Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rezensent Uwe Justus Wenzel ist entschieden unterwältigt von diesem "stark ins Kraut geschossenen" Versuch des Berliner Philosophieprofessors Volker Gerhardt, Öffentlichkeit als politisches Bewusstsein und "kosmopolitischen Fluchtpunkt" des menschlichen Bewusstseins zu denken. So wähnt Wenzel hier die Möglichkeit einer Binse im Argen oder aber der Gedanke wurde einfach nicht in wünschenswerter Ausführlichkeit gewälzt: Bewusstsein als etwas, das für den Einzelnen für sich zu beanspruchen so immanent wichtig ist, ihm aber eben nur zum Teil gehört, da es in ein übergeordnetes Bewusstsein aufgehe, könne doch nur der für einen Skandal halten, der sich nicht vor Augen hält, dass auch die Sprache, derer sich der einzelne bedient, eben nie die seinige im Sinne einer Besitzanzeige ist, doziert Wenzel. Zwar biete das Buch im einzelnen Kapitel, die für sich genommen ohne weiteres bestehen, doch ächzt der Rezensent zuweilen auch unter den sich häufenden Wiederholungen im somit teilweise recht redundanten Buch.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.01.2013Wer mehr will, wird weniger erreichen
Denn die anderen waren immer schon da: Der Berliner Philosoph Volker Gerhardt lässt die liberale Öffentlichkeit philosophisch hochleben
Nach einer Bemerkung Kants vollzieht sich alles Denken "gleichsam in Gemeinschaft mit anderen". Die Begriffe, derer sich der Denkende bedient, sind nämlich nicht sein persönliches Eigentum, sondern Gemeingut, hervorgegangen aus einem Prozess öffentlicher Verständigung. Ebenso wenig wie eine Privatsprache gibt es eine private Begrifflichkeit. Was immer der Einzelne denkend erfasst, mag es auch noch so einzigartig sein, begreift er vielmehr von vornherein anhand allgemeiner Kategorien.
In den Worten des Berliner Philosophen Volker Gerhardt ist der einzelne Mensch aus diesem Grund "nicht nur als Vertreter seiner Spezies und als Repräsentant seiner Kultur, sondern selbst noch in seinem Selbstverhältnis als Individuum ein exemplarischer Fall öffentlich wirksamer Einsichten". Sogar wenn er allein mit sich zu Rate gehe, habe er sich deshalb als Homo publicus zu verstehen, wohlwissend, dass er auch seine geheimsten Gedanken nur haben könne, weil sie in Form und Gehalt öffentlich verständlich seien.
Vor dem Forum einer internalisierten Öffentlichkeit agiert nach Gerhardt nicht nur, wer die Welt und sich selbst denkend zu begreifen sucht, sondern auch, wer mit einem moralischen Problem ringt. Zwar ist der Einzelne hier im Ausgangspunkt mit sich allein. Es ist seine individuelle Frage, die ihn umtreibt, und er muss mit der Entscheidung leben, die er schließlich trifft. Zu einer akzeptablen Antwort gelangt er Gerhardt zufolge jedoch nur, indem er aus sich herausgeht und in eine öffentliche Sphäre überwechselt. Mit Kant gesprochen, müsse er sich reflektierend an alle anderen, die er als seinesgleichen begreife, wenden. Nur solche Handlungen dürfe er sich zur Pflicht machen, die Gegenstand des Wollens aller anderen sein könnten, sofern sie sich in vergleichbarer Lage befänden. "Man könnte sagen, dass die Vernunft den Prozess öffentlicher Prüfung in sich hineinverlegt, um zu einem Vielen und vielem angemessenen Urteil zu gelangen."
Sowohl die theoretische als auch die praktische Vernunft des Menschen ist laut Gerhardt demnach als eine "elementare Form von Öffentlichkeit" zu verstehen. Umgekehrt sei Öffentlichkeit als der Raum, in dem sich die Menschen über ihre Absichten verständigen und über die Ziele ihres Handelns gewaltlos einigen könnten, nichts anderes als "eine ins gesellschaftliche Ganze ausgestülpte Vernunft". Sie erweitere den Wahrnehmungshorizont einer Gesellschaft, verbessere die Kenntnis der Lage, schärfe das Urteil über die bestehenden Interessengegensätze, korrigiere Fehleinschätzungen, kläre die rechtlichen Voraussetzungen und biete den Akteuren die Möglichkeit, im Kampf um ihren Vorteil die sachlichen Lösungen nicht zu vergessen.
