Heinz Schneppen zerstört die Mythen, indem er zeigt, wie es zur Mythenbildung kam. Das Buch ist ein Lehrstück für einen kritischen Umgang mit den Quellen. Es ist spannend im Inhalt, flüssig im Stil, umfassend in der Recherche, überraschend im Ergebnis.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.10.2007Reine Fiktion
Heinz Schneppen sucht die SS-Fluchtorganisation Odessa
Wer kennt ihn nicht, Frederick Forsyths Bestsellerroman "Die Akte Odessa" über eine geheimnisvolle SS-Organisation, die belasteten Nationalsozialisten nach 1945 zur Flucht ins Ausland verhalf. Als eine seiner wichtigsten Quellen bei der Arbeit an dem Roman diente Forsyth der österreichische Publizist und "Nazi-Jäger" Simon Wiesenthal. Dieser hatte seit 1961 mehrere Bücher über seine abenteuerliche Jagd auf Adolf Eichmann, den Leiter des "Judenreferates" im Reichssicherheitshauptamt, veröffentlicht und darin von einer "Organisation Odessa" berichtet, die prominenten NS-Schergen die Flucht nach Argentinien ermöglicht habe. Was für Wiesenthal nicht weniger als die "größte Fluchtorganisation der Weltgeschichte" war, hält Heinz Schneppen - Botschafter a. D. und Historiker - für reine Fiktion, für einen "Mythos". "Alle seriösen Erkenntnisse", so schreibt er zu Beginn seiner als "Quellenkritik" verstandenen Darstellung über den Odessa-Komplex unmissverständlich, "sprechen gegen die Existenz einer SS-Fluchtorganisation namens Odessa oder einer ähnlichen Gruppierung."
Um zu zeigen, "wie es zur Mythenbildung kam", hat er in akribischen Recherchen das reichhaltige Schrifttum gesichtet und neue Quellen erschlossen. Ihren Ausgangspunkt nahm die "Legende" mit einer angeblich am 10. August 1944 im Straßburger Hotel Maison Rouge stattgefundenen Konferenz hoher deutscher Ministerialbeamter und führender Vertreter der deutschen Rüstungsindustrie, auf der die Entscheidung getroffen worden sein soll, einen Teil des Nazi-Vermögens ins Ausland zu schaffen. Wiesenthal zufolge begannen die Industriellen anschließend, erhebliche Vermögenswerte auf geheime Konten in Spanien, der Türkei und nach Argentinien zu transferieren. Für Schneppen war eine solche Kapitalflucht nach Südamerika schon deshalb nicht möglich, "weil dafür im letzten Kriegsjahr kaum noch Kapital zur Verfügung stand" und weil Argentinien seit März 1945 Krieg gegen das Deutsche Reich führte. Wenngleich der "Dreierkomplex Odessa, Straßburg und Argentinien" so seines Erachtens nicht existiert haben kann, besteht für ihn kein Zweifel, dass zahlreiche Nazis sich nach dem Ende des Weltkrieges insbesondere mit Hilfe des Internationalen Roten Kreuzes oder der katholischen Kirche aus Deutschland absetzten, vorzugsweise über die Alpen nach Italien. Etwa 30 000 bis 40 000 Deutsche wanderten im ersten Nachkriegsjahrzehnt außerdem nach Argentinien aus. Darunter befanden sich 24 gesuchte Täter, zumeist Vertreter einer "mittleren Führungsschicht", aber auch hohe Funktionsträger wie Staatssekretär Albert Ganzenmüller oder SS-Gruppenführer Ludolf von Alvensleben, der Getto-Kommandant Josef Schwammberger oder der KZ-Arzt von Auschwitz, Josef Mengele, und eben Eichmann. Ihre Flucht und das Leben nach der Ankunft in Argentinien schildert Schneppen in 24 sorgfältig recherchierten Kurzgeschichten, die im Zentrum des Buches stehen. Wenngleich er "eine Dunkelziffer unbekannter oder nicht aufgeklärter Fälle" nicht ausschließen möchte, besteht seines Erachtens angesichts der Fakten und Zahlen kein Zweifel: Die Organisation Odessa ist bloß ein Mythos, entstanden aus einer Verbindung von politischen Motiven, historischem Unwissen und ideologischer Befangenheit. Von Betrügern gesponnen, sei die Legende von Betrogenen weitertradiert worden, zu denen Schneppen namentlich Simon Wiesenthal zählt, der mit "ehrenhaften Motiven", aber "fragwürdigen Mitteln und Methoden" zur Entstehung des Mythos maßgeblich beigetragen habe.
