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Lange Zeit richtete die Historiographie zur Revolution von 1917 ihr Augenmerk ausschließlich auf die Hauptschauplätze St. Petersburg und Moskau. Völlig außer Acht gelassen wurde zumeist die Rolle der Provinz. Genau hier setzt dieses Buch an. Als erste nichtsowjetische Studie schildert es die Geschichte der Stadt Odessa im Revolutionsjahr 1917. Eine zentrale Fragestellung des Buches betrifft das Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie, wobei im Fall Odessas das Zentrum zunächst von St. Petersburg und gegen Ende 1917 auch von Kiev als potentieller Hauptstadt der Ukraine repräsentiert wurde.…mehr

Produktbeschreibung
Lange Zeit richtete die Historiographie zur Revolution von 1917 ihr Augenmerk ausschließlich auf die Hauptschauplätze St. Petersburg und Moskau. Völlig außer Acht gelassen wurde zumeist die Rolle der Provinz. Genau hier setzt dieses Buch an. Als erste nichtsowjetische Studie schildert es die Geschichte der Stadt Odessa im Revolutionsjahr 1917. Eine zentrale Fragestellung des Buches betrifft das Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie, wobei im Fall Odessas das Zentrum zunächst von St. Petersburg und gegen Ende 1917 auch von Kiev als potentieller Hauptstadt der Ukraine repräsentiert wurde. Die Autorin beschreibt anschaulich die Mobilisierung einzelner städtischer Gruppen sowie das Ineinandergreifen sozialer, nationaler und lokaler Identität, die 1917 in Odessa das Handeln der Stadtbevölkerung bestimmten. Diese Arbeit, die sich maßgeblich auf Archivdokumente und Periodika aus dem Revolutionsjahr stützt, bietet nicht nur eine Geschichte der Stadt Odessa im Jahr 1917. Sie träg t auch zum Verständnis der Geschichte der russischen Revolution insgesamt maßgeblich bei.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.11.2000

Alle Macht dem Rat der Arbeitslosen!
In Odessa war immer alles anders: Das "Lumpenproletariat" bildete 1917 einen eigenen Sowjet

Tanja Penter: Odessa 1917. Revolution an der Peripherie. Beiträge zur Geschichte Osteuropas, Band 32. Böhlau Verlag Köln, Weimar, Wien 2000. 469 Seiten, 98,- Mark.

Odessa ist "anders", da waren sich alle Beobachter einig. Ende des 18. Jahrhunderts auf dem Territorium einer ehemaligen Tatarenfestung gegründet, 1819 zum Freihafen erklärt, war die Neugründung am Schwarzen Meer binnen weniger Jahrzehnte zur Handelsmetropole und viertgrößten Stadt des russischen Imperiums aufgestiegen. Die Stadt verdankte diese stürmische Entwicklung dem Getreidehandel und der Quirligkeit, Weltoffenheit ihrer Bewohner.

Der "Odessaer" war - so hat es Isaak Babel1916 beschrieben - "das genaue Gegenteil des Petrograders". Wenn ein Mann aus Odessa in die Hauptstadt kam, fiel er auf, weil er "ein wenig Sonne und Leichtigkeit" mitbrachte. Während "geheimnisvoller und schwerer Nebel" Petersburg umhüllte, gab es in Odessa "süße und ermüdende Frühlingsabende, den starken Duft der Akazien und das gleichmäßig flutende, berückende Mondlicht überm dunklen Meer". Im Hafen sah man "Dampfer aus Newcastle, Cardiff, Marseille und Port Said", "Neger, Engländer, Franzosen und Amerikaner".

Odessa war "anders", dazu trug auch die bunte Vielfalt seiner Bevölkerung bei, mit der sich die Stadt vom Umland abhob: Selbst in einem ukrainischen Umland gelegen, machten die Ukrainer in der Stadt nur eine Minderheit (weniger als 10 Prozent) aus. Fast die Hälfte (über 49 Prozent) der Bewohner waren Russen, gefolgt von den Juden, die etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung und das eigentliche Ferment in der Stadt ausmachten, zusammen mit den Angehörigen einer Vielzahl anderer sprachlich-kultureller Gruppen, von denen stellvertretend nur die Polen, Deutschen, Griechen, Tataren, Armenier und Franzosen genannt seien. Sie brachten der Stadt den Ruf ein, ein "modernes Babylon" zu sein.

