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Die kontroversen Diskussionen um die Reform des Gesundheitswesens in Deutschland sind durch einen grundsätzlichen Antagonismus zwischen ökonomischem Effizienzdenken und moralischen Ansprüchen geprägt.
Diese Diskussionslage verlangt nach einer gründlicheren Reflexion des Verhältnisses von ökonomischen und ethischen Kategorien. Grundsätzlich besteht hier nämlich kein zwingender Gegensatz. So kann durchaus in bestimmten Kontexten von einer moralischen Verpflichtung zu effizientem Handeln gesprochen werden, während andererseits effiziente Handlungsstrategien durch eine "kluge" Rücksichtnahme…mehr

Produktbeschreibung
Die kontroversen Diskussionen um die Reform des Gesundheitswesens in Deutschland sind durch einen grundsätzlichen Antagonismus zwischen ökonomischem Effizienzdenken und moralischen Ansprüchen geprägt.

Diese Diskussionslage verlangt nach einer gründlicheren Reflexion des Verhältnisses von ökonomischen und ethischen Kategorien. Grundsätzlich besteht hier nämlich kein zwingender Gegensatz. So kann durchaus in bestimmten Kontexten von einer moralischen Verpflichtung zu effizientem Handeln gesprochen werden, während andererseits effiziente Handlungsstrategien durch eine "kluge" Rücksichtnahme auf moralische Normen ausgezeichnet sein können.
Der Band versucht, die antagonistische Frontstellung zu überwinden, indem die begrenzte Berechtigung und Komplementarität ökonomischer und ethischer Kategorien aus ökonomischer, juristischer, medizinischer und ethischer Sicht aufgewiesen werden.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.12.2009

Die letzten dreißig Tage sind die teuersten

Dieser Band schaltet sich in die Debatte um ein hochbrisantes Thema ein: die Rationierung medizinischer Leistungen. Warum es nicht unanständig ist, das Leben unter Kostengesichtspunkten abzuwägen.

Mit seiner Eröffnungsrede zum Deutschen Ärztetag sorgte Jörg-Dietrich Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer, vor einigen Monaten für einen veritablen Skandal. Mangelversorgung sei, so Hoppe, bereits im heutigen deutschen Gesundheitssystem Realität. Künftig werde sich die Schere zwischen dem medizinisch Möglichen und dem Bezahlbaren noch weiter öffnen. Deshalb müsse in Deutschland endlich offen darüber diskutiert werden, was mit dem zur Verfügung gestellten Geld machbar sei und auf welche Behandlungsoptionen aus Kostengründen verzichtet werden müsse. Die politischen Reaktionen auf diesen Appell erschöpften sich zumeist in persönlichen Angriffen gegen den Mahner. Hoppes Ausführungen seien ziemlich menschenverachtend, befand etwa die damalige Bundesgesundheitsministerin.

Dabei wissen Patienten, die anders als die Mehrzahl der Bundestagsabgeordneten nicht die Segnungen einer privaten Krankenversicherung genießen, nur allzu gut, dass schon gegenwärtig Gesundheitsleistungen in beachtlichem Umfang rationiert sind. Teilweise geschieht dies offen, etwa durch die Herausnahme bestimmter Diagnose- und Therapieverfahren aus dem Leistungskatalog der Kassen. Nicht selten aber wird auch eine verdeckte Rationierung praktiziert, indem medizinisch sinnvolle Maßnahmen stillschweigend unterlassen werden. Weitgehend unstrittig ist zwischen Fachleuten auch, dass die Rationierungszwänge sich in Zukunft noch erheblich verschärfen werden.

Paradoxerweise macht die moderne Medizin die Menschen im Durchschnitt nämlich nicht gesünder, sondern eher kränker. Nach dem Wort eines erfahrenen Klinikarztes war der Patient früher nach einer Woche entweder gesund oder tot. Heute verfügt die Medizin dagegen über ein großes Arsenal an Abwehrwaffen, die die Patienten zwar am Leben erhalten, sie aber nicht gesund machen. Deshalb werden die Menschen heute zwar zumeist deutlich älter als früher, aber ihre Behandlungskosten schießen in ihrem letzten Lebensabschnitt steil in die Höhe. Da zugleich die Zahl nachwachsender Beitragszahler abnimmt, ist eine Zuspitzung des Konflikts unvermeidlich.

Rationierungsfragen sind Gerechtigkeitsfragen und damit, wie man meinen möchte, ein attraktives Thema für die Philosophie. Die politischen Philosophen hierzulande haben sich indessen, von wenigen Ausnahmen wie Wolfgang Kersting abgesehen, bislang vor einer vertieften Auseinandersetzung mit der Rationalisierungsproblematik gedrückt. Verantwortlich dafür sind vermutlich zum einen karrierestrategische Überlegungen; wer begibt sich schon gern auf politisch vermintes Terrain?