Die Vernünftigkeit gesellschaftlicher und namentlich politischer Entscheidungsverfahren werde deshalb durch nichts so wirksam gefördert wie durch die Existenz einer unbehinderten Öffentlichkeit. Wie Gerhardt mit geradezu aufklärerischer Verve formuliert, sei sie "der Raum, in dem sich alle Kenntnisse bilden und verbreiten, in dem sich die Irrtümer erweisen und die Wahrheit ans Licht gelangt". Zwar sei nicht bewiesen, dass die Menge über mehr Vernunft verfüge als der Einzelne. Gleichwohl biete die über die Öffentlichkeit ermöglichte Partizipation - eben durch die Beteiligung vieler Köpfe - eine statistisch steigende Chance für die Entdeckung von Fehlern sowie für die Berücksichtigung einer größeren Zahl von Gesichtspunkten.
Angesichts ihrer vernunftanalogen Leistungen darf nach Gerhardts Auffassung mit der Öffentlichkeit nicht anders umgegangen werden als mit der menschlichen Individualfreiheit. "Wir haben sie zu fördern und zu stützen, so weit es nur geht. Sie ist eine wesentliche Bedingung der Entfaltung der humanen Kräfte."
Vor dem Hintergrund dieses klassisch liberalen Verständnisses übt Gerhardt scharfe, aber treffende Kritik an Habermas' Konzeption einer "deliberativen Öffentlichkeit". Indem diese Auffassung öffentliche Diskurse an den Strick mannigfaltiger Kautelen und Kriterien zu legen suche, sei sie ungeachtet ihrer kritischen Attitüde Ausdruck einer halbierten Rationalität, die Kritik nur gelten lasse, solange man sie selber äußere. Gegenüber der Furcht der Diskurstheoretiker vor einer Öffentlichkeit, deren Teilnehmer weniger aufgeklärt sind als sie selbst, plädiert Gerhardt für vertrauensvolle Zurückhaltung: "Nach allem, was wir über die Ausbreitung des Wissens bei vielen Menschen wissen, erfolgt die kritische Prüfung schon von selbst - insbesondere dann, wenn für Widerspruch gesorgt ist. Also genügt es, Zugänglichkeit und Offenheit herzustellen. Folglich reichen die Kriterien der Freiheit und der Gleichheit aus, die jedem Teilnehmer an öffentlichen Diskursen zuzugestehen sind. Wer mehr will, wird weniger erreichen."
Die Öffentlichkeitskonzeption Gerhardts ist das Produkt einer eigenwilligen Verknüpfung heterogener philosophischer Traditionslinien. So kombiniert Gerhardt Kants kritische Philosophie mit Wittgensteins Privatsprachenargument. Die auf Platon verweisende These einer strukturellen Gleichartigkeit von öffentlichem und privatem Bewusstsein verbindet er mit einem Bekenntnis zu dem wohl vehementesten Platonkritiker des vorigen Jahrhunderts: Karl Popper, im heutigen philosophischen juste milieu allenfalls noch mit spöttisch emporgezogenen Augenbrauen erwähnt, habe die Rolle der Öffentlichkeit bislang am eindringlichsten und zukunftsträchtigsten erörtert. Passt das alles zusammen? Im Großen und Ganzen wohl ja - freilich nur, weil "Öffentlichkeit" bei Gerhardt trotz einer Vielzahl wortreicher Umschreibungen weniger als ein scharf konturierter Begriff, sondern eher als eine Art von Passepartout fungiert, flexibel genug, um eine Vielzahl unterschiedlicher Sachverhalte zu erfassen. Ob beispielsweise Begriffe wie "Bild" oder "Roman" in demselben Sinne öffentlich zu nennen sind wie eine Bundestagssitzung oder ein Kirchentag, erscheint zumindest zweifelhaft. Sowohl ideen- als auch realgeschichtlich irritierend ist ferner der Umstand, dass Gerhardt von den fast sechshundert Seiten seines Buches nur rund zwanzig den Risiken und Nebenwirkungen von Öffentlichkeit widmet und dabei die Welt der neuen Medien fast vollständig ausklammert. Stellen die shit storms im Internet tatsächlich nur marginale Phänomene dar?
