindungen nah.Inhalt: ab heute bleibt es- königstochter- neuigkeiten- verzogen- and the living is easy- into that good night- er kommt nicht, wenn man ruft- elpe, die- deixis- legion- realiter- blesewitzer messung mit einvernehmlichen schlägen- they'd never match- was auch immer geschieht- wellenbrecher- oder tau- sans soucis- diotima- flattern- my Luve/ Burns no more- the tell-tale heart- du in der Sonne deines badezimmers/ (okt)oberlicht- fooled. I knew- schön ist- hotel- fiat- grundlegende die pause des raumes- pihlajamäki-suomenlinna- fluchtpunkt- westwärts & außer form- dornburger spruchreife- ammelshain- inversion- nach hause- zuljana- haarlose affen- herzen zu händen- same same but different- darß/misison- tableau- was mich anging vergessen und nachtfrost- palimpseste, polnisch rückwärts- kurze sache- aus einem grund- nachtfrist- anomalie- winterdienst- schnee von yesterday- restwärme- kyrill- gründonnerstag
Inhalt:
ab heute bleibt es
königstochter
neuigkeiten
verzogen
and the living is easy
into that good night
er kommt nicht, wenn man ruft
elpe, die
deixis
legion
realiter
blesewitzer messung
mit einvernehmlichen schlägen
they'd never match
was auch immer geschieht
wellenbrecher
oder tau
sans soucis
diotima
flattern
my Luve/ Burns no more
the tell-tale heart
du in der Sonne deines badezimmers/(okt)oberlicht
fooled. I knew
schön ist
hotel
fiat
grundlegende
die pause des raumes
pihlajamäki
suomenlinna
fluchtpunkt
westwärts & außer form
dornburger spruchreife
ammelshain
inversion
nach hause
zuljana
haarlose affen
herzen zu händen
same same but different
darß/mission
tableau
was mich anging
vergessen und nachtfrost
palimpseste, polnisch rückwärts
kurze sache
aus einem grund
nachtfrist
anomalie
winterdienst
schnee von yesterday
restwärme
kyrill
gründonnerstag
Judith Zander, die für ihren Roman 'Dinge, die wir heute sagten' großes Lob und viel Aufmerksamkeit erhielt, wurde schon vielfach für ihre Gedichte ausgezeichnet. In 'oder tau' hält sie Beobachtungen, Stimmungen, Eindrücke fest, die durch ihre sehr genaue Sprache große Präsenz gewinnen. Mit ebenso viel Wirklichkeitssinn wie poetischer Imagination beschreibt sie ihre Welt - immer der Natur, den Dingen und Empfindungen nah.Inhalt: ab heute bleibt es- königstochter- neuigkeiten- verzogen- and the living is easy- into that good night- er kommt nicht, wenn man ruft- elpe, die- deixis- legion- realiter- blesewitzer messung mit einvernehmlichen schlägen- they'd never match- was auch immer geschieht- wellenbrecher- oder tau- sans soucis- diotima- flattern- my Luve/ Burns no more- the tell-tale heart- du in der Sonne deines badezimmers/ (okt)oberlicht- fooled. I knew- schön ist- hotel- fiat- grundlegende die pause des raumes- pihlajamäki-suomenlinna- fluchtpunkt- westwärts & außer form- dornburger spruchreife- ammelshain- inversion- nach hause- zuljana- haarlose affen- herzen zu händen- same same but different- darß/misison- tableau- was mich anging vergessen und nachtfrost- palimpseste, polnisch rückwärts- kurze sache- aus einem grund- nachtfrist- anomalie- winterdienst- schnee von yesterday- restwärme- kyrill- gründonnerstag
Inhalt:
ab heute bleibt es
königstochter
neuigkeiten
verzogen
and the living is easy
into that good night
er kommt nicht, wenn man ruft
elpe, die
deixis
legion
realiter
blesewitzer messung
mit einvernehmlichen schlägen
they'd never match
was auch immer geschieht
wellenbrecher
oder tau
sans soucis
diotima
flattern
my Luve/ Burns no more
the tell-tale heart
du in der Sonne deines badezimmers/(okt)oberlicht
fooled. I knew
schön ist
hotel
fiat
grundlegende
die pause des raumes
pihlajamäki
suomenlinna
fluchtpunkt
westwärts & außer form
dornburger spruchreife
ammelshain
inversion
nach hause
zuljana
haarlose affen
herzen zu händen
