Michael Lentz, » unter den wichtigsten jungen deutschen Schriftstellern der rasanteste« (Felicitas von Lovenberg, F.A.Z.), schreibt über die Liebe, als sei noch nie darüber geschrieben worden. Selbstbewusst und subversiv, leidenschaftlich liebeswund, verführerisch, so dass dem Liebenden das tausendfach Gesagte neu erscheint. Wann ist das letzte Mal so ungestüm und offen von der Unruhe, die wir Liebe nennen, gesprochen worden?
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.04.2010Zu viel Lied gesungen
Michael Lentz weiß so ungefähr, was die Liebe ist
Mit dem Befund, Liebe sei ein „unordentliches Gefühl”, gelang Richard David Precht gleich nach seinem Philosophieschmöker „Wer bin ich – und wenn ja wie viele?” ein zweiter Bestseller. Auch Michael Lentz warnt in seinem ebenfalls schon recht erfolgreichen neuen Gedichtband davor, „liebe mit ruhe” zu verwechseln. Und wenn auch der Titel dieses Bandes, „Offene Unruh”, auf den Ausgleich schaffenden, also gerade für Ruhe sorgenden Gangregler mechanischer Uhren verweist, so feiert der 1964 in Düren geborene und zuletzt durch den Roman „Pazifik Exil” hervorgetretene Lentz doch ebenso wie Precht die Unmöglichkeit, das, was wir Liebe nennen, genau zu fassen und dingfest zu machen.
Deshalb auch scheut sich der Dichter nicht, immer wieder die Poesiealben-Floskel „Liebe ist . . . ” anzubringen. Ein „trockengelegtes neubaugebiet” etwa sei sie, „eine koppel die leer ist”, und überhaupt gehöre die Liebe zu den Dingen, „von denen man nur die hälfte / sagen kann”, sie sei nur „ein schieres Wort”, „ein zuviel gesungenes Lied”.
Ausweglos unzuständig sein
Wer wollte da widersprechen? Liebe lässt sich eben nicht beweisen. Michael Lentz weiß das sehr genau, und er macht sich diesen Umstand sehr geschickt zunutze. Denn die Unordnung und Unruhe, von der er schreibt, eignet sich bestens zur Identifikation. Ein gewisses Durcheinander wird ja in jeder Lebenslage als durchaus sympathisch und sogar beruhigend empfunden; peinliche Ordnung wie auch grenzenloses Tohuwabohu erscheinen dagegen als geradezu unmenschlich. Ein bisschen Unruhe beweist, dass etwas lebt, dass etwas in Bewegung ist – bloß darf es eben nicht zuviel sein, das wäre störend. Das würde auf Leser und Käufer auch kein bisschen einladend wirken.
Und so schreibt Michael Lentz ausgesprochen zumutbare Gedichte, die von Chaos, Terror und Wahnsinn, mit denen Liebe ja durchaus auch einhergehen kann, meilenweit entfernt sind. Sie zielen ganz und gar auf das Einverständnis mit dem Leser. Ihnen ist nichts Widerständiges eigen: Wir wissen ja im Grunde alle, was Liebe ist, scheint jeder Vers hier zu sagen: Ist es nicht schön, dass wir das gleiche fühlen?
Nicht anders als ihr magerer Gehalt lässt auch die Form dieser Gedichte an das gefällige Geklimper bloßen Kunsthandwerks denken. So arbeitet Lentz beispielsweise gerne mit Wiederholungen, was durchaus seinen Reiz haben kann, in „Offene Unruh” aber eher zu ahnungsvollen Evokationen führt als zu tatsächlich Unruhe stiftenden, verunsichernde Versen: „in einem anderen zustand sein / in einem anderen zustand sein wollen / in einem ausweglosen zustand / ausweglos unzuständig / für den ausweg zuständig sein / in einem zustand”.
