Innerhalb der Öffentlichen Wohlfahrtspflege führten sozialrassistische Konzepte, antisemitische Ambitionen und finanzielle Interessen seit 1933 zu einer Ausgrenzung jüdischer Deutscher, ohne dass hierzu Gesetze vorlagen. In vielen Städten wurden zunächst jüdische Beamte und Angestellte entlassen, dann jüdische Wohlfahrtsempfänger durch Leistungskürzungen, Arbeitszwang und Isolierung diskriminiert. Diese Praxis der Wohlfahrtsämter mündete schließlich in die zentrale Verordnung vom November 1938, die den Ausschluss der jüdischen Armen aus dem staatlichen Fürsorgesystem dekretierte. Wolf Gruner dokumentiert auf einer umfangreichen Quellenbasis erstmals die Impulsfunktion kommunaler Initiativen für den Verlauf der NS-Judenverfolgung. Die vergleichende Darstellung der Politik deutscher Großstädte und Wiens birgt überraschende Ergebnisse zum Verhältnis von lokaler Verwaltung und Gestapo. Die Studie zeigt: Die "soziale" Enteignung jüdischer Staatsbürger durch Beamte und Angestellte der staatlichen Fürsorge ist ein wichtiges, bisher zu wenig beachtetes Element der Vorgeschichte des Holocaust.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.11.2002Hitlers Verfolgungsnetzwerk
Der Deutsche Gemeindetag und die Verdrängung der Juden aus der öffentlichen Fürsorge
Wolf Gruner: Öffentliche Wohlfahrt und Judenverfolgung. Wechselwirkung lokaler und zentraler Politik im NS-Staat (1933-1942). R. Oldenbourg Verlag, München 2002. 349 Seiten, 49,80 [Euro].
Wolf Gruner stellt minutiös dar, wie das nationalsozialistische Regime die deutschen Juden aus dem System der öffentlichen Fürsorge verdrängte. Er zeigt in seiner auf akribischer Quellenarbeit beruhenden Studie überzeugend auf, daß die kommunalen Behörden auch ohne zentrale Anweisungen seit 1933 dazu übergingen, auf eigene Initiative jüdische Wohlfahrtsempfänger zu diskriminieren und - wo immer es ihnen opportun erschien - von sozialen Leistungen auszuschließen. Er macht deutlich, daß der sozialpolitische Ausschluß der Juden zentraler Bestandteil einer Politik war, die auf eine radikale Umgestaltung herkömmlicher Sozialpolitik zielte: Nicht mehr die individuelle soziale Betreuung stand nun im Mittelpunkt, sondern die nach rassistischen Kriterien definierte "Volkspflege". Beteiligt waren an diesem Verdrängungsprozeß sowohl neu auf ihre Posten gelangte Nationalsozialisten als auch langgediente Beamte ohne Parteibuch. Gruner arbeitet heraus, daß geradezu ein Wettbewerb der Kommunen um den Ausschluß jüdischer Bedürftiger entstand und zentrale Anweisungen häufig lokalen Initiativen folgten. Koordiniert und gesteuert wurde dieser vielgestaltige Prozeß durch eine von der Forschung über das "Dritte Reich" bisher meist übersehene Einrichtung: durch die 1933 neu geschaffene Spitzenorganisation der Kommunen, den Deutschen Gemeindetag.
Der Autor zeigt, daß die Interessen hinter dieser Politik kumulativer Entrechtung vielfältig waren: Ideologische Motive lassen sich ebenso nachweisen wie der vorauseilende Gehorsam pflichteifriger Beamter und die finanziellen Eigeninteressen der Kommunen. Als das Regime nach dem Pogrom vom November 1938 die jüdischen Bedürftigen auf dem Verordnungswege von der staatlichen Fürsorge ausschloß und sie an die karitativen Einrichtungen der jüdischen Gemeinden verwies, sanktionierte man letztlich eine schon weit vorangeschrittene Verdrängungspraxis. Tatsächlich aber, so Gruners überraschende Feststellung, konnte dieser Zwangstransfer erst nach mehreren Jahren vollständig durchgeführt werden, da die jüdischen Gemeinden sich als hoffnungslos überfordert erwiesen. Während Kommunalverwaltungen und Gemeindetag alles daransetzten, die Verantwortung für die jüdischen Bedürftigen loszuwerden, versuchte ausgerechnet die Sicherheitspolizei, allerdings weitgehend erfolglos, diese Verdrängung in die totale Armut abzubremsen - benötigte man doch die restliche Finanzkraft der Gemeinden für die geplanten Deportationen.