Diese Bedenken ändern aber nichts daran, dass Gerhardt einen imponierenden philosophischen Entwurf vorgelegt hat. Gelehrsamkeit und Mut vereinigend, beweist das Buch, dass sein Autor aus guten Gründen zu den hervorstechenden Figuren der heutigen deutschen Philosophenzunft gezählt wird. Ein Liberalismus, der so gewinnend daherkommt wie bei Gerhardt, darf auf keinen Fall aus dem Parlament der Gelehrtenrepublik verschwinden.
MICHAEL PAWLIK
Volker Gerhardt: "Öffentlichkeit". Die politische Form des Bewusstseins.
Verlag C. H. Beck, München 2012. 584 S., geb., 39,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Denn die anderen waren immer schon da: Der Berliner Philosoph Volker Gerhardt lässt die liberale Öffentlichkeit philosophisch hochleben
Nach einer Bemerkung Kants vollzieht sich alles Denken "gleichsam in Gemeinschaft mit anderen". Die Begriffe, derer sich der Denkende bedient, sind nämlich nicht sein persönliches Eigentum, sondern Gemeingut, hervorgegangen aus einem Prozess öffentlicher Verständigung. Ebenso wenig wie eine Privatsprache gibt es eine private Begrifflichkeit. Was immer der Einzelne denkend erfasst, mag es auch noch so einzigartig sein, begreift er vielmehr von vornherein anhand allgemeiner Kategorien.
In den Worten des Berliner Philosophen Volker Gerhardt ist der einzelne Mensch aus diesem Grund "nicht nur als Vertreter seiner Spezies und als Repräsentant seiner Kultur, sondern selbst noch in seinem Selbstverhältnis als Individuum ein exemplarischer Fall öffentlich wirksamer Einsichten". Sogar wenn er allein mit sich zu Rate gehe, habe er sich deshalb als Homo publicus zu verstehen, wohlwissend, dass er auch seine geheimsten Gedanken nur haben könne, weil sie in Form und Gehalt öffentlich verständlich seien.
Vor dem Forum einer internalisierten Öffentlichkeit agiert nach Gerhardt nicht nur, wer die Welt und sich selbst denkend zu begreifen sucht, sondern auch, wer mit einem moralischen Problem ringt. Zwar ist der Einzelne hier im Ausgangspunkt mit sich allein. Es ist seine individuelle Frage, die ihn umtreibt, und er muss mit der Entscheidung leben, die er schließlich trifft. Zu einer akzeptablen Antwort gelangt er Gerhardt zufolge jedoch nur, indem er aus sich herausgeht und in eine öffentliche Sphäre überwechselt. Mit Kant gesprochen, müsse er sich reflektierend an alle anderen, die er als seinesgleichen begreife, wenden. Nur solche Handlungen dürfe er sich zur Pflicht machen, die Gegenstand des Wollens aller anderen sein könnten, sofern sie sich in vergleichbarer Lage befänden. "Man könnte sagen, dass die Vernunft den Prozess öffentlicher Prüfung in sich hineinverlegt, um zu einem Vielen und vielem angemessenen Urteil zu gelangen."
Sowohl die theoretische als auch die praktische Vernunft des Menschen ist laut Gerhardt demnach als eine "elementare Form von Öffentlichkeit" zu verstehen. Umgekehrt sei Öffentlichkeit als der Raum, in dem sich die Menschen über ihre Absichten verständigen und über die Ziele ihres Handelns gewaltlos einigen könnten, nichts anderes als "eine ins gesellschaftliche Ganze ausgestülpte Vernunft". Sie erweitere den Wahrnehmungshorizont einer Gesellschaft, verbessere die Kenntnis der Lage, schärfe das Urteil über die bestehenden Interessengegensätze, korrigiere Fehleinschätzungen, kläre die rechtlichen Voraussetzungen und biete den Akteuren die Möglichkeit, im Kampf um ihren Vorteil die sachlichen Lösungen nicht zu vergessen.
Die Vernünftigkeit gesellschaftlicher und namentlich politischer Entscheidungsverfahren werde deshalb durch nichts so wirksam gefördert wie durch die Existenz einer unbehinderten Öffentlichkeit. Wie Gerhardt mit geradezu aufklärerischer Verve formuliert, sei sie "der Raum, in dem sich alle Kenntnisse bilden und verbreiten, in dem sich die Irrtümer erweisen und die Wahrheit ans Licht gelangt". Zwar sei nicht bewiesen, dass die Menge über mehr Vernunft verfüge als der Einzelne. Gleichwohl biete die über die Öffentlichkeit ermöglichte Partizipation - eben durch die Beteiligung vieler Köpfe - eine statistisch steigende Chance für die Entdeckung von Fehlern sowie für die Berücksichtigung einer größeren Zahl von Gesichtspunkten.