Eine besonders obskure Rolle spielte der DDR-Staatssicherheitsdienst, der 1961 für eine Kampagne gegen den Vatikan und die katholische Kirche ein Dossier Odessa angelegt hatte. In ihm fand Schneppen ein Dokument, dem zufolge der deutsche Botschafter beim Vatikan, Ernst von Weizsäcker, mit Papst Pius XII. 1944 über die Vorbereitung der "Schleusung sogenannter gefährdeter Personen" und die "Transferierung" von Vermögenswerten gesprochen habe. Doch für Schneppen gab es nicht nur keine "Argentinien-Connection" alter Nazis, auch eine solche "Vatikan-Connection" hält er für ausgeschlossen, da er "weder in den Tagebüchern des Vatikanbotschafters noch in den Akten der Vatikanbotschaft" hierüber etwas fand. Als Historiker wird er freilich wissen, dass der alte Spruch "Quod non est in actis non est in mundo" nur bedingt der Wahrheit entspricht. Denn (fast) jede Legende besitzt einen wahren Kern.
ULRICH LAPPENKÜPER
Heinz Schneppen: "Odessa und das Vierte Reich". Mythen der Zeitgeschichte. Metropol Verlag, Berlin 2007. 279 S., 19,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Heinz Schneppen sucht die SS-Fluchtorganisation Odessa
Wer kennt ihn nicht, Frederick Forsyths Bestsellerroman "Die Akte Odessa" über eine geheimnisvolle SS-Organisation, die belasteten Nationalsozialisten nach 1945 zur Flucht ins Ausland verhalf. Als eine seiner wichtigsten Quellen bei der Arbeit an dem Roman diente Forsyth der österreichische Publizist und "Nazi-Jäger" Simon Wiesenthal. Dieser hatte seit 1961 mehrere Bücher über seine abenteuerliche Jagd auf Adolf Eichmann, den Leiter des "Judenreferates" im Reichssicherheitshauptamt, veröffentlicht und darin von einer "Organisation Odessa" berichtet, die prominenten NS-Schergen die Flucht nach Argentinien ermöglicht habe. Was für Wiesenthal nicht weniger als die "größte Fluchtorganisation der Weltgeschichte" war, hält Heinz Schneppen - Botschafter a. D. und Historiker - für reine Fiktion, für einen "Mythos". "Alle seriösen Erkenntnisse", so schreibt er zu Beginn seiner als "Quellenkritik" verstandenen Darstellung über den Odessa-Komplex unmissverständlich, "sprechen gegen die Existenz einer SS-Fluchtorganisation namens Odessa oder einer ähnlichen Gruppierung."
