Produktdetails
- Verlag: Wien : Ueberreuter
- ISBN-13: 9783800035311
- Artikelnr.: 05444304
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.03.1996Wer wagt, gewinnt
Roman Sandgruber überzeugt mit seiner Wirtschaftsgeschichte Österreichs vom Mittelalter bis heute
Kommt es einer Volkswirtschaft zupaß, daß ihr erster bedeutender Kapitalimport durch Erpressung ermöglicht wurde? Als Leopold V. den vom Kreuzzug heimkehrenden englischen König Richard Löwenherz 1193 gefangensetzen konnte, forderte der österreichische Herzog ein hohes Lösegeld. 100000 Mark Silber wanderten ein Jahr später in die Kasse Leopolds, der sich seine Beute allerdings mit dem deutschen Kaiser Heinrich VI. zu teilen hatte. Von seinem Anteil finanzierte der Österreicher die Gründung neuer Städte und die Befestigung der schon bestehenden. Ihm selbst frommte sein Frevel gegen den Gottesfrieden wenig. Für die Gefangennahme des kirchengefälligen Kreuzfahrers Richard von England exkommunizierte der Papst den Herzog, der noch im Dezember 1194 vom Pferd stürzte und an den Folgen eines Beinbruchs verschied. Sein Land aber blühte dank der großzügigen Kapitalspritze auf.
Die ökonomische Erfolgsstory Österreichs seit dem frühen Mittelalter ist nun im vierten Band der von Herwig Wolfram herausgegebenen Reihe "Österreichische Geschichte" nachzulesen; Autor des voluminösen Werkes ist der Linzer Wirtschaftshistoriker Roman Sandgruber. Anders als das deutsche Parallelunternehmen des Propyläen-Verlags zeichnet die ebenfalls auf zehn Bände angelegte Reihe des Ueberreuter-Verlags nicht nur in Einzelpublikationen die nach Epochen getrennte Entwicklung eines Staates nach, sondern umfaßt mit dem eben publizierten Band von Sandgruber auch einen Titel, der sich aus der Perspektive eines Teilaspekts - der Wirtschaftsgeschichte - dem gesamten Zeitraum seit der Entstehung der Mark Österreich kurz vor der Jahrtausendwende widmet. Dieses Ziel verlangt natürlich ein ungleich höheres Maß an Synthese und zugleich an Verzicht.
So muß sich Sandgruber, anders als die Autoren der restlichen neun Bände, auf die ökonomische Entwicklung derjenigen Gebiete beschränken, die heute das Staatsgebiet der Republik Österreich bilden, um überhaupt statistische Vergleiche ziehen und Entwicklungslinien aufzeigen zu können. Daher behandelt seine Darstellung anfangs mehr als das bloße Terrain des Herzogtums Österreich - auch das Erzbistum Salzburg, dessen Kerngebiete erst mit dem Reichsdeputationshauptschluß 1803 an die Habsburger fielen, findet eingehende Erörterung. Die außerösterreichischen Besitzungen der Habsburger fehlen hingegen. Ausnahmen bilden die erst nach dem Ersten Weltkrieg verlorenen Teile Tirols und Slowenien, die so eng mit den heute noch österreichischen Ländern verzahnt waren, daß eine Vernachlässigung unmöglich gewesen wäre.
Allerdings beschränkt sich selbst unter dieser Prämisse die Darstellung Sandgrubers auf nicht einmal zehn Prozent des Habsburgerreiches vor dem Ersten Weltkrieg. Die Schwierigkeiten des Ausgleichs mit den nichtdeutschen Nationalitäten im neunzehnten Jahrhundert, die bürokratischen Hemmnisse in der riesigen österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie oder auch die vielfältigen ökonomischen Verquickungen der habsburgischen Länder untereinander müssen deshalb zwangsläufig unterbelichtet bleiben.
