Neue erschütternde Berichte über die wahren Zustände in unserem Land. Keine Stadt in Deutschland soll sich übergangen fühlen, nur weil sie im vielbeachteten ersten Band nicht auftauchte. "Öde Orte, wohin man kommt, wo immer in Deutschland man lebt. Empfindsame Menschen gestehen, bekennen, klagen an." (Die Zeit)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.04.1998Düsseldorf heißt Düsseldorf und ist wirklich ein Dorf
Aber Aachen ist nicht einmal zum Lachen: Zweiundvierzig Autoren beschimpfen dreiundfünfzig Städte
"Zu Aachen, langweilen sich auf der Straß / Die Hunde, die flehn untertänig: / Gib uns einen Fußtritt, o Fremdling, das wird / Vielleicht uns zerstreuen ein wenig." Vor 154 Jahren schmähte Heinrich Heine in "Deutschland - ein Wintermärchen" die alte Kaiserstadt. Was heutzutage Männer und Frauen über Orte zu Papier bringen, an denen sie sich nur ungern aufhalten, haben Jürgen Roth und Rayk Wieland in ihrem Sammelband "Öde Orte" zusammengetragen. Elke Wittich wandelt auf den Spuren Heines durch Aachen. Sie vergibt Schulnoten an ein Dorf, das Stadt spielt. Da gibt es ein glattes Ungenügend für den Geruch, weil der Elisenbrunnen, ein Wahrzeichen Aachens, nach faulen Eiern duftet. Ungenügend ist ihr auch die Optik, zumal "der rot-grüne Terror" dem Autofahrer das Leben verleide. In einem Urbanität simulierenden Nest, in dem ferrarirote Busse richtigen Nahverkehr vorspiegeln, bedeute der Rückbau von Fahrbahnen und Parkplätzen die Hölle. Für die lokale Sprache ("klingt noch fürchterlicher als das Kölsch") kann sich Elke Wittich ebensowenig begeistern wie für die großen Söhne der Stadt. Deren größter sei DFB-Präsident Egidius Braun, der aber in Eschweiler wohne und eigentlich nicht zähle. Aachen habe zwar weder den langsamsten Läufer noch den dunkelsten Denker hervorgebracht, dafür aber den schlechtesten Journalisten der Welt, Wilfried Mohren, den Sportchef des MDR. Große Töchter: Fehlanzeige. Resümierend muß Elke Wittich sich fragen, warum überhaupt noch Menschen in der westlichsten Großstadt des Landes leben. Sie weiß es jedenfalls nicht.
Fritz Tietz nährt seinen Unmut über die Stadt Bielefeld mit den örtlichen Straßennamen, die unter anderem an ehemalige Bürgermeister erinnern: Puhvogel, Pöppelmann oder Poggenbrink. Die August-Bebel-Straße sei keineswegs nach einem Sozialdemokraten benannt, sondern nach dem Metzgermeister, der in der Silvesternacht 1920/21 eine vollbesetzte Straßenbahn gut einen Kilometer weit mit den Zähnen gezogen habe und so als erster Bielefelder einen Eintrag im Guinnessbuch der Rekorde erlangt habe. Voltaire, den die Ostwestfalen bei seinem Aufenthalt 1752 "Voltmann" nannten, habe der Stadt Bielefeld ursprünglich die Rolle zugedacht, die dann letztlich das sagenhafte Land Eldorado in seinem Roman "Candide" übernahm. Die Voltmannstraße wurde daher nicht nach dem undankbaren Franzosen, sondern nach der Dame Josefina Voltmann benannt, die für die Bielefelder Frauen das Recht erstritt, Alkohol zu trinken.
Das Bielefeld am Main ist Frankfurt. Zieht man nämlich von der offiziellen Einwohnerzahl Frankfurts die Populationen eingemeindeter Apfelweindörfer und Kleinstädte ab, so Christian Schmidt, dann habe die Stadt exakt 346865 Einwohner, gerade zwanzigtausend mehr als Bielefeld. Frankfurt sei nicht so unwirtlich wie New York, Bochum oder Kuala Lumpur. Vielmehr werde mit aufgepflasterten und zugepömpelten Fußgängerzonen, dezibelreduzierten Wohnquartieren und adretten Plastikstuhl-traßencafés eine Wirtlichkeit erreicht, die der von Bielefeld-Brackwede kaum nachstehe. Vier Frankfurter Bühnen brachten 1993/94 632 Vorstellungen zustande, während die beiden kommunalen Theater in Bielefeld - bei geringerem Etat - 520 Vorstellungen absolvierten. In der Deutschen Bibliothek reichen dem Personal oft nicht einmal sieben Tage, um die "Statistischen Vierteljahreshefte der Stadt Bielefeld" aufzufinden.