Die vorbildliche Spezialstudie ist ein weiterer Beitrag zu den anhaltenden Bemühungen der Forschung, die nationalsozialistische Judenverfolgung als das Werk eines breit verankerten und arbeitsteiligen Verfolgungsnetzwerks zu begreifen, das auf allen Ebenen des Herrschaftssystems präsent war. Dabei muß man nicht so weit gehen wie Gruner und die "gängige Auffassung einer vor allem von der NS-Führung vorangetriebenen Judenpolitik ins Reich der Legende" verweisen. Daß die Funktionäre des Regimes in allen Lebensbereichen erhebliche Eigeninitiative im Rahmen einer von der Führung in großen Linien vorgegebenen Politik entwickelten, gehört eigentlich zu den mittlerweile gesicherten Erkenntnissen der Forschung über den Nationalsozialismus.
Daß es, wie Gruner zeigt, infolge dieser Dynamik zwischen zentralen Anweisungen und Initiative untergeordneter Stellen auch zu Konflikten kam, daß der Verfolgungsprozeß uneinheitlich, ja manchmal chaotisch verlief und der Verfolgungsdruck in abrupten Schüben erhöht wurde, kann nicht verwundern. Vor wenigen Jahren hat die Forschung solche Erscheinungen in erster Linie als Ausdruck mangelnder Zielgerichtetheit des Regimes und als Hinweis auf seinen selbstzerstörerischen Charakter interpretiert: Gruner stellt solche Phänomene - durchweg überzeugend - eher als Nebenaspekte einer grundsätzlich von einem breiten Konsens innerhalb der nationalsozialistischen Eliten getragenen "Judenpolitik" dar.
Gruners Arbeit bietet eine detaillierte Darstellung des Prozesses der staatlich gesteuerten Verarmung der deutschen Juden. Die Konsequenzen dieser Politik erbarmungsloser Verelendung aus der Sicht der Opfer darzustellen bleibt nach wie vor eine Herausforderung für die Historiographie der Judenverfolgung.
PETER LONGERICH
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Deutsche Gemeindetag und die Verdrängung der Juden aus der öffentlichen Fürsorge
Wolf Gruner: Öffentliche Wohlfahrt und Judenverfolgung. Wechselwirkung lokaler und zentraler Politik im NS-Staat (1933-1942). R. Oldenbourg Verlag, München 2002. 349 Seiten, 49,80 [Euro].
Wolf Gruner stellt minutiös dar, wie das nationalsozialistische Regime die deutschen Juden aus dem System der öffentlichen Fürsorge verdrängte. Er zeigt in seiner auf akribischer Quellenarbeit beruhenden Studie überzeugend auf, daß die kommunalen Behörden auch ohne zentrale Anweisungen seit 1933 dazu übergingen, auf eigene Initiative jüdische Wohlfahrtsempfänger zu diskriminieren und - wo immer es ihnen opportun erschien - von sozialen Leistungen auszuschließen. Er macht deutlich, daß der sozialpolitische Ausschluß der Juden zentraler Bestandteil einer Politik war, die auf eine radikale Umgestaltung herkömmlicher Sozialpolitik zielte: Nicht mehr die individuelle soziale Betreuung stand nun im Mittelpunkt, sondern die nach rassistischen Kriterien definierte "Volkspflege". Beteiligt waren an diesem Verdrängungsprozeß sowohl neu auf ihre Posten gelangte Nationalsozialisten als auch langgediente Beamte ohne Parteibuch. Gruner arbeitet heraus, daß geradezu ein Wettbewerb der Kommunen um den Ausschluß jüdischer Bedürftiger entstand und zentrale Anweisungen häufig lokalen Initiativen folgten. Koordiniert und gesteuert wurde dieser vielgestaltige Prozeß durch eine von der Forschung über das "Dritte Reich" bisher meist übersehene Einrichtung: durch die 1933 neu geschaffene Spitzenorganisation der Kommunen, den Deutschen Gemeindetag.