Dennoch oder vielleicht auch gerade deswegen hat Sandgruber ein hochinteressantes Werk geschrieben, das dank der Beschränkung auf das heutige Terrain Österreichs viel eingehender die wirtschaftlichen Entwicklungslinien nachzeichnen kann und auch kurze Abschweifungen nicht scheuen muß. So zahlt sich etwa des Autors Spezialwissen auf den Gebieten der Verkehrs- und Tourismusgeschichte aus: Seine Ausführungen zur Popularisierung des Fahrrads, das im letzten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts erstmals auch weniger begüterten Bevölkerungsteilen Mobilität gestattete, und zur vergleichsweise schleppenden Verbreitung des Automobils, für das die Geldaristokratie vor dem Ersten Weltkrieg noch den Gegenwert einer halben Villa opfern mußte, bieten nicht nur einen sozialgeschichtlichen Blick auf Klassengegensätze, sondern auch auf geschlechtsspezifische Sonderwege: Schrieb das Automobil die strikte Trennung zwischen dem mobilen Mann und der an Heim und Herd gebundenen Frau fort - 1912 standen den 7275 Männern mit Führerschein in Wien nur 25 geprüfte Fahrerinnen gegenüber -, so ermöglichte der Siegeszug des Fahrrads eine weibliche Revolution in Büros und Ämtern. In der neu entstehenden Schicht der Angestellten waren die nun ebenfalls mobilen Frauen so stark vertreten, daß ein 1894 abgehaltener Kongreß österreichischer Handelsangestellter die "Beseitigung" der weiblichen Konkurrenz auf der Tagesordnung hatte.
Das Fin de siècle sah allerdings bereits ein Österreich, das den Anschluß an die hochindustrialisierten Staaten Europas weitgehend verloren hatte. Bis zum Beginn des neunzehnten Jahrhunderts hatte sich das Land dank des alpinen Reichtums an Bodenschätzen, Holz und Wasserenergie an die Spitze der wirtschaftlichen Entwicklung setzen können. Die Einführung stehender Heere im Dreißigjährigen Krieg schuf nicht nur eine kontinuierliche Nachfrage nach standardisierten Gütern wie Uniformen und Waffen, die eine Mechanisierung der Produktion begünstigte, sondern die Armee fungierte auch als Wegbereiterin der Arbeitsdisziplin - Kasernen und Manufakturen entstanden zeitgleich.
Seine letzte Blüte verdankte das Habsburgerreich der napoleonischen Kontinentalsperre, die den europäischen Markt vor den Produkten der innovativen britischen Wirtschaft verschloß. Nach dem Wiener Kongreß erreichte Österreich zwar den Höhepunkt seiner politischen Macht, mußte jedoch vor der neuen Konkurrenz des industrialisierten Englands kapitulieren. Neue Entwicklungen wurden verschlafen: Die ersten österreichischen Dampfmaschinen betrieben keine Produktionsmittel, sondern Wasserspiele und Aufzüge in den Fürstengärten der Monarchie - Plutokraten verstehen etwas von den Genüssen des Lebens. Zudem erschwerten Berge und Fließrichtung der Donau den verkehrstechnischen Anschluß an die neuen Wachstumsmärkte in Europa.
Wie der politische Triumph Österreichs 1815 den ökonomischen Niedergang eingeleitet hatte, so folgte auf die Niederlage im deutschen Machtkampf mit Preußen 1866 ein wirtschaftlicher Wiederaufstieg. Die neue Sicherheit, die das Ende des Engagements der Habsburger in Deutschland sowie der 1867 erzielte Ausgleich zwischen Österreich und Ungarn für Handel und Industrie gewährleisteten, ließ die Ökonomie der Donaumonarchie aufblühen. Erst der große Börsenkrach von 1873 beendete die Hoffnungen auf eine Aufholjagd gegenüber den besser entwickelten westlichen Nachbarn. Die folgende Depression trug dann wesentlich zur Herausbildung korporativer Strukturen wie Handwerkerverbände und Genossenschaften bei, die den bestehenden Ständestaat zementierten.