Überhaupt sei es in Frankfurt um Dienstleistungen schlecht bestellt. Ein Brief verbringe auf der Strecke von der Innenstadt zum Nordend bis zu fünf Tage, falls er nicht zum Absender zurückgelange, weil Sortierer und Zusteller den kleingeschriebenen Absender nicht von der in dicken Lettern geschriebenen Adresse unterscheiden können. Der Frankfurter, dessen Götter Muff und Griesgram heißen, habe für Kunden und Käufer nur verächtliche Blicke übrig, und Kneipengäste schmeiße er eine halbe Stunde vor Sperrstunde auf die Straße. Der Ausländeranteil von dreißig Prozent bleibt ohne Einfluß auf diese Situation. Griechen, Türken und Mongolen werden binnen kürzester Frist zu echten Frankfurtern, mißgünstigen Erbsenzählern, unzufriedenen Meckerpötten und größenwahnsinnigen Menschenfeinden. Nur Christian Schmidt, der solches berichtet, konnte sich der Vereinnahmung durch diese Stadt entziehen, als Bielefelder fühlt er sich hier wie zu Hause.
Wenn zweiundvierzig Autoren dreiundfünfzig Schmähungen über Orte, an denen sie wohnen oder gewohnt haben, verfassen und auch noch veröffentlichen, dann können sie in Konflikt mit den Einwohnern dieser öden Orte geraten. Denn wider Erwarten fühlen sich dort manche Menschen tatsächlich wohl. Sie haben kein Verständnis für das, was Martin Heidegger unter Unbehaustheit verstand, und mögen es gar nicht, garstige Worte über ihre Heimat zu lesen. So gellte denn ein einziger unartikulierter Aufschrei der erregten Menschenmassen durch Nürnberg, nachdem Klaus Bittermanns Aufsatz über Nürnberg in der "taz" vorab gedruckt worden war. Eine Flut von wutschäumenden Leserbriefen ergoß sich über die Lokalpresse. Nur ein Trost blieb: andere Städte trifft es härter, beispielsweise Bamberg oder München. HARTMUT HÄNSEL
Jürgen Roth, Rayk Wieland (Hrsg.): "Öde Orte". Ausgesuchte Stadtkritiken von Aachen bis Zwickau. Reclam Verlag, Leipzig 1998. 252 S., 11 Abb., br., 19,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Aber Aachen ist nicht einmal zum Lachen: Zweiundvierzig Autoren beschimpfen dreiundfünfzig Städte
"Zu Aachen, langweilen sich auf der Straß / Die Hunde, die flehn untertänig: / Gib uns einen Fußtritt, o Fremdling, das wird / Vielleicht uns zerstreuen ein wenig." Vor 154 Jahren schmähte Heinrich Heine in "Deutschland - ein Wintermärchen" die alte Kaiserstadt. Was heutzutage Männer und Frauen über Orte zu Papier bringen, an denen sie sich nur ungern aufhalten, haben Jürgen Roth und Rayk Wieland in ihrem Sammelband "Öde Orte" zusammengetragen. Elke Wittich wandelt auf den Spuren Heines durch Aachen. Sie vergibt Schulnoten an ein Dorf, das Stadt spielt. Da gibt es ein glattes Ungenügend für den Geruch, weil der Elisenbrunnen, ein Wahrzeichen Aachens, nach faulen Eiern duftet. Ungenügend ist ihr auch die Optik, zumal "der rot-grüne Terror" dem Autofahrer das Leben verleide. In einem Urbanität simulierenden Nest, in dem ferrarirote Busse richtigen Nahverkehr vorspiegeln, bedeute der Rückbau von Fahrbahnen und Parkplätzen die Hölle. Für die lokale Sprache ("klingt noch fürchterlicher als das Kölsch") kann sich Elke Wittich ebensowenig begeistern wie für die großen Söhne der Stadt. Deren größter sei DFB-Präsident Egidius Braun, der aber in Eschweiler wohne und eigentlich nicht zähle. Aachen habe zwar weder den langsamsten Läufer noch den dunkelsten Denker hervorgebracht, dafür aber den schlechtesten Journalisten der Welt, Wilfried Mohren, den Sportchef des MDR. Große Töchter: Fehlanzeige. Resümierend muß Elke Wittich sich fragen, warum überhaupt noch Menschen in der westlichsten Großstadt des Landes leben. Sie weiß es jedenfalls nicht.