Um zu zeigen, "wie es zur Mythenbildung kam", hat er in akribischen Recherchen das reichhaltige Schrifttum gesichtet und neue Quellen erschlossen. Ihren Ausgangspunkt nahm die "Legende" mit einer angeblich am 10. August 1944 im Straßburger Hotel Maison Rouge stattgefundenen Konferenz hoher deutscher Ministerialbeamter und führender Vertreter der deutschen Rüstungsindustrie, auf der die Entscheidung getroffen worden sein soll, einen Teil des Nazi-Vermögens ins Ausland zu schaffen. Wiesenthal zufolge begannen die Industriellen anschließend, erhebliche Vermögenswerte auf geheime Konten in Spanien, der Türkei und nach Argentinien zu transferieren. Für Schneppen war eine solche Kapitalflucht nach Südamerika schon deshalb nicht möglich, "weil dafür im letzten Kriegsjahr kaum noch Kapital zur Verfügung stand" und weil Argentinien seit März 1945 Krieg gegen das Deutsche Reich führte. Wenngleich der "Dreierkomplex Odessa, Straßburg und Argentinien" so seines Erachtens nicht existiert haben kann, besteht für ihn kein Zweifel, dass zahlreiche Nazis sich nach dem Ende des Weltkrieges insbesondere mit Hilfe des Internationalen Roten Kreuzes oder der katholischen Kirche aus Deutschland absetzten, vorzugsweise über die Alpen nach Italien. Etwa 30 000 bis 40 000 Deutsche wanderten im ersten Nachkriegsjahrzehnt außerdem nach Argentinien aus. Darunter befanden sich 24 gesuchte Täter, zumeist Vertreter einer "mittleren Führungsschicht", aber auch hohe Funktionsträger wie Staatssekretär Albert Ganzenmüller oder SS-Gruppenführer Ludolf von Alvensleben, der Getto-Kommandant Josef Schwammberger oder der KZ-Arzt von Auschwitz, Josef Mengele, und eben Eichmann. Ihre Flucht und das Leben nach der Ankunft in Argentinien schildert Schneppen in 24 sorgfältig recherchierten Kurzgeschichten, die im Zentrum des Buches stehen. Wenngleich er "eine Dunkelziffer unbekannter oder nicht aufgeklärter Fälle" nicht ausschließen möchte, besteht seines Erachtens angesichts der Fakten und Zahlen kein Zweifel: Die Organisation Odessa ist bloß ein Mythos, entstanden aus einer Verbindung von politischen Motiven, historischem Unwissen und ideologischer Befangenheit. Von Betrügern gesponnen, sei die Legende von Betrogenen weitertradiert worden, zu denen Schneppen namentlich Simon Wiesenthal zählt, der mit "ehrenhaften Motiven", aber "fragwürdigen Mitteln und Methoden" zur Entstehung des Mythos maßgeblich beigetragen habe.
Eine besonders obskure Rolle spielte der DDR-Staatssicherheitsdienst, der 1961 für eine Kampagne gegen den Vatikan und die katholische Kirche ein Dossier Odessa angelegt hatte. In ihm fand Schneppen ein Dokument, dem zufolge der deutsche Botschafter beim Vatikan, Ernst von Weizsäcker, mit Papst Pius XII. 1944 über die Vorbereitung der "Schleusung sogenannter gefährdeter Personen" und die "Transferierung" von Vermögenswerten gesprochen habe. Doch für Schneppen gab es nicht nur keine "Argentinien-Connection" alter Nazis, auch eine solche "Vatikan-Connection" hält er für ausgeschlossen, da er "weder in den Tagebüchern des Vatikanbotschafters noch in den Akten der Vatikanbotschaft" hierüber etwas fand. Als Historiker wird er freilich wissen, dass der alte Spruch "Quod non est in actis non est in mundo" nur bedingt der Wahrheit entspricht. Denn (fast) jede Legende besitzt einen wahren Kern.
ULRICH LAPPENKÜPER
Heinz Schneppen: "Odessa und das Vierte Reich". Mythen der Zeitgeschichte. Metropol Verlag, Berlin 2007. 279 S., 19,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.05.2007Der Mythos Odessa
Die vermeintliche „Rattenlinie” der Nazis nach Argentinien
Wenigstens hat der Tatort sich nicht in Luft aufgelöst. Noch heute gibt es in Straßburg das Hotel „Maison Rouge” (einst „Rotes Haus”). Es ist aber auch das einzige noch greifbare Beweisstück für eine faszinierende Geschichte, die in Bestsellern verbreitet wurde und in der Presse ausgiebig belegt schien: die Straßburger Geheimkonferenz vom 10. August 1944.