same same but different
darß/mission
tableau
was mich anging
vergessen und nachtfrost
palimpseste, polnisch rückwärts
kurze sache
aus einem grund
nachtfrist
anomalie
winterdienst
schnee von yesterday
restwärme
kyrill
gründonnerstag
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.06.2011Harke und Humor
Judith Zanders originelles Debüt als Lyrikerin: „oder tau“
Unter den Autoren, die es im vorigen Jahr auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft haben, war Judith Zander mit gerade einmal dreißig Jahren die bei weitem jüngste und eine echte Überraschung. Wer damals ihren Roman „Dinge, die wir heute sagten“ gelesen hat, der wird vieles in ihrem Erstlings-Gedichtband wiedererkennen, dem sie den etwas rätselhaften Titel „oder tau“ gegeben hat: Da ist einerseits das ländliche Mecklenburg-Vorpommern, in dem sich nicht gar so furchtbar viel geändert hat, seit die DDR verschwunden ist. Und da ist andererseits die Sehnsucht, die aus diesen heimeligen, aber engen Verhältnissen hinausstrebt und sich englisch kodiert. Im Roman war ein siebzehnjähriger irischer Jüngling aufgetaucht, der gerade so staunte wie er angestaunt wurde, wenn er sich in der „Elpe“ einfand, der aufgegebenen LPG, Sammelpunkt der gelangweilten und einigermaßen dumpfen Dorfjugend.
In die Gedichte dringt das Englische als Zitat nunmehr unmittelbar ein. Sie sind überschrieben „into that good night“ oder „and the living is easy“; unter diesem Vorzeichen fängt der schwere lange Roggensommer an zu schweben. „un de katten sün high“: „High“, das wird kursiv aus dem Plattdeutsch herausgestanzt, als brächte es die Erlösung. Sylvia Plath, Robert Burns, Edgar Allan Poe, Elvis Presley haben Gastauftritte, aber auch Hölderlin, Sarah Kirsch und Annette von Droste-Hülshoff.
„Palimpseste“ nennt Zander diesen Umgang mit einer Tradition, die sie als Gegengewicht zur pragmatischen Schwerblütigkeit der heimischen Landschaft herbeiholt. In ihrem Anspielungsreichtum sind sie nicht immer einfach zu verstehen; und manchmal gewinnt man den Eindruck, als wollte die Autorin für ein besonders raffiniertes Wortspiel bewundert werden. Ein sehr schönes Gedicht ergeht sich in der Betrachtung eines alten Fotos, der einzigen Spur, die dem lyrischen Ich von der Geschichte eines jungen Paares zugänglich ist (ob es selbst dessen Hälfte gewesen war, verrät es nicht). Getrennt gehen die beiden hintereinander, schlaksig und etwas kälbchenhaft, aber an ihrer Verbundenheit kann kein Zweifel bestehen; ein „transparentes Gummiband“ scheint zwischen ihnen gespannt. Es endet: „felle zogen sich an / und ab hüpften verfitzten sich koda / chrome hätte nichts genützt der trick / ging natürlich schwarzweiß.“ Das ist geradezu rührend geistreich, wie hier die Erwartung, auf das Anziehen müsse ein Ausziehen antworten, dank Zeilensprung eine Enttäuschung erlebt und der „Koda“ am Schluss des Stücks der Doppelsinn des Kodachroms entbunden wird; aber ein bisschen arg gewollt und zugespitzt ist es auch.
In jedem Fall jedoch wird man finden, dass Zander vom Enjambement, dem satz- und selbst wortzerreißenden Sprung in den nächsten Vers, einen intelligenteren Gebrauch macht als jene Heerscharen freier Lyriker, die es als diffuses Aufputschmittel verwenden oder auch schlicht als Verkehrsschild: Achtung - Gedicht! „hier / sind die ehen im eimer liegen / die wiesen im argen harren / des starken mannes / herbst“: Die Anordnung der Zeilen verleiht dieser Strophe nicht nur eine spezielle rhythmische Qualität, besonders in den alliterierenden Einwortversen, die den Rahmen bilden; sondern es bleibt auch durchaus unentschieden, ob die Wiesen nun des starken Mannes harren und es folglich Herbst ist, oder ob das Harren dem Herbst des starken Mannes gilt, der darüber sozusagen an den Rand der Schwäche geriete.
