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Produktdetails
  • Heyne Sachbuch
  • Verlag: Heyne
  • Seitenzahl: 576
  • Gewicht: 485g
  • ISBN-13: 9783453163430
  • Artikelnr.: 24062622
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.12.1998

Hol's der Krampus!
Der Historiker Gordon Brook-Shepherd kennt Habsburger von Angesicht zu Angesicht, nur ihre Unterlippe nicht

Lesen habe ich im Alter von etwa vier Jahren mit einem Asterix-Album gelernt, und während ein paar Jahren meiner frühesten Kindheit habe ich sehr viel Zeit bei meiner Großmutter auf dem Land verbracht. Einmal, da hat meine andere Oma zu mir gesagt, daß unser Meerschweinchen ihren goldenen Armreif gefressen hätte. Wir wollten das ja nicht glauben, aber doch - der Armreif war weg! Und dann eines Tages . . . doch was hat dies alles in einer Buchbesprechung über ein geschichtliches Werk zu suchen? Wer sich an solchen Passagen stört, sollte nicht in Erwägung ziehen, die letzte Arbeit des Engländers Gordon Brook-Shepherd zu erwerben. Schlechte Bücher zu historischen Themen gibt es ohnehin genug, warum nicht lieber gleich zu einem spannenden Roman greifen?

Wenigstens die Übersetzerin hat recht passable Arbeit geleistet, wenn auch der Originaltitel nicht gar so pompös "The Austrians - A Thousand Year Odyssey" geheißen hat. Aber so mußte daraus "Österreich - Eine tausendjährige Geschichte" werden. Beide Bezeichnungen sind etwa gleich weit vom Inhalt entfernt, aber Titel sind ja, selbst in Österreich, meist Schall und Rauch.

So werden die ersten achthundert Jahre dieses Landes (die tausend Jahre gehen selbstverständlich auf die von Otto III. 996 ausgestellte Schenkungsurkunde für den Bischof von Freising zurück, die Brook-Shepherd hochtrabend als Geburtsurkunde tituliert) auf knappen fünfzig Seiten abgehandelt, schludrig und gleichsam im Überflug. In jeder Überblicksvorlesung des ersten Semesters zur österreichischen Geschichte erhält man solidere Informationen. Schon auf Seite 56 begegnen uns aber Napoleon Bonaparte, der österreichische Kanzler Metternich und der nach Brook-Shepherd "beim Volk sehr beliebte" Kaiser Franz II., spätere I., der Mann, der dem Heiligen Römischen Reich 1806 die Sterbeurkunde ausstellte und dabei eigentlich zum einzigen Male die Formel "deutscher Nation" hinzusetzte (genaugenommen also ein Reich auflöste, das es gar nie gegeben hatte) sowie die Todesstrafe wieder einführte (soviel zu seiner Beliebtheit beim Volke).

Brook-Shepherd wird allerdings nicht müde, die Herrschaftsgebiete der Habsburgerkaiser, für die er offenbar große Verehrung hegt, mal Deutsches Reich, mal Heiliges Römisches Reich und dann wieder Römisches Reich zu nennen. Dieser schlampige Umgang mit Namen und Fakten ist kennzeichnend für das ganze Buch, das zwar über ein Personenregister (immerhin vierzehn Seiten), aber über keinerlei andere nützlichen Indizes, Bibliographien, geschweige denn ein Quellenverzeichnis verfügt. Um der Genauigkeit die Ehre zu geben, in den wenigen Fußnoten sind neben diversen persönlichen Bemerkungen des Autors ("Das schönste [Lied Schuberts] war ,An die Musik' gerichtet, eine Ode an seine eigene Kunst") auch spärliche Literaturverweise enthalten.

Obwohl sich Brook-Shepherd in seinen früheren Werken ("Zita, die letzte Kaiserin" von 1993, siehe F.A.Z. vom 19. April 1993, oder "Monarchien im Abendrot" von 1988) mit den Habsburgern sehr eingehend beschäftigt hat, gelingt es ihm doch, deren hervorstechendstes Degenerationsmerkmal, die geschwollene, überdimensionale Unterlippe (die einen Gesandten der hohen Pforte zu der Bemerkung veranlaßte, der Kaiser der Christen habe freundliche, wäßrige Augen, aber ein Gesicht wie ein Kamel), als Unterkiefer zu bezeichnen.

Ansonsten läßt er aber kein Klischee aus, und obwohl das Buch den Titel "Österreich" trägt, handelt es doch hauptsächlich von den Habsburgern und von Wien. Manchmal auch von Tirol, wenn zum Beispiel Andreas Hofer - dessen fragwürdige Rolle im Dienst von katholischem Klerikalismus und deutschnationalem Heimatverständnis gegen den Geist der Aufklärung nicht einmal ansatzweise angesprochen wird - auf Franzosen und Bayern eindrischt, von einigen Kanzlern und hohen Regierungsbeamten sowie von den Vertretern des sogenannten Ständestaates, welche Bezeichnung sich die klerikal-austrofaschistische Diktatur von 1933 bis 1938 gerne selbst zulegte. Vereinzelt wird auch noch auf die jüdische Bevölkerung Wiens (im Mittelalter bis zur ersten Vernichtung 1420/21 schon recht bedeutend, zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts dann bei etwa einer Viertelmillion gelegen) hingewiesen.