Der Autor zeigt, daß die Interessen hinter dieser Politik kumulativer Entrechtung vielfältig waren: Ideologische Motive lassen sich ebenso nachweisen wie der vorauseilende Gehorsam pflichteifriger Beamter und die finanziellen Eigeninteressen der Kommunen. Als das Regime nach dem Pogrom vom November 1938 die jüdischen Bedürftigen auf dem Verordnungswege von der staatlichen Fürsorge ausschloß und sie an die karitativen Einrichtungen der jüdischen Gemeinden verwies, sanktionierte man letztlich eine schon weit vorangeschrittene Verdrängungspraxis. Tatsächlich aber, so Gruners überraschende Feststellung, konnte dieser Zwangstransfer erst nach mehreren Jahren vollständig durchgeführt werden, da die jüdischen Gemeinden sich als hoffnungslos überfordert erwiesen. Während Kommunalverwaltungen und Gemeindetag alles daransetzten, die Verantwortung für die jüdischen Bedürftigen loszuwerden, versuchte ausgerechnet die Sicherheitspolizei, allerdings weitgehend erfolglos, diese Verdrängung in die totale Armut abzubremsen - benötigte man doch die restliche Finanzkraft der Gemeinden für die geplanten Deportationen.
Die vorbildliche Spezialstudie ist ein weiterer Beitrag zu den anhaltenden Bemühungen der Forschung, die nationalsozialistische Judenverfolgung als das Werk eines breit verankerten und arbeitsteiligen Verfolgungsnetzwerks zu begreifen, das auf allen Ebenen des Herrschaftssystems präsent war. Dabei muß man nicht so weit gehen wie Gruner und die "gängige Auffassung einer vor allem von der NS-Führung vorangetriebenen Judenpolitik ins Reich der Legende" verweisen. Daß die Funktionäre des Regimes in allen Lebensbereichen erhebliche Eigeninitiative im Rahmen einer von der Führung in großen Linien vorgegebenen Politik entwickelten, gehört eigentlich zu den mittlerweile gesicherten Erkenntnissen der Forschung über den Nationalsozialismus.
Daß es, wie Gruner zeigt, infolge dieser Dynamik zwischen zentralen Anweisungen und Initiative untergeordneter Stellen auch zu Konflikten kam, daß der Verfolgungsprozeß uneinheitlich, ja manchmal chaotisch verlief und der Verfolgungsdruck in abrupten Schüben erhöht wurde, kann nicht verwundern. Vor wenigen Jahren hat die Forschung solche Erscheinungen in erster Linie als Ausdruck mangelnder Zielgerichtetheit des Regimes und als Hinweis auf seinen selbstzerstörerischen Charakter interpretiert: Gruner stellt solche Phänomene - durchweg überzeugend - eher als Nebenaspekte einer grundsätzlich von einem breiten Konsens innerhalb der nationalsozialistischen Eliten getragenen "Judenpolitik" dar.
Gruners Arbeit bietet eine detaillierte Darstellung des Prozesses der staatlich gesteuerten Verarmung der deutschen Juden. Die Konsequenzen dieser Politik erbarmungsloser Verelendung aus der Sicht der Opfer darzustellen bleibt nach wie vor eine Herausforderung für die Historiographie der Judenverfolgung.
PETER LONGERICH
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Minutiös stellt diese "vorbildliche" Studie dar, wie das nationalsozialistische Regime die deutschen Juden aus dem System der öffentlichen Fürsorge verdrängte, schreibt Rezensent Peter Longerich. Besonders wird die "akribische Quellenarbeit" des Autors hervorgehoben, die dem Rezensenten eine bestürzend überzeugende Darstellung der Tatsache bot, dass die öffentlichen Behörden auch ohne zentralen Anweisungen seit 1933 dazu übergegangen waren, jüdische Wohlfahrtsempfänger von sozialen Leistungen auszuschließen. Auch mache die Studie deutlich, dass der "sozialpolitische Ausschluss der Juden" zentraler Bestandteil einer Politik war, die auf eine "radikale Umstellung herkömmlicher Sozialpolitik" zielte. Des weiteren zeige der Autor die Vielfältigkeit "dieser Politik kumulativer Entrechtung" auf, infolge derer er "ideologische Motive" ebenso wie "vorauseilenden Gehorsam pflichteifriger Beamter" sowie "finanzielle Interessen der Kommunen" nachweise. Autor Gruner zeige auch, dass die "staatlich gesteuerte Verarmung" schon weit vorangeschritten war, als sie 1938 per Gesetz dann staatlich sanktioniert wurde.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Dieses Buch erschließt uns mit hoher Fachkompetenz und erdrückendem Belegmaterial bis in den immer aussichtsloseren jüdischen Alltag in den Städten und Gemeinden hinein ein zentrales und deprimierendes Kapitel nationalsozialistischer Judenpolitik, das uns bislang nur in Umrissen bekannt gewesen ist." Bernd Jürgen Wendt, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 3/2003