Zanders Heimatgedichte (wenn man sie fahrlässig abkürzend so nennen will) besitzen Ruhe, ohne der Verklärung zu verfallen. Das Kind konnte noch nicht ahnen, wie monoton und provinziell das alles war, „als ich noch / felsengleich spielte in den strauchengen / himmeln und wurzeln von rauch / gelber farbe zerkniff mit den nägeln / den schnecken angeblich ähnlich war sommers.“ Dem Ungeformten dieser frühen Jahre wird nachträglich die Form gewonnen, in der es dennoch als Ungeformtes überdauert; das Paradox gelingt im Schwebezustand der Einzelzeilen, das den linear-komplexen Satzbau ungewiss macht. So singen diese Verse sozusagen zweistimmig, mit der Stimme des Wörterklangs und der des syntaktischen Konstrukts.
Die Gedichte sind schmal, erwecken aber nicht unbedingt diesen Eindruck, da sie unbeirrt bei ihrer Sache bleiben. Wie sieht Regen aus? „regen / lässt sich tagtäglich in seiner sänfte angetragen / der erde zur erde / in seiner gänze gnädig herab.“ Auch hier bleibt syntaktisch einiges im Unklaren, aber die Kraft des Bildes mit seinen Schlüsselwörtern „Sänfte“, „gnädig“ und „herab“ wird dadurch nicht angefochten, im Gegenteil. Die große Ruhe, die hier waltet, lässt den Leser leicht den Humor übersehen, der hier und dort durchscheint.
Grabpflegende Frauen auf dem Friedhof „stehen bequem / auf drei beinen.“ Wieso drei Beinen? „am mittleren fuß platzt allerlei eisernen / zehen der lack ab“. Wie anschaulich sieht man sie plötzlich vor sich, diese Frauen mit ihrer Harke, die sich ihnen, indem sie plaudernd innehalten, vom Werkzeug geradezu in ein Körperteil verwandelt. Mit der Trauer haben sie ihren behaglichen Frieden geschlossen; und wenn die Zinken Zehen heißen, darf man ahnen, dass es auch mit ihren eigenen Zehen wohl kaum besser steht als mit besagten Zinken, wiewohl sie ihren Zweck auch weiterhin erfüllen: ein bestoßenes aber ausdauerndes Geschwader von Überlebenden.
So richtet Zander mit geringen Mitteln sehr viel aus. Die Gedichte, die vor Ort bleiben und sich von angelsächsischer Sehnsucht allenfalls durchwehen lassen, sind die besten des Buchs. Wo die Autorin dieser Sehnsucht indes nachgegeben hat und wirklich in die große weite Welt gefahren ist, büßt sie den Heimvorteil ein. Deutlich merkt man es dem längsten, siebenteiligen Stück an („same same but different“), dass das bereiste Indien mit seinen Wasserbüffeln, Maharadschas und dem Tiger von Mysore die Verfasserin im Grund nichts angeht. Da man aber ein literarisches Werk, besonders eines jungen Autors und ganz besonders einen Gedichtband, immer von seiner besten Seite betrachten und beurteilen soll, so bleibt zu sagen: ein originelles, ein souveränes, ein vielversprechends Buch.
BURKHARD MÜLLER
JUDITH ZANDER: oder tau. Gedichte. dtv, München 2011. 93 S., 12,30 Euro.
„als ich noch / felsengleich spielte
in den strauchengen / himmeln
und wurzeln von rauch“
Warum stehen die
grabpflegenden Frauen
auf drei Beinen?
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Judith Zanders originelles Debüt als Lyrikerin: „oder tau“
Unter den Autoren, die es im vorigen Jahr auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft haben, war Judith Zander mit gerade einmal dreißig Jahren die bei weitem jüngste und eine echte Überraschung. Wer damals ihren Roman „Dinge, die wir heute sagten“ gelesen hat, der wird vieles in ihrem Erstlings-Gedichtband wiedererkennen, dem sie den etwas rätselhaften Titel „oder tau“ gegeben hat: Da ist einerseits das ländliche Mecklenburg-Vorpommern, in dem sich nicht gar so furchtbar viel geändert hat, seit die DDR verschwunden ist. Und da ist andererseits die Sehnsucht, die aus diesen heimeligen, aber engen Verhältnissen hinausstrebt und sich englisch kodiert. Im Roman war ein siebzehnjähriger irischer Jüngling aufgetaucht, der gerade so staunte wie er angestaunt wurde, wenn er sich in der „Elpe“ einfand, der aufgegebenen LPG, Sammelpunkt der gelangweilten und einigermaßen dumpfen Dorfjugend.
