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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.1997

Das Reich, in dem die Krise niemals unterging
Ein Panorama: Helmut Rumpler verfolgt den unaufhaltsamen Abstieg des Doppelstaates / Von Gordon A. Craig

Die Schaffung eines einheitlichen mitteleuropäischen Staatenbundes unter der Führung der Habsburgermonarchie ist eine der großen unerfüllten Visionen der Geschichte, die allerdings häufiger dank sentimentaler Nostalgie denn aufgrund abgewogener Betrachtung des neunzehnten Jahrhunderts beschworen werden. Nur wenige Leser des exzellenten und äußerst informativen Buchs "Eine Chance für Mitteleuropa" von Helmut Rumpler werden wohl annehmen, daß diese Idee jemals eine größere Chance zur Verwirklichung besessen hätte, und einige dürften sogar überzeugt sein, daß die Habsburger und ihre Vertrauten nahezu alles getan haben, um diese Pläne zu entmutigen und abzuwehren. Bereits auf der ersten Seite seines voluminösen Buches zitiert Rumpler einen österreichischen Historiker mit der Bemerkung, daß Geschichte "eine Entwicklung von einem Irrtum zum nächsten Irrtum ist". Rumpler führt aus, daß diese Einschätzung gut auf die Geschichte seiner Heimat übertragen werden könne.

Die erfolgreiche Bildung eines lebensfähigen "Mitteleuropa" hätte auf seiten der Monarchie Weitblick und Entschlußfreude verlangt, außerdem die Duldung der Nachbarn, die Einwilligung der nicht-österreichischen Teile des Habsburgerreichs, eine geschickte Einbeziehung von deren materiellen und geistigen Reichtümern sowie generell eine intelligente Staatsführung. Selbst zu seiner besten Zeit, als sich Österreich im Glanz der Reputation sonnen konnte, die es durch seine Führungsrolle im Kampf gegen die Französische Revolution und Napoleon erworben hatte, waren diese Voraussetzungen nicht annähernd erfüllt. Als Dank für seine Anstrengungen, Zentraleuropa zur föderalen Pufferzone zwischen den Großmächten zu machen, genoß Metternich deren bisweilen widerwilligen Respekt. Aber wie Rumpler in einem vergleichenden Kapitel über Polen, das Königreich Lombardo-Venetien, Ungarn, Böhmen, Illyrien und die deutschen Länder des Habsburgerreichs zeigen kann, hatte der Einfluß der romantischen Bewegung bei der Verbreitung solcher Ideen wie des "Erwachens der Völker" und der "nationalen Wiedergeburt" den Effekt einer Öffnung der Büchse der Pandora: Kräfte wurden freigesetzt, die das föderale Ideal unterminierten und im Jahre 1848 drohten, das Kaiserreich in seine Einzelteile zu zerlegen.

In dieser großen Krise gab es Anzeichen dafür, daß Österreich immer noch auswärtige Freunde besaß. Lord Palmerston erklärte im Juli 1849, zu einem Zeitpunkt also, als es möglich schien, daß Ungarn seine Unabhängigkeit würde erstreiten können, vor dem britischen Unterhaus: "Die politische Unabhängigkeit und Freiheit Europas sind meiner Ansicht nach mit dem Erhalt Österreichs als europäische Großmacht verbunden." Schon zuvor hatte Palmerston Druck auf die französische Republik ausgeübt, um sie davon abzuhalten, die österreichischen Besitzungen in Italien zu bedrohen. Jetzt ermutigte er aus Überzeugung Rußland dazu, den Österreichern bei der Niederschlagung der ungarischen Revolution zu helfen. Die Habsburgermonarchie zeigte für diese Unterstützung, die ihre Rettung bedeutete, wenig Dankbarkeit. Die österreichische Diplomatie während des Krimkrieges entfremdete ihr sowohl Rußland als auch die Westmächte und isolierte die Monarchie in Europa. Binnen eines einzigen Jahrzehnts verlor sie ihren Einfluß sowohl in Italien als auch in Deutschland und begann den Abstieg, der in der Zerstörung des Reiches im Jahre 1918 endete.