Überhaupt klingt hier vieles auswendig gelernt, und manches klingt wie an der Universität: „ich bin dein eingeschriebener text”. Anderes will Aphorismus sein und ist doch nicht weiter als pseudo-poetische Spielerei, Kalenderblattlyrik: „du bist / eine falte / und ich falle / in dich.” Selten ist einem ein so anbiedernder Gedichtband begegnet. TOBIAS LEHMKUHL
MICHAEL LENTZ: Offene Unruh. 100 Liebesgedichte. S.Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010. 176 S., 16,95 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Michael Lentz weiß so ungefähr, was die Liebe ist
Mit dem Befund, Liebe sei ein „unordentliches Gefühl”, gelang Richard David Precht gleich nach seinem Philosophieschmöker „Wer bin ich – und wenn ja wie viele?” ein zweiter Bestseller. Auch Michael Lentz warnt in seinem ebenfalls schon recht erfolgreichen neuen Gedichtband davor, „liebe mit ruhe” zu verwechseln. Und wenn auch der Titel dieses Bandes, „Offene Unruh”, auf den Ausgleich schaffenden, also gerade für Ruhe sorgenden Gangregler mechanischer Uhren verweist, so feiert der 1964 in Düren geborene und zuletzt durch den Roman „Pazifik Exil” hervorgetretene Lentz doch ebenso wie Precht die Unmöglichkeit, das, was wir Liebe nennen, genau zu fassen und dingfest zu machen.
Deshalb auch scheut sich der Dichter nicht, immer wieder die Poesiealben-Floskel „Liebe ist . . . ” anzubringen. Ein „trockengelegtes neubaugebiet” etwa sei sie, „eine koppel die leer ist”, und überhaupt gehöre die Liebe zu den Dingen, „von denen man nur die hälfte / sagen kann”, sie sei nur „ein schieres Wort”, „ein zuviel gesungenes Lied”.
Ausweglos unzuständig sein
Wer wollte da widersprechen? Liebe lässt sich eben nicht beweisen. Michael Lentz weiß das sehr genau, und er macht sich diesen Umstand sehr geschickt zunutze. Denn die Unordnung und Unruhe, von der er schreibt, eignet sich bestens zur Identifikation. Ein gewisses Durcheinander wird ja in jeder Lebenslage als durchaus sympathisch und sogar beruhigend empfunden; peinliche Ordnung wie auch grenzenloses Tohuwabohu erscheinen dagegen als geradezu unmenschlich. Ein bisschen Unruhe beweist, dass etwas lebt, dass etwas in Bewegung ist – bloß darf es eben nicht zuviel sein, das wäre störend. Das würde auf Leser und Käufer auch kein bisschen einladend wirken.
Und so schreibt Michael Lentz ausgesprochen zumutbare Gedichte, die von Chaos, Terror und Wahnsinn, mit denen Liebe ja durchaus auch einhergehen kann, meilenweit entfernt sind. Sie zielen ganz und gar auf das Einverständnis mit dem Leser. Ihnen ist nichts Widerständiges eigen: Wir wissen ja im Grunde alle, was Liebe ist, scheint jeder Vers hier zu sagen: Ist es nicht schön, dass wir das gleiche fühlen?
Nicht anders als ihr magerer Gehalt lässt auch die Form dieser Gedichte an das gefällige Geklimper bloßen Kunsthandwerks denken. So arbeitet Lentz beispielsweise gerne mit Wiederholungen, was durchaus seinen Reiz haben kann, in „Offene Unruh” aber eher zu ahnungsvollen Evokationen führt als zu tatsächlich Unruhe stiftenden, verunsichernde Versen: „in einem anderen zustand sein / in einem anderen zustand sein wollen / in einem ausweglosen zustand / ausweglos unzuständig / für den ausweg zuständig sein / in einem zustand”.
Überhaupt klingt hier vieles auswendig gelernt, und manches klingt wie an der Universität: „ich bin dein eingeschriebener text”. Anderes will Aphorismus sein und ist doch nicht weiter als pseudo-poetische Spielerei, Kalenderblattlyrik: „du bist / eine falte / und ich falle / in dich.” Selten ist einem ein so anbiedernder Gedichtband begegnet. TOBIAS LEHMKUHL
MICHAEL LENTZ: Offene Unruh. 100 Liebesgedichte. S.Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010. 176 S., 16,95 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.04.2010Küss mich, bittebitte, küss mich
Artistische Clownerien mit einer Prise Barock: In seinen Liebesgedichten zeigt Michael Lentz die ganze Palette seines Könnens. "Offene Unruh" lädt ein zum Festlesen und Loslassen.