Nach dem Zusammenbruch von 1918 behielt Österreich zwar einen verhältnismäßig großen Anteil an Produktionskapazitäten und Bodenschätzen, doch mit der Lösung der slawischen und ungarischen Länder von Wien wurde auch das tradierte Wirtschaftssystem zerstückelt. Die Hauptstadt der jungen Republik war überdimensioniert, da Wien auf die Verwaltung eines Fünfzig-Millionen-Reiches ausgerichtet war. Österreich umfaßte aber nicht einmal mehr sieben Millionen Bewohner. Inflation und Wirtschaftskrise umrahmen eine kurze Phase der Prosperität in den zwanziger Jahren, die aber das Mißtrauen gegenüber dem Fortschritt nicht ausräumen konnte. Angesichts der katastrophalen Arbeitslosigkeit der dreißiger Jahre und der Spaltung des Landes in das "rote Wien" und die eher konservativen ländlichen Gebiete begrüßten weite Kreise zunächst die Wiederherstellung des autoritären Ständestaats durch Bundeskanzler Dollfuß, der die Differenzen zu unterdrücken versuchte, und dann den Anschluß an das nationalsozialistische Deutschland. Die Nazis begannen augenblicklich mit der öffentlichkeitswirksamen Grundsteinlegung für Industrieunternehmen und Autobahnen, doch profitierte Österreich vor allem durch den Krieg, der die Verlagerung großer Produktionsanlagen in den als sicher empfundenen Alpenraum nach sich zog.
Der Sieg der Alliierten über Deutschland bescherte auch dem wieder selbständigen Österreich vier Besatzungszonen und die entsprechend unterschiedlichen ökonomischen Entwicklungen. Das einst wirtschaftlich dominierende, jetzt sowjetisch besetzte Niederösterreich verlor seine Führungsrolle an die westlichen Bundesländer. Der Rückgewinn der vollen staatlichen Souveränität 1955 verhinderte jedoch eine den deutschen Verhältnissen vergleichbare Spaltung des Landes. Die Vollendung oder Weiterführung von nationalsozialistischen Projekten ebnete im Verbund mit massiver Nahrungs-und Marshallhilfe aus den USA den Weg Österreichs zu einem beispiellosen ökonomischen Aufstieg. Nur die Bundesrepublik Deutschland erzielte in den fünfziger Jahren vergleichbare Wachstumsraten.
Bis zur Aufnahme Österreichs in die Europäische Union am 1. Januar 1995 reicht Sandgrubers Darstellung, und just in seiner Analyse der Gegenwart gewinnt sie ihr Glanzlicht. Ist für den Autor der "wirtschaftliche Basiskonflikt der Ersten Republik" in den dreißiger Jahren "die Auseinandersetzung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern um ein nur unzureichendes Sozialprodukt", so konnte die Zweite Republik nach 1945 diese Frage lösen - durch die Wende zum Sozialstaat, der allerdings heute neue Probleme generiert.
Sandgruber skizziert selbstverständlich keine Lösungen, doch seine Analyse der Lage ist detailliert und aufschlußreich. Ob seine optimistische Prognose, daß sich Österreich auf einem langfristigen Wachstumspfad befinde, der zeitweise unterbrochen und dafür später überkompensiert worden sei, mehr Plausibilität besitzt als die konkurrierende Ansicht vom singulären zwanzigsten Jahrhundert, scheint allerdings zweifelhaft.