In die Gedichte dringt das Englische als Zitat nunmehr unmittelbar ein. Sie sind überschrieben „into that good night“ oder „and the living is easy“; unter diesem Vorzeichen fängt der schwere lange Roggensommer an zu schweben. „un de katten sün high“: „High“, das wird kursiv aus dem Plattdeutsch herausgestanzt, als brächte es die Erlösung. Sylvia Plath, Robert Burns, Edgar Allan Poe, Elvis Presley haben Gastauftritte, aber auch Hölderlin, Sarah Kirsch und Annette von Droste-Hülshoff.
„Palimpseste“ nennt Zander diesen Umgang mit einer Tradition, die sie als Gegengewicht zur pragmatischen Schwerblütigkeit der heimischen Landschaft herbeiholt. In ihrem Anspielungsreichtum sind sie nicht immer einfach zu verstehen; und manchmal gewinnt man den Eindruck, als wollte die Autorin für ein besonders raffiniertes Wortspiel bewundert werden. Ein sehr schönes Gedicht ergeht sich in der Betrachtung eines alten Fotos, der einzigen Spur, die dem lyrischen Ich von der Geschichte eines jungen Paares zugänglich ist (ob es selbst dessen Hälfte gewesen war, verrät es nicht). Getrennt gehen die beiden hintereinander, schlaksig und etwas kälbchenhaft, aber an ihrer Verbundenheit kann kein Zweifel bestehen; ein „transparentes Gummiband“ scheint zwischen ihnen gespannt. Es endet: „felle zogen sich an / und ab hüpften verfitzten sich koda / chrome hätte nichts genützt der trick / ging natürlich schwarzweiß.“ Das ist geradezu rührend geistreich, wie hier die Erwartung, auf das Anziehen müsse ein Ausziehen antworten, dank Zeilensprung eine Enttäuschung erlebt und der „Koda“ am Schluss des Stücks der Doppelsinn des Kodachroms entbunden wird; aber ein bisschen arg gewollt und zugespitzt ist es auch.
In jedem Fall jedoch wird man finden, dass Zander vom Enjambement, dem satz- und selbst wortzerreißenden Sprung in den nächsten Vers, einen intelligenteren Gebrauch macht als jene Heerscharen freier Lyriker, die es als diffuses Aufputschmittel verwenden oder auch schlicht als Verkehrsschild: Achtung - Gedicht! „hier / sind die ehen im eimer liegen / die wiesen im argen harren / des starken mannes / herbst“: Die Anordnung der Zeilen verleiht dieser Strophe nicht nur eine spezielle rhythmische Qualität, besonders in den alliterierenden Einwortversen, die den Rahmen bilden; sondern es bleibt auch durchaus unentschieden, ob die Wiesen nun des starken Mannes harren und es folglich Herbst ist, oder ob das Harren dem Herbst des starken Mannes gilt, der darüber sozusagen an den Rand der Schwäche geriete.
Zanders Heimatgedichte (wenn man sie fahrlässig abkürzend so nennen will) besitzen Ruhe, ohne der Verklärung zu verfallen. Das Kind konnte noch nicht ahnen, wie monoton und provinziell das alles war, „als ich noch / felsengleich spielte in den strauchengen / himmeln und wurzeln von rauch / gelber farbe zerkniff mit den nägeln / den schnecken angeblich ähnlich war sommers.“ Dem Ungeformten dieser frühen Jahre wird nachträglich die Form gewonnen, in der es dennoch als Ungeformtes überdauert; das Paradox gelingt im Schwebezustand der Einzelzeilen, das den linear-komplexen Satzbau ungewiss macht. So singen diese Verse sozusagen zweistimmig, mit der Stimme des Wörterklangs und der des syntaktischen Konstrukts.