Von Wulf Segebrecht
Liebesgedichte? Es gibt, wie jeder weiß, Liebesgedichte ohne Zahl, ohne Wert, ohne Sinn und Verstand. Man muss sich nichts dabei denken. Fühlen genügt. Demgegenüber geben schon der schlichte Untertitel und die strenge Gliederung des neuen Gedichtbandes von Michael Lentz manches zu denken: hundert Liebesgedichte, genau abgezählt in zehn Kapiteln zu je zehn Gedichten. Beides, das schlechterdings Unberechenbare, die Liebe, und das Spontane, dem Augenblick Verpflichtete und sich jeder Zählung Widersetzende, das Liebesgedicht, wird hier in das arithmetische Korsett des Dezimalsystems gebracht. Das lenkt die Aufmerksamkeit gleich auf die Künstlichkeit des heiklen Projekts Liebe, das in den Gedichten verhandelt wird. Deshalb auch lässt sich aus den Gedichten allenfalls mit großer Mühe und einiger Phantasie eine handfeste Liebesgeschichte konstruieren.
Liebe wird hier, ähnlich wie in Lentz' Roman "Liebeserklärung" (2003), mehr gesagt als getan, wobei freilich eingeräumt sein soll, dass der Hauptsatz der Liebe, auf den alles ankommt, der so unumgänglich wie einfallslos ist, Erklärung und Praxis miteinander verbindet: "Ich liebe Dich." Er kommt selbstverständlich vor, in einem der Gedichte sogar mit genauer Gebrauchsanweisung: "geh aufrichtig wende den blick nicht ab / deine schritte seien sicher und ruhig / hast du die tür erreicht öffne sie / dann endlich sage die folgenden worte: ich liebe dich."
Von landläufigen Liebespraktiken ist demgegenüber nur mit großer Dezenz die Rede. Der Kuss gilt schon als der äußerste leibhaftige Liebesbeweis. Das Reden über die Liebe hat demgegenüber eindeutig den Vorrang. Der Liebende spricht von seinen Empfindungen, Gedanken und Beobachtungen, er erwägt, was die Liebenden füreinander sind und wie sie sich selbst und den Partner im Zustand der sich wandelnden Liebe erfahren. Zu diesen Themen tragen die Gedichte viele originelle Situationen und Redewendungen bei. Vor allem - da wir es mit einer betont männlichen Perspektive zu tun haben - verblüfft und vergnügt der nicht enden wollende, fast schon obsessive Versuch des Liebenden, ins Bild zu fassen, wer das weibliche "Du" in dieser Liebe ist: "bist du der hammer / lass mich dein nagel sein", "du bist die nicht ab / zu stellende platte", "die sperrstunde / meines herzens bist du / der ausgeborgte schlüssel / meiner steckschlosssprache", "du bist mein papierverlies / ... du bist das reinste intransitiv", "du bist mein untersatz", "du bist mein imago, mein refektorium", "du meine black box", "meine nachtseite bist du" und so weiter. Wer gerade entsprechenden Bedarf hat, könnte dieses Gedichtbuch durchaus als Nachschlagewerk neuartiger Liebkosungen nutzen.
Doch wer ist der Liebkosende selbst? "Offene Unruh" beherrscht ihn, sagt der Titel des Buches, der zugleich Einblick in das Uhrwerk der Liebe verspricht. Der Liebende, den wir hier kennenlernen, verirrt sich in Widersprüchen, er führt sich selbst ad absurdum, er meint es ganz ernst, er ruft das herkömmliche Vokabular der europäischen Liebessprache auf und stellt es gleich wieder in Frage, er erfindet und stammelt neue Wörter ("du bist so glossolall"), er dreht und wendet die Wörter, bis sie vor lauter Tiefsinn unsinnig werden, er sieht sich gleichzeitig von Banalitäten und Todesgedanken umgeben, er philosophiert und kalauert, er reimt sogar, wenn es drauf ankommt, und dann schwätzt er wieder ganz alltagssprachlich, er spielt wie ein Kind und reflektiert wie ein Greis. Er variiert all die tausend verschiedenen poetischen Tricks der Allusion, der Assonanz und des Enjambements, des Wortspiels und der Metapher, aber er kann auch gradnaus reden, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Er findet Noch-nie-Gehörtes und wiederholt sich doch gern, wenn es nur Effekt macht. Kurz: Er ist ein virtuoser Komiker durch und durch, ein Clown von hohen Graden, der die raffinierteste Artistik und die abgründigste Weisheit mit scheinbarer Unbeholfenheit verbindet. Man kann ihn bei allem Mitgefühl nicht ganz ernst nehmen, obwohl oder weil man doch annimmt, dass er wirklich schwärmt und wirklich leidet, wie es sich für einen richtigen Liebenden gehört. Seine Verse sind mit kopflastigem Herzblut und mit herzlastigem Kopf geschrieben. Das Herz verlangt Unbedingtheit, der Kopf relativiert diese Unbedingtheit wieder. Es ist diese aporetische Konstellation, die den Gedichten zugleich Glaubwürdigkeit verleiht und Distanz einträgt; man erschrickt und vergnügt sich doch.