Damals hätten hier die Wirtschaftsführer des Dritten Reiches und die SS die Weichen gestellt für das Nachleben der Nazis und des Nazismus. „Vier Milliarden Goldmark” mussten ins Ausland transferiert werden, um – wie Simon Wiesenthal schrieb – die „größte Fluchtorganisation der Weltgeschichte aufzubauen”. Es galt, so der Amerikaner Carl Oglesby, „für Zehntausende von SS-Männern und Nazi-Kriegsverbrechern, auf die der Galgen wartete, Unterschlupf in deutschen Kolonien im Ausland zu finden”. Eine Spiegel-Serie wurde 1967 mit Fotos des Maison Rouge illustriert. Unter den Teilnehmern saßen laut Wiesenthal 1944 der Kohlebaron Emil Kirdorf und die Stahlmagnaten Fritz Thyssen und Gustav Krupp. Nur, Kirdorf war 1938 gestorben, Krupp hatte 1943 wegen Senilität die Konzernleitung abgegeben, und auch Thyssen hatte ein solides Alibi: Er saß damals im KZ Sachsenhausen.
In „Odessa und das Vierte Reich” hat Heinz Schneppen, einst deutscher Botschafter in Paraguay, über die Unzerstörbarkeit von Verschwörungsmythen nachgedacht. Deren Stärke bestehe zum Teil darin, dass etwas, das nicht existiere, sich auch kaum widerlegen lasse. Weshalb der Autor den Anspruch stellt: Einer falschen Behauptung sei der Boden erst entzogen, wenn man auch erklären könne, wie sie zustande kam.
Das kann man nun. Im Roten Haus fanden in der Tat einige Treffen deutscher Manager mit der „Verbindungsstelle Frankreich” der gewerblichen Wirtschaft statt. Worauf ein französischer Informant den Alliierten eine plausibel wirkende Geschichte über deutsche Industrielle und Militärs andrehen konnte, die in Straßburg Pläne für die Zeit des „Zusammenbruchs” beraten hätten. Es sei ums Überleben von Firmen und Patenten und ums Abtauchen von Parteibonzen in den Betrieben gegangen – auf dass irgendwann wieder „ein starkes Deutsches Reich” auferstehen werde. 1945 zitierte Henry Morgenthau, der von Präsident Truman entlassene Finanzminister Roosevelts, dies in seinem Buch „Germany is Our Problem”, um die Gefährlichkeit der Deutschen zu beweisen.
Laut Schneppen verknüpfte Wiesenthal 1967 die Straßburg-Legende mit dem älteren Mythos der „größten Fluchtorganisation der Weltgeschichte”, deren Namen finstere Beschwörungskraft hatte: Odessa – Organisation der ehemaligen SS-Angehörigen. Von dieser will Wiesenthal 1950 von einem Abwehr-Mann erfahren haben, einem „Hans”, der von einer weltweiten „SS-Untergrundbewegung” wusste: Alle 40 Kilometer konnten die Schergen mit einer „Anlaufstelle” rechnen, um über die „Klosterroute” – auch „Rattenlinie” genannt – via Genua ins Argentinien des Diktators Perón zu gelangen. Der Thriller-Autor Frederick Forsyth hat die Story im Weltbestseller „Die Akte Odessa” verarbeitet, wo der Mangel an Beweisen endlich ganz durch blühende Phantasie ausgeglichen wurde.
Gestandene Historiker haben sich dem Thema erst spät gewidmet. In Holger Medings „Flucht vor Nürnberg?” (1992) lag die Betonung bereits auf dem Fragezeichen, und seitdem Argentinien seine Archive öffnete, macht sich weitere Ernüchterung breit. Die von einer Kommission erstellte Liste deutschsprachiger „criminales de guerra” umfasst 23 Namen und schließt Schergen ein, die – wie Klaus Barbie und Walter Rauff – Argentinien nur zur Durchreise benutzten.