Dennoch liegt gerade die Stärke von Sandgrubers Buch in seiner Präsentation übersäkularer Trends und Entwicklungen, die jenseits politischer Systeme Kontinuitäten erkennen lassen, die aussagekräftiger sind als etwa der Mythos von der verschworenen Nachkriegsgesellschaft. Der Titel des Werks - "Ökonomie und Politik" - ist treffend, obwohl politische Wegmarken wie die Türkenkriege, Revolution oder Ständestaat nur gestreift werden. Desto ausführlicher widmet sich Sandgruber in seiner vorzüglich lesbaren Studie den politischen Rahmenbedingungen des Wirtschaftens. Diesbezüglich ist sein Buch eine reich sprudelnde Quelle, die nach Abschluß der Reihe zur österreichischen Geschichte die einzelnen Epochenbände aufs schönste ergänzen wird. ANDREAS PLATTHAUS
Roman Sandgruber: "Ökonomie und Politik". Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Verlag Carl Ueberreuter, Wien 1995. 669 S., Abb., geb., 89,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Roman Sandgruber überzeugt mit seiner Wirtschaftsgeschichte Österreichs vom Mittelalter bis heute
Kommt es einer Volkswirtschaft zupaß, daß ihr erster bedeutender Kapitalimport durch Erpressung ermöglicht wurde? Als Leopold V. den vom Kreuzzug heimkehrenden englischen König Richard Löwenherz 1193 gefangensetzen konnte, forderte der österreichische Herzog ein hohes Lösegeld. 100000 Mark Silber wanderten ein Jahr später in die Kasse Leopolds, der sich seine Beute allerdings mit dem deutschen Kaiser Heinrich VI. zu teilen hatte. Von seinem Anteil finanzierte der Österreicher die Gründung neuer Städte und die Befestigung der schon bestehenden. Ihm selbst frommte sein Frevel gegen den Gottesfrieden wenig. Für die Gefangennahme des kirchengefälligen Kreuzfahrers Richard von England exkommunizierte der Papst den Herzog, der noch im Dezember 1194 vom Pferd stürzte und an den Folgen eines Beinbruchs verschied. Sein Land aber blühte dank der großzügigen Kapitalspritze auf.
Die ökonomische Erfolgsstory Österreichs seit dem frühen Mittelalter ist nun im vierten Band der von Herwig Wolfram herausgegebenen Reihe "Österreichische Geschichte" nachzulesen; Autor des voluminösen Werkes ist der Linzer Wirtschaftshistoriker Roman Sandgruber. Anders als das deutsche Parallelunternehmen des Propyläen-Verlags zeichnet die ebenfalls auf zehn Bände angelegte Reihe des Ueberreuter-Verlags nicht nur in Einzelpublikationen die nach Epochen getrennte Entwicklung eines Staates nach, sondern umfaßt mit dem eben publizierten Band von Sandgruber auch einen Titel, der sich aus der Perspektive eines Teilaspekts - der Wirtschaftsgeschichte - dem gesamten Zeitraum seit der Entstehung der Mark Österreich kurz vor der Jahrtausendwende widmet. Dieses Ziel verlangt natürlich ein ungleich höheres Maß an Synthese und zugleich an Verzicht.
So muß sich Sandgruber, anders als die Autoren der restlichen neun Bände, auf die ökonomische Entwicklung derjenigen Gebiete beschränken, die heute das Staatsgebiet der Republik Österreich bilden, um überhaupt statistische Vergleiche ziehen und Entwicklungslinien aufzeigen zu können. Daher behandelt seine Darstellung anfangs mehr als das bloße Terrain des Herzogtums Österreich - auch das Erzbistum Salzburg, dessen Kerngebiete erst mit dem Reichsdeputationshauptschluß 1803 an die Habsburger fielen, findet eingehende Erörterung. Die außerösterreichischen Besitzungen der Habsburger fehlen hingegen. Ausnahmen bilden die erst nach dem Ersten Weltkrieg verlorenen Teile Tirols und Slowenien, die so eng mit den heute noch österreichischen Ländern verzahnt waren, daß eine Vernachlässigung unmöglich gewesen wäre.
Allerdings beschränkt sich selbst unter dieser Prämisse die Darstellung Sandgrubers auf nicht einmal zehn Prozent des Habsburgerreiches vor dem Ersten Weltkrieg. Die Schwierigkeiten des Ausgleichs mit den nichtdeutschen Nationalitäten im neunzehnten Jahrhundert, die bürokratischen Hemmnisse in der riesigen österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie oder auch die vielfältigen ökonomischen Verquickungen der habsburgischen Länder untereinander müssen deshalb zwangsläufig unterbelichtet bleiben.