Darüber hinaus bleibt die ganze Historie auf Herrschaftsgeschichte und bisweilen recht einseitige politische Geschichtsschreibung beschränkt. Die Bevölkerung kommt praktisch nicht vor, und viele Fehler sind in den Text eingestreut oder vom Lektorat übersehen worden; so heißt der erste Monat hierzulande "Jänner", und die Kinder werden vom Krampus, einem Verwandten des Teufels, nicht vom Nikolo (in vielen Gebieten Deutschlands sind beide ja zum Knecht Ruprecht vereinigt) bestraft.

Vor allem seine Art, ständig Anekdoten einzustreuen, macht Brook-Shepherds Stil so wenig historisch und so beliebig. Offenbar besteht die Absicht des Autors darin, durch solches Verfahren einen möglicherweise interessanten Stoff der kritischen Betrachtung und Überprüfung zu entziehen. Die meisten seiner Erzählungen über die von ihm erwähnten Personen hat er ja angeblich, worauf das Vorwort hinzuweisen nicht ermüdet, in persönlichen Gesprächen erfahren, besonders durch seine "fast dreißigjährige Freundschaft mit der früheren Kaiserin Zita", und dadurch erhielt er Zugang zu Habsburgs Privatarchiven. Wenn das keine Legitimation ist!

Das Buch hätte ursprünglich eine autobiographische Aufzeichnung von Brook-Shepherds Jahren in Österreich, zuerst beim Alliierten Rat, später als Korrespondent des "Daily Telegraph" in Wien, sein sollen. Dann aber, um die eigene Bedeutung nicht zu sehr aufzuwerten, bestand der Autor darauf, eine Geschichte Österreichs zu schreiben. Wäre er doch beim Vorhaben des Verlags geblieben, hätte er doch nur ein Werk verfaßt, welches nicht mehr zu sein vorgibt als Memoiren, so wäre dies ein Buch gewesen, das man, nachdem man es kopfschüttelnd gelesen hätte, schleunigst in irgendeinem Bücherregal hätte vermodern lassen können.

Der Autor Gordon Brook-Shepherd wurde in Österreich in den letzten Jahren durch seine vielfach kritisierte Biographie über den österreichischen Kurzzeitkanzler Dollfuß bekannt, die er in enger Zusammenarbeit mit dessen Tochter schon in den sechziger Jahren verfaßt hatte. Erst aufgrund der politischen Turbulenzen, welche die Wahl Kurt Waldheims und Jörg Haiders 1986 ausgelöst hatte, wurde es auch in der Alpenrepublik salonfähig, die lange Zeit totgeschwiegene Republik vor dem Zweiten Weltkrieg kontrovers abzuhandeln. Brook-Shepherd tat dies auf ziemlich eindeutige Weise.

Sein profunder Antikommunismus und Antimarxismus treten wie in seinem Buch "The Storm Birds - Soviet Postwar Defectors" (1989) auch in dieser Geschichte Österreichs hervor. Muß er noch einräumen, daß der einzig dauerhaft organisierte Widerstand während der Zeit des Dritten Reiches von Kommunisten ausging und aus ihren Reihen, noch weit vor den viel bekannteren und ebenfalls nicht zu leugnenden katholischen Nazigegnern, die höchste Opferzahl des Widerstands hervorging, so gibt ihm schon der gescheiterte Oktoberstreik von 1950, von rechten Gewerkschaften und der österreichischen Sozialdemokratie niedergeschlagen und stets als sowjetischer Putschversuch verhöhnt, Gelegenheit, auf die ständig drohende Gefahr des Marxismus in Österreich hinzuweisen - eine recht lächerliche Warnung, liegt doch dessen Unterstützung bei Wahlen hierzulande kontinuierlich unter einem Prozent. Die für Österreich entscheidenden, sehr viel verändernden Jahre von 1970 bis 1983 (erste sozialistische Alleinregierung unter Bruno Kreisky) fehlen dagegen fast völlig, obwohl sich Brook-Shepherd auch persönlicher Bekanntschaft mit diesem Kanzler rühmt.

Schön, daß der Autor wenigstens den neuerlichen Anschluß Österreichs, diesmal 1994/95 an die Europäische Union, nach einem beispiellosen Propagandafeldzug der damaligen Koalitionsregierung, der vor keinem Untergriff gegenüber den Gegnern eines solchen Schritts zurückschreckte, positiv einschätzt. Immerhin bilden seitdem die beiden Habsburger Otto und Karl, ebenfalls gute Freunde Brook-Shepherds, die kleinste staatenübergreifende Fraktion in der Union. Auch das Buch ist kein großer Wurf. MARTIN LHOTZKY

Gordon Brook-Shepherd: "Österreich". Eine tausendjährige Geschichte. Aus dem Englischen von Edith Haßlacher. Paul Zsolnay Verlag, Wien 1998. 634 S., geb., 54,- DM.

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