Die Gedichte sind schmal, erwecken aber nicht unbedingt diesen Eindruck, da sie unbeirrt bei ihrer Sache bleiben. Wie sieht Regen aus? „regen / lässt sich tagtäglich in seiner sänfte angetragen / der erde zur erde / in seiner gänze gnädig herab.“ Auch hier bleibt syntaktisch einiges im Unklaren, aber die Kraft des Bildes mit seinen Schlüsselwörtern „Sänfte“, „gnädig“ und „herab“ wird dadurch nicht angefochten, im Gegenteil. Die große Ruhe, die hier waltet, lässt den Leser leicht den Humor übersehen, der hier und dort durchscheint.
Grabpflegende Frauen auf dem Friedhof „stehen bequem / auf drei beinen.“ Wieso drei Beinen? „am mittleren fuß platzt allerlei eisernen / zehen der lack ab“. Wie anschaulich sieht man sie plötzlich vor sich, diese Frauen mit ihrer Harke, die sich ihnen, indem sie plaudernd innehalten, vom Werkzeug geradezu in ein Körperteil verwandelt. Mit der Trauer haben sie ihren behaglichen Frieden geschlossen; und wenn die Zinken Zehen heißen, darf man ahnen, dass es auch mit ihren eigenen Zehen wohl kaum besser steht als mit besagten Zinken, wiewohl sie ihren Zweck auch weiterhin erfüllen: ein bestoßenes aber ausdauerndes Geschwader von Überlebenden.
So richtet Zander mit geringen Mitteln sehr viel aus. Die Gedichte, die vor Ort bleiben und sich von angelsächsischer Sehnsucht allenfalls durchwehen lassen, sind die besten des Buchs. Wo die Autorin dieser Sehnsucht indes nachgegeben hat und wirklich in die große weite Welt gefahren ist, büßt sie den Heimvorteil ein. Deutlich merkt man es dem längsten, siebenteiligen Stück an („same same but different“), dass das bereiste Indien mit seinen Wasserbüffeln, Maharadschas und dem Tiger von Mysore die Verfasserin im Grund nichts angeht. Da man aber ein literarisches Werk, besonders eines jungen Autors und ganz besonders einen Gedichtband, immer von seiner besten Seite betrachten und beurteilen soll, so bleibt zu sagen: ein originelles, ein souveränes, ein vielversprechends Buch.
BURKHARD MÜLLER
JUDITH ZANDER: oder tau. Gedichte. dtv, München 2011. 93 S., 12,30 Euro.
„als ich noch / felsengleich spielte
in den strauchengen / himmeln
und wurzeln von rauch“
Warum stehen die
grabpflegenden Frauen
auf drei Beinen?
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.08.2012Doppelbödige Zauberstücke
In ihrem Lyrikband "oder tau" beweist Judith Zander ihre erstaunliche Souveränität
Am Schluss ihres Gedichtbandes "oder tau", dort, wo andere Lyriker ihren Gedichten Gebrauchsanweisungen, Worterklärungen, Zitatnachweise, poetologische Statements oder genaue Entstehungsdaten mitgeben, dort also, wo Zusatzinformationen den Lesern Hilfestellung leisten sollen, finden sich bei Judith Zander drei vorbildliche Gedichte berühmter Autoren: Hölderlins "Diotima", Robert Burns' "A Red, Red Rose" und Sarah Kirschs "Ich in der Sonne deines Sterbemonats". Die Begründung für diese ungewöhnlichen Referenzen, die sich Judith Zander für ihre eigenen Gedichte besorgt hat, lautet: "Einige der Gedichte sind Palimpseste, die ohne den deutlich hindurchschimmernden Vorgänger nicht existieren könnten. Weshalb auch dem Leser der doppelte Boden nicht entzogen werden soll."
Genauer (und schöner) lässt sich nicht sagen, wie die Gedichte von Judith Zander organisiert sind und was sie leisten. Es sind doppelbödige Zauberkunststücke, die sich ebenso an den überlieferten Vorbildern orientieren, wie sie sich an den Leser richten: Von beiden leben sie, und ohne sie leben sie nicht. Judith Zander zeigt in und mit ihren Gedichten, was ihnen vorausging und was sie erst ermöglicht hat; und der Leser, den sie sich vorstellt, soll wissen wollen, was hinter den Gedichten steckt - eine Konstellation, die viele Spielarten der sogenannten "Intertextualität" vom Zitat über die Anspielung bis zur Aneignung begünstigt. Sie verwandelt Rolf Dieter Brinkmanns formwilde "Westwärts"-Verse in ein zitatgespicktes und sogar gereimtes Sonett, widmet dem Gärtner von "sans soucis" ein "lehrgedicht aus der alten zeit" und kauft dem "geheimen rat" bei den Dornburger Schlössern einen Ginkgo-Setzling ab.