Dennoch oder vielleicht auch gerade deswegen hat Sandgruber ein hochinteressantes Werk geschrieben, das dank der Beschränkung auf das heutige Terrain Österreichs viel eingehender die wirtschaftlichen Entwicklungslinien nachzeichnen kann und auch kurze Abschweifungen nicht scheuen muß. So zahlt sich etwa des Autors Spezialwissen auf den Gebieten der Verkehrs- und Tourismusgeschichte aus: Seine Ausführungen zur Popularisierung des Fahrrads, das im letzten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts erstmals auch weniger begüterten Bevölkerungsteilen Mobilität gestattete, und zur vergleichsweise schleppenden Verbreitung des Automobils, für das die Geldaristokratie vor dem Ersten Weltkrieg noch den Gegenwert einer halben Villa opfern mußte, bieten nicht nur einen sozialgeschichtlichen Blick auf Klassengegensätze, sondern auch auf geschlechtsspezifische Sonderwege: Schrieb das Automobil die strikte Trennung zwischen dem mobilen Mann und der an Heim und Herd gebundenen Frau fort - 1912 standen den 7275 Männern mit Führerschein in Wien nur 25 geprüfte Fahrerinnen gegenüber -, so ermöglichte der Siegeszug des Fahrrads eine weibliche Revolution in Büros und Ämtern. In der neu entstehenden Schicht der Angestellten waren die nun ebenfalls mobilen Frauen so stark vertreten, daß ein 1894 abgehaltener Kongreß österreichischer Handelsangestellter die "Beseitigung" der weiblichen Konkurrenz auf der Tagesordnung hatte.
Das Fin de siècle sah allerdings bereits ein Österreich, das den Anschluß an die hochindustrialisierten Staaten Europas weitgehend verloren hatte. Bis zum Beginn des neunzehnten Jahrhunderts hatte sich das Land dank des alpinen Reichtums an Bodenschätzen, Holz und Wasserenergie an die Spitze der wirtschaftlichen Entwicklung setzen können. Die Einführung stehender Heere im Dreißigjährigen Krieg schuf nicht nur eine kontinuierliche Nachfrage nach standardisierten Gütern wie Uniformen und Waffen, die eine Mechanisierung der Produktion begünstigte, sondern die Armee fungierte auch als Wegbereiterin der Arbeitsdisziplin - Kasernen und Manufakturen entstanden zeitgleich.
Seine letzte Blüte verdankte das Habsburgerreich der napoleonischen Kontinentalsperre, die den europäischen Markt vor den Produkten der innovativen britischen Wirtschaft verschloß. Nach dem Wiener Kongreß erreichte Österreich zwar den Höhepunkt seiner politischen Macht, mußte jedoch vor der neuen Konkurrenz des industrialisierten Englands kapitulieren. Neue Entwicklungen wurden verschlafen: Die ersten österreichischen Dampfmaschinen betrieben keine Produktionsmittel, sondern Wasserspiele und Aufzüge in den Fürstengärten der Monarchie - Plutokraten verstehen etwas von den Genüssen des Lebens. Zudem erschwerten Berge und Fließrichtung der Donau den verkehrstechnischen Anschluß an die neuen Wachstumsmärkte in Europa.
Wie der politische Triumph Österreichs 1815 den ökonomischen Niedergang eingeleitet hatte, so folgte auf die Niederlage im deutschen Machtkampf mit Preußen 1866 ein wirtschaftlicher Wiederaufstieg. Die neue Sicherheit, die das Ende des Engagements der Habsburger in Deutschland sowie der 1867 erzielte Ausgleich zwischen Österreich und Ungarn für Handel und Industrie gewährleisteten, ließ die Ökonomie der Donaumonarchie aufblühen. Erst der große Börsenkrach von 1873 beendete die Hoffnungen auf eine Aufholjagd gegenüber den besser entwickelten westlichen Nachbarn. Die folgende Depression trug dann wesentlich zur Herausbildung korporativer Strukturen wie Handwerkerverbände und Genossenschaften bei, die den bestehenden Ständestaat zementierten.