Zum anderen dürfte nach einem Hinweis Annemarie Gethmann-Sieferts die Dominanz der kantischen Philosophie eine Abneigung dagegen geschürt haben, das Leben des Vernunftwesens Mensch unter banalen Kostengesichtspunkten zu bewerten. Wer derartige Bewertungen als per se würdeverletzend brandmarkt, übersieht freilich, dass es sich dabei um alltägliche Vorgänge handelt. So wird bei der Regulierung gefahrenträchtiger Tätigkeiten ganz selbstverständlich zwischen den Kosten, die eine Anhebung der maßgeblichen Sicherheitsstandards nach sich ziehen würde, und dem dadurch zu erwartenden Nutzen abgewogen. Opfer bis hin zu Todesfällen werden also sehenden Auges hingenommen, wenn der Aufwand zu ihrer Vermeidung als zu groß erscheint. Entgegen einer unter Moralphilosophen beliebten Verschwörungstheorie liegt darin nicht einfach ein Sieg des Ökonomen über den Ethiker. Zu Recht hebt Carl-Friedrich Gethmann hervor, dass wirtschaftlicher Wohlstand eine ethisch positiv ausgezeichnete Kategorie ist; wie sollten ansonsten all die Wohltaten bezahlt werden, die die zahlreichen Gleichheitsfreunde unter den Philosophen fordern?

Die Rationierung von Gesundheitsleistungen ist also nicht von vornherein verwerflich. Unakzeptabel ist es aber, sie verdeckt geschehen zu lassen. Dadurch werden einerseits die Patienten für dumm verkauft, und andererseits wird der Entscheidungsdruck und mit ihm auch das zivilrechtliche Haftungs- sowie das Strafbarkeitsrisiko einseitig auf die Ärzte am Krankenbett und in der Praxis verlagert. Zu Recht heben Georg Marckmann und Uwe Siebert hervor, dass es im Rahmen eines öffentlichen Gesundheitswesens letztlich eine gesellschaftliche Entscheidung sei, wie viel Geld für ein zusätzliches, wie es im Jargon heißt, "qualitätsbereinigtes" Lebensjahr höchstens ausgegeben werden solle. "Aus Gründen der Gleichbehandlung sollte das Kosten-Nutzwert-Verhältnis eher in Form von kostensensiblen Versorgungsstandards Berücksichtigung finden als im Rahmen notwendig subjektiv gefärbter Einzelfallentscheidungen durch die Leistungserbringer."

Welche Kriterien sollen insoweit maßgebend sein? Steuert man den Einsatz der verfügbaren Ressourcen ausschließlich anhand der Frage, wie sich insgesamt ein Maximum an qualitätsbereinigten Lebensjahren erzielen lasse, so legt man sich - Martin Kolmar weist in seinem Beitrag darauf hin - auf eine lupenreine utilitaristische Konzeption fest. Wie Marckmann und Siebert zutreffend hervorheben, bedeutet dies insbesondere, "dass alle gewonnenen qualitätskorrigierten Lebensjahre gleich gewichtet werden, unabhängig davon, wem sie zugutekommen und in welchem Lebensabschnitt dies geschieht. Die Gewinne an Lebensqualität und -quantität für Schwerkranke haben kein erhöhtes Gewicht." Zu einer derart abstrakten Sicht der menschlichen Dinge ist in der deutschen medizinethischen Diskussion niemand bereit.

Nicht weniger einseitig ist es allerdings, ausschließlich auf die individuelle Dringlichkeit einer Behandlung abzustellen. Auch das dringlichste Anliegen verliert an Bedeutung, wenn der Zugewinn an halbwegs qualitätvoller Lebenszeit, der durch seine Befriedigung erreicht werden kann, in einem unübersehbaren Missverhältnis zu den Kosten steht. Einer amerikanischen Untersuchung zufolge belaufen sich die Aufwendungen für die letzten 180 Lebenstage auf etwa drei Viertel der lebenslangen Gesundheitskosten, davon entfallen 30 Prozent auf die letzten 30 Lebenstage. Die Zahlen in Deutschland sehen vermutlich ähnlich aus.

Ob es auf die Dauer bei diesem Zustand bleiben soll und welche Veränderungen der Versorgungsintensität in der letzten Lebensphase unter Umständen diskutabel wären, dies sind Fragen, die nicht dadurch gegenstandslos werden, dass es verbreitet als unanständig gilt, sie überhaupt aufzuwerfen.

Von Marckmann und Siebert lässt sich die Medizinethik darüber belehren, dass "das relative Gewicht der Verteilungskriterien aus keiner ethischen Metatheorie abgeleitet werden kann, sondern im Rahmen demokratisch legitimierter Entscheidungsprozesse in Einklang mit den Präferenzen der Bevölkerung herausgearbeitet werden muss". Die Medizinethik hat dabei klärend zu wirken, indem sie die konzeptionellen Voraussetzungen der einzelnen Kriterien sowie ihre Konsequenzen herausarbeitet. Zuvörderst aber hat sie die Politik darauf hinzuweisen, dass ein weiteres Wegducken unverantwortlich wäre. Der vorliegende Band geht mit gutem Beispiel voran.

MICHAEL PAWLIK

Annemarie Gethmann-Siefert/Felix Thiele (Hrsg.): "Ökonomie und Medizinethik". Wilhelm Fink Verlag, München 2008. 308 S., br., 39,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Daran, dass Rationierungsfragen Gerechtigkeitsfragen sind und damit auch ein Gegenstand der Philosophie, hat der Rezensenten keinen Zweifel. Verwundert ist er darum, dass die Rationalisierungsproblematik kaum vertiefte Beachtung findet. "Politisch vermintes Terrain", vermutet Michael Pawlik. Vorbildlich also, meint Pawlik, wenn ein Band wie der vorliegende, von Annemarie Gethmann-Siefert und Felix Thiele herausgegebene es einmal unternimmt, vom medizinethischen Standpunkt her Kriterien und Konsequenzen innerhalb der klandestinen Vorgänge um rationierte Gesundheitsleistungen herauszuarbeiten.

© Perlentaucher Medien GmbH