Die Jahre von 1849 bis 1867, vom Ende der Revolution bis zum "Ausgleich" mit Ungarn, illustrieren die grundlegenden Mängel, die dazu führten, daß die Habsburgermonarchie eine verhängnisvolle Rolle in Europa spielte. Hierfür war vor allem die geistige Mittelmäßigkeit des Kaisers und seiner Berater verantwortlich. Franz Joseph II., der von 1848 bis 1916 auf dem Thron saß, ließ als Herrscher eines Vielvölkerstaates Willen und Vorstellungskraft vermissen, die nötig gewesen wären, um für die verschiedenen Nationalitäten die Idee eines einigen Staates zu verkörpern. Weil er selbst eine "Un-Persönlichkeit" war - um Karl Kraus' Charakterisierung zu gebrauchen -, mißtraute er starken Persönlichkeiten unter seinen Ministern und hatte eine fast schon rührende Schwäche für untalentierte Leute.

Das traf besonders auf seine Außenminister zu, die - mit der Ausnahme Schwarzenbergs, dessen kalkulierte Brutalität den Kaiser zu ängstigen schien - generell Männer waren, deren Politik auf die Erzielung kurzfristiger Vorteile abstellte, die dann auf lange Sicht häufig furchtbare Ergebnisse zeitigten. Auch auf seine Beamten traf des Kaisers Vorliebe für schwache Persönlichkeiten zu: Neuen Ideen gegenüber waren sie eher mißtrauisch, und sie vermieden schwierige Entscheidungen. Ein Hofrat aus dem Zensurbüro, den Grillparzer gefragt hatte, warum er die Aufführung seines "König Ottokars Glück und Ende" verboten habe, obwohl er es doch gar nicht anstößig gefunden habe, antwortete dem Schriftsteller: "Ich dachte mir, man kann doch nie wissen!"

Auch die Soldaten des Kaisers waren schwache Persönlichkeiten. Sie schätzten die Galanterie höher ein als eine grundlegende Ausbildung in ihrem eigentlichen Geschäft, das deshalb eine überkommene taktische Doktrin fortführte, die sich lieber auf das Bajonett verließ als auf flächendeckenden Infanteriebeschuß. Die Soldaten waren meist beklagenswert schlecht auf das vorbereitet, was ihnen bevorstand. Die österreichische Armee bestritt zum Beispiel ihren italienischen Feldzug von 1859 ohne ausreichendes Versorgungssystem oder die notwendigen Geheimdienstinformationen über die Stärke des Feindes; selbst verläßliche Landkarten über das Operationsgebiet lagen nicht vor. An der Armeespitze stand ein General, den der Generaladjutant des Kaisers ausgesucht hatte, ein Höfling ohne jede Kampferfahrung.

Zweifellos hatte die Wirtschaftsschwäche zu dieser Situation beigetragen. Rumpler erzählt uns, daß der Staat während der gesamten Vormärz-Periode "einfach kein Geld hatte", weil das politische System "die Privatinteressen des Grundadels, der Bankiers, Großhändler und Fabrikanten höher stellte als die Bedürfnisse des Staates". Aber dieser Zustand, der mit leichten Veränderungen bis zum Ende des Kaiserreichs anhielt, war weniger entscheidend als die intellektuelle Schlaffheit, die in den Staatsdiensten vorherrschte und besonders deutlich im Duell mit Preußen in den sechziger Jahren hervortrat.