Angesichts ihrer vernunftanalogen Leistungen darf nach Gerhardts Auffassung mit der Öffentlichkeit nicht anders umgegangen werden als mit der menschlichen Individualfreiheit. "Wir haben sie zu fördern und zu stützen, so weit es nur geht. Sie ist eine wesentliche Bedingung der Entfaltung der humanen Kräfte."
Vor dem Hintergrund dieses klassisch liberalen Verständnisses übt Gerhardt scharfe, aber treffende Kritik an Habermas' Konzeption einer "deliberativen Öffentlichkeit". Indem diese Auffassung öffentliche Diskurse an den Strick mannigfaltiger Kautelen und Kriterien zu legen suche, sei sie ungeachtet ihrer kritischen Attitüde Ausdruck einer halbierten Rationalität, die Kritik nur gelten lasse, solange man sie selber äußere. Gegenüber der Furcht der Diskurstheoretiker vor einer Öffentlichkeit, deren Teilnehmer weniger aufgeklärt sind als sie selbst, plädiert Gerhardt für vertrauensvolle Zurückhaltung: "Nach allem, was wir über die Ausbreitung des Wissens bei vielen Menschen wissen, erfolgt die kritische Prüfung schon von selbst - insbesondere dann, wenn für Widerspruch gesorgt ist. Also genügt es, Zugänglichkeit und Offenheit herzustellen. Folglich reichen die Kriterien der Freiheit und der Gleichheit aus, die jedem Teilnehmer an öffentlichen Diskursen zuzugestehen sind. Wer mehr will, wird weniger erreichen."
Die Öffentlichkeitskonzeption Gerhardts ist das Produkt einer eigenwilligen Verknüpfung heterogener philosophischer Traditionslinien. So kombiniert Gerhardt Kants kritische Philosophie mit Wittgensteins Privatsprachenargument. Die auf Platon verweisende These einer strukturellen Gleichartigkeit von öffentlichem und privatem Bewusstsein verbindet er mit einem Bekenntnis zu dem wohl vehementesten Platonkritiker des vorigen Jahrhunderts: Karl Popper, im heutigen philosophischen juste milieu allenfalls noch mit spöttisch emporgezogenen Augenbrauen erwähnt, habe die Rolle der Öffentlichkeit bislang am eindringlichsten und zukunftsträchtigsten erörtert. Passt das alles zusammen? Im Großen und Ganzen wohl ja - freilich nur, weil "Öffentlichkeit" bei Gerhardt trotz einer Vielzahl wortreicher Umschreibungen weniger als ein scharf konturierter Begriff, sondern eher als eine Art von Passepartout fungiert, flexibel genug, um eine Vielzahl unterschiedlicher Sachverhalte zu erfassen. Ob beispielsweise Begriffe wie "Bild" oder "Roman" in demselben Sinne öffentlich zu nennen sind wie eine Bundestagssitzung oder ein Kirchentag, erscheint zumindest zweifelhaft. Sowohl ideen- als auch realgeschichtlich irritierend ist ferner der Umstand, dass Gerhardt von den fast sechshundert Seiten seines Buches nur rund zwanzig den Risiken und Nebenwirkungen von Öffentlichkeit widmet und dabei die Welt der neuen Medien fast vollständig ausklammert. Stellen die shit storms im Internet tatsächlich nur marginale Phänomene dar?
Diese Bedenken ändern aber nichts daran, dass Gerhardt einen imponierenden philosophischen Entwurf vorgelegt hat. Gelehrsamkeit und Mut vereinigend, beweist das Buch, dass sein Autor aus guten Gründen zu den hervorstechenden Figuren der heutigen deutschen Philosophenzunft gezählt wird. Ein Liberalismus, der so gewinnend daherkommt wie bei Gerhardt, darf auf keinen Fall aus dem Parlament der Gelehrtenrepublik verschwinden.
MICHAEL PAWLIK
Volker Gerhardt: "Öffentlichkeit". Die politische Form des Bewusstseins.
Verlag C. H. Beck, München 2012. 584 S., geb., 39,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main