Den doppelten Boden ihrer Gedichte erreicht Judith Zander mit Doppel- und Mehrdeutigkeiten. Als Beispiel diene das Gedicht "Elpe, die". Die Elpe ist, worüber gleich die erste Zeile des Gedichts informiert, die "abk. einer abkürzg", also die Abkürzung für die LPG (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft). Eine solche LPG wird dann auch zitiert: "unsre lpg hat hundert gänse". Das ist ein immer noch beliebter Ostrock-Song der Klaus-Renft-Combo aus dem Jahr 1973, in dem die Harmlosigkeit erzählt wird, wonach zwar die Schar der hundert Gänse, nicht aber das Gänselieschen, das sie behütet, "zu einem Volkseigentum" gemacht werden kann. Das Gedicht "Elpe, die" charakterisiert DDR-spezifische Befindlichkeiten am Beispiel eines Dorfes, das einigermaßen heruntergekommen zu sein scheint. Darauf deutet der "schandfleck" hin, der verwahrloste Gutshof, auf dessen Ruinen man für die LPG einen "kälberstall" errichtet hat. Heute, so schließt das Gedicht, hört man dort morgens, wie vorzeiten, anstelle der volkseigenen Gänse nur noch das Kreischen der Kraniche, die auf dem Flug nach Süden im nahe gelegenen Peenetal ihren Rastplatz haben.
Man übertreibt sicher nicht, wenn man Judith Zander nachsagt, sie sei tief verwurzelt in der Landschaft an der Ostsee, wo sie auch ihren Roman "Dinge, die wir heute sagten" angesiedelt hat. Dem Darß, dem Bodden, dem Fischland und dem Ort Ahrenshoop mit seiner Künstlerkolonie gelten einige ihrer Gedichte. Von "düsteren landschaften" ist einmal die Rede, allerdings auch von dem "weiteren horizont", der sich dem Betrachter öffnet. Hier entwickelte Judith Zander aus dem, "was mich anging", ihre ganz eigene "art", die, den Gezeiten entsprechend, "zu flug und flut neigt", aber auf "unredliches reet", wie man es am reetgedeckten "romantik hotel" mit dem Café "namenlos" erblicken muss, drastisch "scheißt".
Provinzielle Enge und weltläufige Weite schließen sich nicht aus; plattdeutsche Wendungen und viel Englischsprachiges vor allem aus der Popmusik bezeugen das. So weit sich die Autorin auch räumlich von ihrem heimatlichen Ausgangspunkt entfernen mag - Leipzig, Finnland, Kambodscha und Indien treten in den Blick -, sie bleibt doch immer ihrer eigenartigen, autochthonen Sprachkunst treu: Die durchgehende Kleinschreibung, der Verzicht auf Interpunktion, die kursiv gesetzten Zitate, die lustigen Neologismen und die raffinierten Zeilenbrüche führen zu überraschenden Irritationen. Denn die Verse wirken zunächst wie Anakoluthe: Man erkennt nicht gleich, ob und wo ein Satz endet und ob ein Wort noch zum vorhergehenden oder schon zum anschließenden Satz gehört. So wird die Lektüre zum Dechiffrierungsunternehmen.
Es sind, alles in allem, heitere, gelegentlich sogar übermütige Gedichte. Sie verfangen sich nicht in lyrischer Abgründigkeit und selbstbezogener Daseinstrauer. Sie umgehen das ominöse "lyrische Ich" und bevorzugen stattdessen das berichterstattende "Wir", wie in dem geradezu sprachwissenschaftlich grundierten Gedicht "grundlegende": "dennoch gaben wir eine parole aus wie / wiesenschaumkraut waldlehrpfad hießen / wir uns einander in solchen / zeiten vertraute und solchen leugneten / wir die langue ab die legende diesem / wald- und wiesenlexikon keine karte / ward den grundbucheintragungen / beigegeben in der tat / aber nahmen wir welche vor und / zugegeben verklebten wir zwittrige / blüten mit kuckucksspucke". Wer das entziffert, darf sich belohnt fühlen: Er hat in ein Grundbuch gegenwärtiger Lyrik Einblick genommen.