Wahr bleibt, dass in der deutschen Kolonie in Argentinien viele mit den Nazis sympathisierten. Richtig ist auch, dass sich mit den 45 000 deutschen Nachkriegs-Einwanderern die übelsten Judenmörder einschmuggelten: Adolf Eichmann und Josef Mengele. Und anders als im besetzten Deutschland konnten Nazis sich am Rio de la Plata ungeniert publizistisch entfalten. Dennoch war „Odessa” eine Fiktion. Nur, ob Fakten sich je gegen Mythen durchsetzen werden? Die „Verlockung bequemer Kurzschlüsse” (Schneppen), entspricht den Erwartungen des Publikums. Die „Akte Odessa” fand eine Millionen-Leserschaft; die Zertrümmerung des gleichnamigen Mythos wird sich mit unendlich weniger begnügen müssen. CARLOS WIDMANN
HEINZ SCHNEPPEN: Odessa und das Vierte Reich. Mythen der Zeitgeschichte. Metropol Verlag, Berlin, 2007. 279 Seiten, 19 Euro.
Der amerikanische Schauspieler Jon Voight in der britisch-deutschen Verfilmung der „Akte Odessa” (im Original „The Odessa File”), des Romans von Frederick Forsyth. Der spannende Politthriller, in dem es um ehemalige SS-Angehörige geht, die eine verschwörerische Geheimorganisation gegründet haben, ist allerdings im Wesentlichen eine Fiktion. Eine weltumspannende Dachorganisation von Nazi-Kriegsverbrechern hat es wohl nie gegeben. Foto: Cinetext
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Die vermeintliche „Rattenlinie” der Nazis nach Argentinien
Wenigstens hat der Tatort sich nicht in Luft aufgelöst. Noch heute gibt es in Straßburg das Hotel „Maison Rouge” (einst „Rotes Haus”). Es ist aber auch das einzige noch greifbare Beweisstück für eine faszinierende Geschichte, die in Bestsellern verbreitet wurde und in der Presse ausgiebig belegt schien: die Straßburger Geheimkonferenz vom 10. August 1944.
Damals hätten hier die Wirtschaftsführer des Dritten Reiches und die SS die Weichen gestellt für das Nachleben der Nazis und des Nazismus. „Vier Milliarden Goldmark” mussten ins Ausland transferiert werden, um – wie Simon Wiesenthal schrieb – die „größte Fluchtorganisation der Weltgeschichte aufzubauen”. Es galt, so der Amerikaner Carl Oglesby, „für Zehntausende von SS-Männern und Nazi-Kriegsverbrechern, auf die der Galgen wartete, Unterschlupf in deutschen Kolonien im Ausland zu finden”. Eine Spiegel-Serie wurde 1967 mit Fotos des Maison Rouge illustriert. Unter den Teilnehmern saßen laut Wiesenthal 1944 der Kohlebaron Emil Kirdorf und die Stahlmagnaten Fritz Thyssen und Gustav Krupp. Nur, Kirdorf war 1938 gestorben, Krupp hatte 1943 wegen Senilität die Konzernleitung abgegeben, und auch Thyssen hatte ein solides Alibi: Er saß damals im KZ Sachsenhausen.
In „Odessa und das Vierte Reich” hat Heinz Schneppen, einst deutscher Botschafter in Paraguay, über die Unzerstörbarkeit von Verschwörungsmythen nachgedacht. Deren Stärke bestehe zum Teil darin, dass etwas, das nicht existiere, sich auch kaum widerlegen lasse. Weshalb der Autor den Anspruch stellt: Einer falschen Behauptung sei der Boden erst entzogen, wenn man auch erklären könne, wie sie zustande kam.
Das kann man nun. Im Roten Haus fanden in der Tat einige Treffen deutscher Manager mit der „Verbindungsstelle Frankreich” der gewerblichen Wirtschaft statt. Worauf ein französischer Informant den Alliierten eine plausibel wirkende Geschichte über deutsche Industrielle und Militärs andrehen konnte, die in Straßburg Pläne für die Zeit des „Zusammenbruchs” beraten hätten. Es sei ums Überleben von Firmen und Patenten und ums Abtauchen von Parteibonzen in den Betrieben gegangen – auf dass irgendwann wieder „ein starkes Deutsches Reich” auferstehen werde. 1945 zitierte Henry Morgenthau, der von Präsident Truman entlassene Finanzminister Roosevelts, dies in seinem Buch „Germany is Our Problem”, um die Gefährlichkeit der Deutschen zu beweisen.