Fritz Tietz nährt seinen Unmut über die Stadt Bielefeld mit den örtlichen Straßennamen, die unter anderem an ehemalige Bürgermeister erinnern: Puhvogel, Pöppelmann oder Poggenbrink. Die August-Bebel-Straße sei keineswegs nach einem Sozialdemokraten benannt, sondern nach dem Metzgermeister, der in der Silvesternacht 1920/21 eine vollbesetzte Straßenbahn gut einen Kilometer weit mit den Zähnen gezogen habe und so als erster Bielefelder einen Eintrag im Guinnessbuch der Rekorde erlangt habe. Voltaire, den die Ostwestfalen bei seinem Aufenthalt 1752 "Voltmann" nannten, habe der Stadt Bielefeld ursprünglich die Rolle zugedacht, die dann letztlich das sagenhafte Land Eldorado in seinem Roman "Candide" übernahm. Die Voltmannstraße wurde daher nicht nach dem undankbaren Franzosen, sondern nach der Dame Josefina Voltmann benannt, die für die Bielefelder Frauen das Recht erstritt, Alkohol zu trinken.
Das Bielefeld am Main ist Frankfurt. Zieht man nämlich von der offiziellen Einwohnerzahl Frankfurts die Populationen eingemeindeter Apfelweindörfer und Kleinstädte ab, so Christian Schmidt, dann habe die Stadt exakt 346865 Einwohner, gerade zwanzigtausend mehr als Bielefeld. Frankfurt sei nicht so unwirtlich wie New York, Bochum oder Kuala Lumpur. Vielmehr werde mit aufgepflasterten und zugepömpelten Fußgängerzonen, dezibelreduzierten Wohnquartieren und adretten Plastikstuhl-traßencafés eine Wirtlichkeit erreicht, die der von Bielefeld-Brackwede kaum nachstehe. Vier Frankfurter Bühnen brachten 1993/94 632 Vorstellungen zustande, während die beiden kommunalen Theater in Bielefeld - bei geringerem Etat - 520 Vorstellungen absolvierten. In der Deutschen Bibliothek reichen dem Personal oft nicht einmal sieben Tage, um die "Statistischen Vierteljahreshefte der Stadt Bielefeld" aufzufinden.
Überhaupt sei es in Frankfurt um Dienstleistungen schlecht bestellt. Ein Brief verbringe auf der Strecke von der Innenstadt zum Nordend bis zu fünf Tage, falls er nicht zum Absender zurückgelange, weil Sortierer und Zusteller den kleingeschriebenen Absender nicht von der in dicken Lettern geschriebenen Adresse unterscheiden können. Der Frankfurter, dessen Götter Muff und Griesgram heißen, habe für Kunden und Käufer nur verächtliche Blicke übrig, und Kneipengäste schmeiße er eine halbe Stunde vor Sperrstunde auf die Straße. Der Ausländeranteil von dreißig Prozent bleibt ohne Einfluß auf diese Situation. Griechen, Türken und Mongolen werden binnen kürzester Frist zu echten Frankfurtern, mißgünstigen Erbsenzählern, unzufriedenen Meckerpötten und größenwahnsinnigen Menschenfeinden. Nur Christian Schmidt, der solches berichtet, konnte sich der Vereinnahmung durch diese Stadt entziehen, als Bielefelder fühlt er sich hier wie zu Hause.
Wenn zweiundvierzig Autoren dreiundfünfzig Schmähungen über Orte, an denen sie wohnen oder gewohnt haben, verfassen und auch noch veröffentlichen, dann können sie in Konflikt mit den Einwohnern dieser öden Orte geraten. Denn wider Erwarten fühlen sich dort manche Menschen tatsächlich wohl. Sie haben kein Verständnis für das, was Martin Heidegger unter Unbehaustheit verstand, und mögen es gar nicht, garstige Worte über ihre Heimat zu lesen. So gellte denn ein einziger unartikulierter Aufschrei der erregten Menschenmassen durch Nürnberg, nachdem Klaus Bittermanns Aufsatz über Nürnberg in der "taz" vorab gedruckt worden war. Eine Flut von wutschäumenden Leserbriefen ergoß sich über die Lokalpresse. Nur ein Trost blieb: andere Städte trifft es härter, beispielsweise Bamberg oder München. HARTMUT HÄNSEL
Jürgen Roth, Rayk Wieland (Hrsg.): "Öde Orte". Ausgesuchte Stadtkritiken von Aachen bis Zwickau. Reclam Verlag, Leipzig 1998. 252 S., 11 Abb., br., 19,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Öde Orte 2 ist kein Städteführer im engeren Sinne, sondern ein fulminantes Sammelsurium von Niederträchtigkeiten. Trotz oder gerade wegen der Verbalgewalt, mit der jegliche Häuseransammlung samt ihrer Population und Historie in den Dreck gestampft wird, ist der Band mit seinen schonungslosen Beiträgen, denen die sprachliche und literarische Gewandtheit nicht abzusprechen ist, passagenweise zum Schieflachen. Gießener Allgemeine