Die eingestreuten parodistischen Demonstrationen unterstreichen einerseits die professionelle Kennerschaft des Verfassers, lassen zugleich aber seine Lust an der Destruktion der Autoritäten erkennen, auf die er sich gleichwohl beruft. Der von Lentz vielzitierte Gryphius - "eine prise barock" steckt nun einmal in aller Liebeslyrik, die zwischen dem memento mori und dem carpe diem changiert - ist der bevorzugte Zeuge dieser Lust: "doch schweig ich noch von dem was schlimmer als dein schweigen ist / was grimmer als dein schweigen ist / dass auch die innere stimme so abhanden kam." Auch Rilke ("doch da ist keine stelle die dich / nicht liebt du musst die liebe ändern") findet mehrfach parodistische Verwendung, und sogar Goethe muss dran glauben: "wer nie sein handy mit tränen aß / wer nie das display durchweinte / wer nur die abgebrauchte sehnsucht kennt / weiß nicht was ich dulde." Das ist etwas für Leser, die Freude an sprachund gedankenspielerischen Extratouren haben, wie Lentz sie sich liebend gern leistet, wobei er die Tradition experimenteller Dichtung vom Surrealismus über den Dadaismus bis hin zur Konkreten Poesie aufgreift und weiterführt. Wie immer der Leser sich auch entscheiden mag - eins kann er bei Lentz jedenfalls lernen, wenn er es noch nicht selbst erfahren hat: "in liebesdingen / ist jede entscheidung falsch." Nur eine Entscheidung "in liebesdingen" kann schlechterdings nicht falsch sein: die Entscheidung für dieses ebenso raffinierte wie einfältige, verspielte und ernsthafte, jedenfalls aber kunstreiche "Buch der Liebe".
Michael Lentz: "Offene Unruh." 100 Liebesgedichte. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010. 176 S., geb.,16,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Artistische Clownerien mit einer Prise Barock: In seinen Liebesgedichten zeigt Michael Lentz die ganze Palette seines Könnens. "Offene Unruh" lädt ein zum Festlesen und Loslassen.
Von Wulf Segebrecht
Liebesgedichte? Es gibt, wie jeder weiß, Liebesgedichte ohne Zahl, ohne Wert, ohne Sinn und Verstand. Man muss sich nichts dabei denken. Fühlen genügt. Demgegenüber geben schon der schlichte Untertitel und die strenge Gliederung des neuen Gedichtbandes von Michael Lentz manches zu denken: hundert Liebesgedichte, genau abgezählt in zehn Kapiteln zu je zehn Gedichten. Beides, das schlechterdings Unberechenbare, die Liebe, und das Spontane, dem Augenblick Verpflichtete und sich jeder Zählung Widersetzende, das Liebesgedicht, wird hier in das arithmetische Korsett des Dezimalsystems gebracht. Das lenkt die Aufmerksamkeit gleich auf die Künstlichkeit des heiklen Projekts Liebe, das in den Gedichten verhandelt wird. Deshalb auch lässt sich aus den Gedichten allenfalls mit großer Mühe und einiger Phantasie eine handfeste Liebesgeschichte konstruieren.
Liebe wird hier, ähnlich wie in Lentz' Roman "Liebeserklärung" (2003), mehr gesagt als getan, wobei freilich eingeräumt sein soll, dass der Hauptsatz der Liebe, auf den alles ankommt, der so unumgänglich wie einfallslos ist, Erklärung und Praxis miteinander verbindet: "Ich liebe Dich." Er kommt selbstverständlich vor, in einem der Gedichte sogar mit genauer Gebrauchsanweisung: "geh aufrichtig wende den blick nicht ab / deine schritte seien sicher und ruhig / hast du die tür erreicht öffne sie / dann endlich sage die folgenden worte: ich liebe dich."