WULF SEGEBRECHT
Judith Zander: "oder tau". Gedichte.
Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2011. 98 S., br., 11,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In ihrem Lyrikband "oder tau" beweist Judith Zander ihre erstaunliche Souveränität
Am Schluss ihres Gedichtbandes "oder tau", dort, wo andere Lyriker ihren Gedichten Gebrauchsanweisungen, Worterklärungen, Zitatnachweise, poetologische Statements oder genaue Entstehungsdaten mitgeben, dort also, wo Zusatzinformationen den Lesern Hilfestellung leisten sollen, finden sich bei Judith Zander drei vorbildliche Gedichte berühmter Autoren: Hölderlins "Diotima", Robert Burns' "A Red, Red Rose" und Sarah Kirschs "Ich in der Sonne deines Sterbemonats". Die Begründung für diese ungewöhnlichen Referenzen, die sich Judith Zander für ihre eigenen Gedichte besorgt hat, lautet: "Einige der Gedichte sind Palimpseste, die ohne den deutlich hindurchschimmernden Vorgänger nicht existieren könnten. Weshalb auch dem Leser der doppelte Boden nicht entzogen werden soll."
Genauer (und schöner) lässt sich nicht sagen, wie die Gedichte von Judith Zander organisiert sind und was sie leisten. Es sind doppelbödige Zauberkunststücke, die sich ebenso an den überlieferten Vorbildern orientieren, wie sie sich an den Leser richten: Von beiden leben sie, und ohne sie leben sie nicht. Judith Zander zeigt in und mit ihren Gedichten, was ihnen vorausging und was sie erst ermöglicht hat; und der Leser, den sie sich vorstellt, soll wissen wollen, was hinter den Gedichten steckt - eine Konstellation, die viele Spielarten der sogenannten "Intertextualität" vom Zitat über die Anspielung bis zur Aneignung begünstigt. Sie verwandelt Rolf Dieter Brinkmanns formwilde "Westwärts"-Verse in ein zitatgespicktes und sogar gereimtes Sonett, widmet dem Gärtner von "sans soucis" ein "lehrgedicht aus der alten zeit" und kauft dem "geheimen rat" bei den Dornburger Schlössern einen Ginkgo-Setzling ab.
Den doppelten Boden ihrer Gedichte erreicht Judith Zander mit Doppel- und Mehrdeutigkeiten. Als Beispiel diene das Gedicht "Elpe, die". Die Elpe ist, worüber gleich die erste Zeile des Gedichts informiert, die "abk. einer abkürzg", also die Abkürzung für die LPG (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft). Eine solche LPG wird dann auch zitiert: "unsre lpg hat hundert gänse". Das ist ein immer noch beliebter Ostrock-Song der Klaus-Renft-Combo aus dem Jahr 1973, in dem die Harmlosigkeit erzählt wird, wonach zwar die Schar der hundert Gänse, nicht aber das Gänselieschen, das sie behütet, "zu einem Volkseigentum" gemacht werden kann. Das Gedicht "Elpe, die" charakterisiert DDR-spezifische Befindlichkeiten am Beispiel eines Dorfes, das einigermaßen heruntergekommen zu sein scheint. Darauf deutet der "schandfleck" hin, der verwahrloste Gutshof, auf dessen Ruinen man für die LPG einen "kälberstall" errichtet hat. Heute, so schließt das Gedicht, hört man dort morgens, wie vorzeiten, anstelle der volkseigenen Gänse nur noch das Kreischen der Kraniche, die auf dem Flug nach Süden im nahe gelegenen Peenetal ihren Rastplatz haben.