Nach dem Zusammenbruch von 1918 behielt Österreich zwar einen verhältnismäßig großen Anteil an Produktionskapazitäten und Bodenschätzen, doch mit der Lösung der slawischen und ungarischen Länder von Wien wurde auch das tradierte Wirtschaftssystem zerstückelt. Die Hauptstadt der jungen Republik war überdimensioniert, da Wien auf die Verwaltung eines Fünfzig-Millionen-Reiches ausgerichtet war. Österreich umfaßte aber nicht einmal mehr sieben Millionen Bewohner. Inflation und Wirtschaftskrise umrahmen eine kurze Phase der Prosperität in den zwanziger Jahren, die aber das Mißtrauen gegenüber dem Fortschritt nicht ausräumen konnte. Angesichts der katastrophalen Arbeitslosigkeit der dreißiger Jahre und der Spaltung des Landes in das "rote Wien" und die eher konservativen ländlichen Gebiete begrüßten weite Kreise zunächst die Wiederherstellung des autoritären Ständestaats durch Bundeskanzler Dollfuß, der die Differenzen zu unterdrücken versuchte, und dann den Anschluß an das nationalsozialistische Deutschland. Die Nazis begannen augenblicklich mit der öffentlichkeitswirksamen Grundsteinlegung für Industrieunternehmen und Autobahnen, doch profitierte Österreich vor allem durch den Krieg, der die Verlagerung großer Produktionsanlagen in den als sicher empfundenen Alpenraum nach sich zog.
Der Sieg der Alliierten über Deutschland bescherte auch dem wieder selbständigen Österreich vier Besatzungszonen und die entsprechend unterschiedlichen ökonomischen Entwicklungen. Das einst wirtschaftlich dominierende, jetzt sowjetisch besetzte Niederösterreich verlor seine Führungsrolle an die westlichen Bundesländer. Der Rückgewinn der vollen staatlichen Souveränität 1955 verhinderte jedoch eine den deutschen Verhältnissen vergleichbare Spaltung des Landes. Die Vollendung oder Weiterführung von nationalsozialistischen Projekten ebnete im Verbund mit massiver Nahrungs-und Marshallhilfe aus den USA den Weg Österreichs zu einem beispiellosen ökonomischen Aufstieg. Nur die Bundesrepublik Deutschland erzielte in den fünfziger Jahren vergleichbare Wachstumsraten.
Bis zur Aufnahme Österreichs in die Europäische Union am 1. Januar 1995 reicht Sandgrubers Darstellung, und just in seiner Analyse der Gegenwart gewinnt sie ihr Glanzlicht. Ist für den Autor der "wirtschaftliche Basiskonflikt der Ersten Republik" in den dreißiger Jahren "die Auseinandersetzung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern um ein nur unzureichendes Sozialprodukt", so konnte die Zweite Republik nach 1945 diese Frage lösen - durch die Wende zum Sozialstaat, der allerdings heute neue Probleme generiert.
Sandgruber skizziert selbstverständlich keine Lösungen, doch seine Analyse der Lage ist detailliert und aufschlußreich. Ob seine optimistische Prognose, daß sich Österreich auf einem langfristigen Wachstumspfad befinde, der zeitweise unterbrochen und dafür später überkompensiert worden sei, mehr Plausibilität besitzt als die konkurrierende Ansicht vom singulären zwanzigsten Jahrhundert, scheint allerdings zweifelhaft.
Dennoch liegt gerade die Stärke von Sandgrubers Buch in seiner Präsentation übersäkularer Trends und Entwicklungen, die jenseits politischer Systeme Kontinuitäten erkennen lassen, die aussagekräftiger sind als etwa der Mythos von der verschworenen Nachkriegsgesellschaft. Der Titel des Werks - "Ökonomie und Politik" - ist treffend, obwohl politische Wegmarken wie die Türkenkriege, Revolution oder Ständestaat nur gestreift werden. Desto ausführlicher widmet sich Sandgruber in seiner vorzüglich lesbaren Studie den politischen Rahmenbedingungen des Wirtschaftens. Diesbezüglich ist sein Buch eine reich sprudelnde Quelle, die nach Abschluß der Reihe zur österreichischen Geschichte die einzelnen Epochenbände aufs schönste ergänzen wird. ANDREAS PLATTHAUS
Roman Sandgruber: "Ökonomie und Politik". Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Verlag Carl Ueberreuter, Wien 1995. 669 S., Abb., geb., 89,- DM.
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