Die Niederlage gegen Preußen veränderte die Rolle der Deutschösterreicher empfindlich. Sie waren jetzt nur noch eine Nationalität unter vielen anderen, allerdings steigerte sich deshalb auch ihr Nationalismus. Nach dem "Ausgleich" von 1867 traf das jedoch auf alle Nationalitäten zu, weil dieses neue Arrangement nicht einmal die Ungarn befriedigt hatte, die man allgemein für dessen Hauptnutznießer hielt. Dagegen ist Rumpler der Ansicht, daß vor allem der Kaiser von der neuen Ordnung profitierte. Franz Joseph, so schreibt er, "sicherte sich mit der gemeinsamen Armee ein Machtinstrument, das allein dem Herrscher zur Verfügung stand. Der ,gemeinsame Ministerrat' entwickelte sich zu einer inoffiziellen Regierung, mit deren Hilfe die Reichspolitik weiterhin absolutistisch geführt werden konnte." Diese Entwicklung war besonders unglücklich im Hinblick auf das Ausscheiden der Mittelklassen als politischer Kraft nach dem ökonomischen Zusammenbruch im Jahr 1873 und angesichts der Ausbildung neuer Formen von Massenpolitik. Immer wieder und immer mehr wurde die Politik von einem Konflikt zwischen ministerialem Absolutismus und demagogischer Agitation geprägt. Binnen kurzem, so schreibt Rumpler, "wurde aus der befruchtenden Vielfalt einer multikulturellen Gesellschaft ein Hexenkessel. Der nationale Konflikt wurde zum Furor. Nicht nur die Gesellschaft, auch die Bürokratie und die Dynastie schlitterten in eine tiefe Krise. Die Wiener Zeitungen haben das instinktiv gespürt, als sie einen neuen Wahlspruch Kaiser Franz Josephs kolportierten: ,In meinem Reich geht die Krise nicht unter.'"

In einem der beeindruckendsten Teile des Buches beschreibt Rumpler unter dem Titel "Das fröhliche Weltgericht" das Leben unterhalb der großen Politik: die Fortschritte in Wissenschaft und Medizin, Philosophie und Physik, in bildenden Künsten und Literatur sowie die erstaunlichen Errungenschaften der "Wiener Moderne". Auch die Vergnügungen vernachlässigt er nicht. Es ist jedoch bezeichnend, daß sich seiner Beschreibung der Begeisterung für die Operette der Ära von Suppé bis zu Johann Strauß, Karl Millröcker und Franz Léhar - einer Begeisterung, die dem früheren Enthusiasmus für den Walzer gleichkam - das Kapitel "Das Bacchanal des Untergangs" und eine Reproduktion von Hans Makarts "Die Lust am Untergang. Die Pest in Florenz" anschließen. Zweifellos erlaubte ihr bemerkenswerter Humor zumindest den Wienern, sich mit den vielfältigen Katastrophen im öffentlichen Leben Österreichs abzufinden, die bereits auf die größeren Schwierigkeiten vorauswiesen, die sie in Kürze verschlingen sollten. Die Katastrophen waren in der Tat so alltäglich geworden, daß es keine Anstrengung kostete, die jeweilige Verantwortung abzuschieben. Robert Musil bezog sich auf diesen seltsamen Umstand, als er über sein Heimatland schrieb: "Es ist passiert, sagte man dort, wenn andere Leute anderswo glaubten, es sei wunder was geschehen; das war ein eigenartiges, nirgendwo sonst im Deutschen oder einer anderen Sprache vorkommendes Wort, in dessen Hauch Tatsachen und Schicksalsschläge so leicht wurden wie Pflaumfedern und Gedanken. Ja, es war trotz vielem, was dagegen spricht, Kakanien doch ein Land für Genies; und wahrscheinlich ist es daran auch zugrunde gegangen."

Aus dem Amerikanischen von Andreas Platthaus

Helmut Rumpler: "Eine Chance für Mitteleuropa". Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie. Österreichische Geschichte 1804-1914. Hrsg. von Herwig Wolfram. Verlag Carl Ueberreuter, Wien 1997. 672 S., Abb., geb., 101,50 DM.

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