Man übertreibt sicher nicht, wenn man Judith Zander nachsagt, sie sei tief verwurzelt in der Landschaft an der Ostsee, wo sie auch ihren Roman "Dinge, die wir heute sagten" angesiedelt hat. Dem Darß, dem Bodden, dem Fischland und dem Ort Ahrenshoop mit seiner Künstlerkolonie gelten einige ihrer Gedichte. Von "düsteren landschaften" ist einmal die Rede, allerdings auch von dem "weiteren horizont", der sich dem Betrachter öffnet. Hier entwickelte Judith Zander aus dem, "was mich anging", ihre ganz eigene "art", die, den Gezeiten entsprechend, "zu flug und flut neigt", aber auf "unredliches reet", wie man es am reetgedeckten "romantik hotel" mit dem Café "namenlos" erblicken muss, drastisch "scheißt".
Provinzielle Enge und weltläufige Weite schließen sich nicht aus; plattdeutsche Wendungen und viel Englischsprachiges vor allem aus der Popmusik bezeugen das. So weit sich die Autorin auch räumlich von ihrem heimatlichen Ausgangspunkt entfernen mag - Leipzig, Finnland, Kambodscha und Indien treten in den Blick -, sie bleibt doch immer ihrer eigenartigen, autochthonen Sprachkunst treu: Die durchgehende Kleinschreibung, der Verzicht auf Interpunktion, die kursiv gesetzten Zitate, die lustigen Neologismen und die raffinierten Zeilenbrüche führen zu überraschenden Irritationen. Denn die Verse wirken zunächst wie Anakoluthe: Man erkennt nicht gleich, ob und wo ein Satz endet und ob ein Wort noch zum vorhergehenden oder schon zum anschließenden Satz gehört. So wird die Lektüre zum Dechiffrierungsunternehmen.
Es sind, alles in allem, heitere, gelegentlich sogar übermütige Gedichte. Sie verfangen sich nicht in lyrischer Abgründigkeit und selbstbezogener Daseinstrauer. Sie umgehen das ominöse "lyrische Ich" und bevorzugen stattdessen das berichterstattende "Wir", wie in dem geradezu sprachwissenschaftlich grundierten Gedicht "grundlegende": "dennoch gaben wir eine parole aus wie / wiesenschaumkraut waldlehrpfad hießen / wir uns einander in solchen / zeiten vertraute und solchen leugneten / wir die langue ab die legende diesem / wald- und wiesenlexikon keine karte / ward den grundbucheintragungen / beigegeben in der tat / aber nahmen wir welche vor und / zugegeben verklebten wir zwittrige / blüten mit kuckucksspucke". Wer das entziffert, darf sich belohnt fühlen: Er hat in ein Grundbuch gegenwärtiger Lyrik Einblick genommen.
WULF SEGEBRECHT
Judith Zander: "oder tau". Gedichte.
Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2011. 98 S., br., 11,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Viel Lob spendet Rezensent Burkhard Müller diesem Lyrikband von Judith Zander. Besonders gut gefällt ihm, wie sie ihre Lebenserfahrungen in Mecklenburg-Vorpommern mit englischen Versatzstücken kombiniert und damit eine "angelsächsische Sehnsucht" in die Gedichte fließen lässt. Er zitiert ein schönes Beispiel für die Beschreibung eines ländlichen Sommers: "un de katten sün high". Auch die Art, wie sie das Enjambement, also den Verssprung benutzt, findet er originell. Nicht alles ist gleich gut gelungen (aber wann ist es das schon?), und manchmal findet er die Wortspiele etwas zu "raffiniert", aber alles in allem steht er zu seinem Lob.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
"Die Palimpseste der Judith Zander vereinen schlagkräftige Satire und subtile Ironie. (...) So locker, leicht und frisch werden Traditionen selten entstaubt. (...) Von den Erinnerungen an Kindheit und frühe Jugend über die Liebes- und Körpertexte bis zu den Raum-Gedichten und unorthodoxen Wind- und Wetterversen entwickelt sie ihren eigenen Stil. Als Erfinderin von "Mischworten" ist die Lyikerin unübertroffen. In Worten wie 'schrumpfhaus', 'duckhäusertum', 'scherenschritte' oder 'schattenklinge' schwingen ganze Lebensläufe mit." -- Dorothea von Törne, Die Welt - Die literarische Welt
Es klingt erwas Mädchenhaftes, Vergnügtes, Unernstes an in Zanders Gedichten, in denen es zumeist um die Natur, die Liebe, auch um Familienbeziehungen geht. Sebastian Hammelehle Spiegel Online 20111130