Die ethnischen Unterschiede überschnitten sich auf vielfältige Weise mit politischen und sozialen, wobei sie sich gegenseitig verstärken oder auch neutralisieren konnten. Hier gab es, wie Babel es ausdrückte, "ein sehr armes übervölkertes und leidendes Judenghetto, eine sehr selbstzufriedene Bourgeoisie und eine sehr reaktionäre Stadtduma". Während im gepflegten Boulevardbezirk der Innenstadt die vornehmen Besucher und Besitzer der Geschäfte, der Banken, der Börse und der kulturellen Einrichtungen dominierten, sich "Luftmenschen" bei den Cafés herumtrieben, "um einen Rubel zu verdienen und ihre Familien zu ernähren", lagen abends "in den komischen Kleinbürgerdatschen unterm dunklen Samthimmel dicke und komische Bourgeois mit weißen Socken auf Sofas und verdauten das deftige Abendbrot". Vor allem aber hatte es Babel das proletarisch-jüdische Milieu der Randbezirke, in den Vorstädten Moldavanka und Peresyp, angetan, wo eigene Gesetze, die Gesetze der Unterwelt, der Banden, Banditen und Schmuggler galten; diesen "Aristokraten der Moldavanka" hat Babel später ein literarisches Denkmal gesetzt, in den Erzählungen über Benja Krikoder Ljubka Schneeweis.Kam diese "Andersartigkeit" Odessas auch 1917 zum Ausdruck, als Hungerunruhen und Streiks im fernen Petersburg den Zaren stürzten und eine neue Provisorische Regierung die Staatsgeschäfte übernahm? Sie versprach bürgerliche Reformen, setzte aber den Krieg fort und bekam die ererbten Probleme trotz mehrfacher Umbildung des Kabinetts nicht in den Griff. Je länger sie regierte, desto mehr verspielte sie den Rückhalt bei Arbeitern, Soldaten und Bauern, die nach Brot, Frieden und einer Agrarreform verlangten.

Neue Freiheiten Die Partei Lenins nutzte diesen Vertrauensschwund und riß im Herbst 1917 die Macht an sich. Wie reagierte die Stadt auf diese Ereignisse und darauf, daß sich an der Peripherie des Vielvölkerreiches der staatliche Zusammenhalt immer mehr aufzulösen begann und in der Ukraine eine Zentralrada erst die Autonomie, dann die Unabhängigkeit des Landes erklärte?

Die Studie von Tanja Penter geht diesen Fragen nach. Die Öffnung der Archive in Moskau, Kiew und Odessa nutzend, hat sie Materialien des Odessaer Stadtparlaments, Arbeitersowjets und Soldatensowjets durchgesehen, Bestände der Provisorischen Regierung, des Allrussischen Zentralen Exekutivkomitees, der im Herbst 1917 gebildeten bolschewistischen Sowjetregierung (des Rates der Volkskommissare) und des Zentralkomitees der bolschewistischen Partei herangezogen. Sie stieß dabei auf eine umfangreiche Sammlung von Memoiren Beteiligter, diein den zwanziger Jahren zur Feder gegriffen oder ihre Erinnerungen in Diskussionszirkeln zu thematischen Schwerpunkten zu Protokoll gegeben hatten. Schließlich wurden lokale und regionale Zeitungen und Zeitschriften ausgewertet, mit denen Gruppen und Organisationen, die neue Freiheit auskostend, im Revolutionsjahr ihre Stimme zu Gehör brachten.

Die Verfasserin begreift, im Einklang mit der Forschung, die Revolution als "soziale" und "nationale". Das Kapitel über die "soziale Revolution" beschreibt die Aktionen und Organisationen der Arbeiter, der städtischen Ober- und Mittelschichten und des "Lumpenproletariats".

