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Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.12.2008

Lernen vom Gangsterboss
Es ist eine bizarre Geschichte: Ein indischer Soziologiestudent spaziert an einem kühlen Samstagnachmittag in eines der schlimmsten Ghettos in Chicago, um Interviews für seine Doktorarbeit zu machen. Eine Gang bewaffneter Drogendealer nimmt ihn umgehend fest, und es ist nur dem Anführer zu verdanken, dass der Student heil aus der Situation herauskommt. Dieser Gangsterboss namens J. T. wird in den nächsten Jahren zum wichtigsten Gesprächspartner von Sudhir Venkatesh, der heute als Soziologieprofessor in New York auf Karrierepfad ist. J. T. hat ein einfaches Credo: „Du musst verstehen, dass die Black Kings keine Gang sind, sondern eine Community-Organisation – wir befriedigen die Bedürfnisse der Menschen.”
Nichts anderes wollen auch Unternehmen tun. So versucht dieses Buch, die Parallelwelt von Gangster- und Managerwelt zu beleuchten. Die Black Kings beschäftigen etwa 250 „Mitarbeiter”, die vom Crackverkauf bis zum Eintreiben von Schutzgeld die gesamte Palette organisierter Kriminalität beherrschen. Naiv und furchtlos reiht Venkatesh die Ereignisse, Gespräche und Akteure vor dem Leser auf. Auf exzentrische Weise subjektiv, engagiert, mit Leidenschaft erzählt. Ohne Gefühlsduselei und Happy-End-Romantik. Übrigens zu einer Zeit, Anfang der 1990er Jahre, als geschäftlich noch alles im Lot war. Nur am Ende des Buchs brechen die Gang und ihr System dann doch auseinander.
Wie man dieses explosive Umfeld überlebt, ist ein Grundthema des Buches. „Dieser Kapitalismus des Verbrechens lief wie geschmiert, und die Chefs der verschiedenen Gangs wurden reich”, berichtet Venkatesh, der sogar genauen Einblick in den Geldtransfer der Gang bekommen hat. Er erfährt nicht nur, dass die „Laufburschen” auf unterster Ebene am wenigsten Geld bekommen, obwohl sie den gefährlichsten Job machen, sondern auch, dass sich das Einkommen eines örtlichen Gangleaders auf bis zu 100 000 Dollar im Jahr beläuft.
Venkatesh schlittert als leidenschaftlicher Beobachter immer mehr in ein Dilemma. Er bewegt sich wie ein Gangmitglied, nimmt an Besprechungen teil, wird um Rat gefragt, aber er versucht Distanz zu wahren. „Manchmal sprach J. T. von seinem Job mit der gleichen selbstverständlichen Sachlichkeit, als sei er der Geschäftsführer einer Firma, die irgendwelche Dinge herstellte – eine Einstellung, die ich angesichts der Gewalt und Zerstörung, die seine Geschäfte mit sich brachten, ziemlich schwerverdaulich fand.”
Doch die Faszination darüber, dass Kriminelle und Manager viel gemeinsam haben, lässt ihn nicht los. So liest man ohne große Aufregung, dass sich Gangster mit ihrem „Geschäftsmodell” genauso intensiv beschäftigen wie Manager. Es geht um Mitarbeiterführung, gerechte Löhne, Karriereplanung, Investitionen und um werteorientierte Führung. Der Gangsterboss stößt an ähnliche Grenzen wie jeder Geschäftsführer. Wie können Werte wie Respekt, Vertrauen, Verantwortung, Leistung und Kundennähe in der Organisation umgesetzt werden? Die Black Kings sind zwar Kriminelle, aber auch Menschen, die sich um das Wohl der Ausgegrenzten und Armen kümmern. In einem Viertel, in dem 90 Prozent der Bewohner von Sozialhilfe leben und das von der Polizei fast aufgegeben ist.
Am Ende des Buchs erläutert J. T. dann seinerseits, was er von dem verrückten Soziologiestudenten hält, der ihm ans Herz gewachsen ist. „Du kannst nichts reparieren, du hast in deinem ganzen Leben noch keinen Tag gearbeitet. Das Einzige, was du kannst, ist mit uns . . . herumzuhängen.” Das wiederum unterscheidet sich wohl nur unwesentlich von manchem Managertreffen auf Golfplätzen oder in Clubs. Peter Felixberger
Sudhir Venkatesh: Underground Economy. Was Gangs und
Unternehmen gemeinsam haben.
331 Seiten, Econ Verlag,
Berlin 2008, 18 Euro.
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