Laut Schneppen verknüpfte Wiesenthal 1967 die Straßburg-Legende mit dem älteren Mythos der „größten Fluchtorganisation der Weltgeschichte”, deren Namen finstere Beschwörungskraft hatte: Odessa – Organisation der ehemaligen SS-Angehörigen. Von dieser will Wiesenthal 1950 von einem Abwehr-Mann erfahren haben, einem „Hans”, der von einer weltweiten „SS-Untergrundbewegung” wusste: Alle 40 Kilometer konnten die Schergen mit einer „Anlaufstelle” rechnen, um über die „Klosterroute” – auch „Rattenlinie” genannt – via Genua ins Argentinien des Diktators Perón zu gelangen. Der Thriller-Autor Frederick Forsyth hat die Story im Weltbestseller „Die Akte Odessa” verarbeitet, wo der Mangel an Beweisen endlich ganz durch blühende Phantasie ausgeglichen wurde.
Gestandene Historiker haben sich dem Thema erst spät gewidmet. In Holger Medings „Flucht vor Nürnberg?” (1992) lag die Betonung bereits auf dem Fragezeichen, und seitdem Argentinien seine Archive öffnete, macht sich weitere Ernüchterung breit. Die von einer Kommission erstellte Liste deutschsprachiger „criminales de guerra” umfasst 23 Namen und schließt Schergen ein, die – wie Klaus Barbie und Walter Rauff – Argentinien nur zur Durchreise benutzten.
Wahr bleibt, dass in der deutschen Kolonie in Argentinien viele mit den Nazis sympathisierten. Richtig ist auch, dass sich mit den 45 000 deutschen Nachkriegs-Einwanderern die übelsten Judenmörder einschmuggelten: Adolf Eichmann und Josef Mengele. Und anders als im besetzten Deutschland konnten Nazis sich am Rio de la Plata ungeniert publizistisch entfalten. Dennoch war „Odessa” eine Fiktion. Nur, ob Fakten sich je gegen Mythen durchsetzen werden? Die „Verlockung bequemer Kurzschlüsse” (Schneppen), entspricht den Erwartungen des Publikums. Die „Akte Odessa” fand eine Millionen-Leserschaft; die Zertrümmerung des gleichnamigen Mythos wird sich mit unendlich weniger begnügen müssen. CARLOS WIDMANN
HEINZ SCHNEPPEN: Odessa und das Vierte Reich. Mythen der Zeitgeschichte. Metropol Verlag, Berlin, 2007. 279 Seiten, 19 Euro.
Der amerikanische Schauspieler Jon Voight in der britisch-deutschen Verfilmung der „Akte Odessa” (im Original „The Odessa File”), des Romans von Frederick Forsyth. Der spannende Politthriller, in dem es um ehemalige SS-Angehörige geht, die eine verschwörerische Geheimorganisation gegründet haben, ist allerdings im Wesentlichen eine Fiktion. Eine weltumspannende Dachorganisation von Nazi-Kriegsverbrechern hat es wohl nie gegeben. Foto: Cinetext
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
In seinem Buch "Odessa und das Vierte Reich" macht sich Heinz Schneppen daran, die Legende von einer Nazi-Geheimkonferenz 1944 in Straßburg, bei der die Flucht von zehntausenden SS-Leuten und das "Vierte Reich" geplant worden sein soll, als klassische Verschwörungstheorie zu entlarven, erklärt Carlos Widmann. Zu diesem Zweck untersuche der Autor, wie diese Geschichte von Simon Wiesenthal in die Welt gesetzt und schließlich durch einen Bestseller von Frederick Forsyth Millionen von Lesern ins Hirn gebrannt wurde, um dann nach konkreten Beweisen zu suchen, so der Rezensent weiter. Allerdings ist sich Widmann sicher, dass Schneppens eher nüchterne Ergebnisse nicht so viele faszinierte Leser finden wird, wie einst der Bestseller-Autor und diese Geschichte sich also nicht so einfach wieder aus der Welt schaffen lassen lässt, meint Widmann.
© Perlentaucher Medien GmbH
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