Das Kapitel über die "nationale Revolution" sieht die Stadt "zwischen Kiew und Petrograd", skizziert die Planungen der Kiewer Zentralrada, die auch Odessa einbezogen, die Stellung der Stadtbevölkerung zur "ukrainischen Frage", das Verhältnis der Petrograder Sowjetregierung zu ihr, die Rolle der Soldaten und Matrosen im Machtkampf und schließlich das Schicksal der kurzlebigen "Sowjetrepublik Odessa", die im Januar 1918 ausgerufen wurde. Es wird dabei deutlich, daß die großen Entscheidungen anderswo fielen, Odessa mehr reagierte als agierte.

Die Konzentration auf die Aspekte der "sozialen" und "nationalen" Revolution hilft, die Stoffmassen zu bewältigen, zu gliedern. Die Darlegungen zeigen freilich auch, daß die vermeintlichen Träger der "sozialen Revolution", die Arbeiterschaft wie die städtischen Mittel- und Oberschichten, in Odessa keine Einheit bildeten und die ethnischen Gruppen der Stadt aus einsichtigen Gründen kaum als Träger einer "nationalen Revolution" auszumachen sind. Die Fragestellung greift damit etwas ins Leere.

Dieser negative Befund läßt zumindest fragen, ob mit den genannten Annäherungen, so sehr sie sich in der Revolutionsforschung bewährt haben mögen, den Eigenheiten der Odessaer Ereignisse, ihren Trägern, ihrer Topographie, ihrer Eigendynamik auf die Spur zu kommen ist. Denn daß es sie gab, daß auch das revolutionäre Odessa "anders" war, geht anschaulich aus den Passagen hervor, die die Aktivitäten des "Lumpenproletariats" beschreiben: Dazu gehörte nicht nur, daß die Arbeitslosen unter der Führung des anarchistischen jüdischen Lehrers Chaim Ryt im Dezember 1917 einen eigenen "Sowjet" bildeten. Er war ein Sammelbecken der Unzufriedenen und zu kurz Gekommenen, gab eine eigene Zeitung heraus, erhob die Forderung "Alle Macht dem Rat der Arbeitslosen" und erpreßte von den Vertretern der Banken, Industrie- und Handelsunternehmen die Bereitstellung von 10 Millionen Rubeln, was ihn zur finanzkräftigsten aller revolutionären Organisationen machte. Auch die Berufskriminellen bildeten offenkundig ihre eigene Organisationsstruktur aus, richteten ein Büro ein, das bestimmte, wer an welchen Aktionen teilnahm, und einen speziellen Fonds ein, aus dem Familien verstorbener oder inhaftierter Krimineller unterstützt werden sollten. Odessa war wirklich anders, auch 1917.

HELMUT ALTRICHTER

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Helmut Altrichter weist zunächst darauf hin, dass Odessa sich von jeher von Städten wie St. Petersburg oder Moskau unterschied, was insbesondere an der ethnischen und sozialen Vielschichtigkeit der Stadt lag. Penter untersucht deshalb, inwiefern es auch zu Zeiten der Revolution Besonderheiten in Odessa gab und hat dazu, wie Altrichter anerkennend erwähnt, zahlreiche Archive, Memoiren, Protokolle und Zeitungen aus dieser Zeit ausgewertet. Bei ihrer Darstellung unterscheide die Autorin zwischen der `sozialen` Revolution einerseits und der `nationalen` andererseits. Die soziale Revolution hat die verschiedenen Bevölkerungsschichten im Blick, die nationale eher das "Verhältnis zur Petrograder Regierung", wobei nach Altrichter deutlich werde, dass Odessa bei schwerwiegenden Entscheidungen "mehr reagierte als agierte". Kritisch merkt der Rezensent an, dass von nationaler Revolution auf Grund der Vielschichtigkeit der Bevölkerung in Odessa kaum die Rede sein könne, und daher die Fragestellung "etwas ins Leere" geht. Gut gefallen ihm hingegen die Passagen, in denen etwa geschildert wird, wie unter Führung Chaim Ryts ein eigener "Sowjet" gebildet wurde, der bei Banken und Industrie das nötige Geld eingetrieb, oder die Passage über eine Organisation von Berufskriminellen mit eigenem Büro, die sogar Fonds für die Familien verstorbener oder inhaftierter Mitglieder gründete.

© Perlentaucher Medien GmbH
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"This is an excellent book that anyone interested in the 1917 revolution ought to read." Hiroaki Kuromiya, Slavic Review, Vol. 60, No. 4, 01.12.01