Von landläufigen Liebespraktiken ist demgegenüber nur mit großer Dezenz die Rede. Der Kuss gilt schon als der äußerste leibhaftige Liebesbeweis. Das Reden über die Liebe hat demgegenüber eindeutig den Vorrang. Der Liebende spricht von seinen Empfindungen, Gedanken und Beobachtungen, er erwägt, was die Liebenden füreinander sind und wie sie sich selbst und den Partner im Zustand der sich wandelnden Liebe erfahren. Zu diesen Themen tragen die Gedichte viele originelle Situationen und Redewendungen bei. Vor allem - da wir es mit einer betont männlichen Perspektive zu tun haben - verblüfft und vergnügt der nicht enden wollende, fast schon obsessive Versuch des Liebenden, ins Bild zu fassen, wer das weibliche "Du" in dieser Liebe ist: "bist du der hammer / lass mich dein nagel sein", "du bist die nicht ab / zu stellende platte", "die sperrstunde / meines herzens bist du / der ausgeborgte schlüssel / meiner steckschlosssprache", "du bist mein papierverlies / ... du bist das reinste intransitiv", "du bist mein untersatz", "du bist mein imago, mein refektorium", "du meine black box", "meine nachtseite bist du" und so weiter. Wer gerade entsprechenden Bedarf hat, könnte dieses Gedichtbuch durchaus als Nachschlagewerk neuartiger Liebkosungen nutzen.
Doch wer ist der Liebkosende selbst? "Offene Unruh" beherrscht ihn, sagt der Titel des Buches, der zugleich Einblick in das Uhrwerk der Liebe verspricht. Der Liebende, den wir hier kennenlernen, verirrt sich in Widersprüchen, er führt sich selbst ad absurdum, er meint es ganz ernst, er ruft das herkömmliche Vokabular der europäischen Liebessprache auf und stellt es gleich wieder in Frage, er erfindet und stammelt neue Wörter ("du bist so glossolall"), er dreht und wendet die Wörter, bis sie vor lauter Tiefsinn unsinnig werden, er sieht sich gleichzeitig von Banalitäten und Todesgedanken umgeben, er philosophiert und kalauert, er reimt sogar, wenn es drauf ankommt, und dann schwätzt er wieder ganz alltagssprachlich, er spielt wie ein Kind und reflektiert wie ein Greis. Er variiert all die tausend verschiedenen poetischen Tricks der Allusion, der Assonanz und des Enjambements, des Wortspiels und der Metapher, aber er kann auch gradnaus reden, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Er findet Noch-nie-Gehörtes und wiederholt sich doch gern, wenn es nur Effekt macht. Kurz: Er ist ein virtuoser Komiker durch und durch, ein Clown von hohen Graden, der die raffinierteste Artistik und die abgründigste Weisheit mit scheinbarer Unbeholfenheit verbindet. Man kann ihn bei allem Mitgefühl nicht ganz ernst nehmen, obwohl oder weil man doch annimmt, dass er wirklich schwärmt und wirklich leidet, wie es sich für einen richtigen Liebenden gehört. Seine Verse sind mit kopflastigem Herzblut und mit herzlastigem Kopf geschrieben. Das Herz verlangt Unbedingtheit, der Kopf relativiert diese Unbedingtheit wieder. Es ist diese aporetische Konstellation, die den Gedichten zugleich Glaubwürdigkeit verleiht und Distanz einträgt; man erschrickt und vergnügt sich doch.
Die eingestreuten parodistischen Demonstrationen unterstreichen einerseits die professionelle Kennerschaft des Verfassers, lassen zugleich aber seine Lust an der Destruktion der Autoritäten erkennen, auf die er sich gleichwohl beruft. Der von Lentz vielzitierte Gryphius - "eine prise barock" steckt nun einmal in aller Liebeslyrik, die zwischen dem memento mori und dem carpe diem changiert - ist der bevorzugte Zeuge dieser Lust: "doch schweig ich noch von dem was schlimmer als dein schweigen ist / was grimmer als dein schweigen ist / dass auch die innere stimme so abhanden kam." Auch Rilke ("doch da ist keine stelle die dich / nicht liebt du musst die liebe ändern") findet mehrfach parodistische Verwendung, und sogar Goethe muss dran glauben: "wer nie sein handy mit tränen aß / wer nie das display durchweinte / wer nur die abgebrauchte sehnsucht kennt / weiß nicht was ich dulde." Das ist etwas für Leser, die Freude an sprachund gedankenspielerischen Extratouren haben, wie Lentz sie sich liebend gern leistet, wobei er die Tradition experimenteller Dichtung vom Surrealismus über den Dadaismus bis hin zur Konkreten Poesie aufgreift und weiterführt. Wie immer der Leser sich auch entscheiden mag - eins kann er bei Lentz jedenfalls lernen, wenn er es noch nicht selbst erfahren hat: "in liebesdingen / ist jede entscheidung falsch." Nur eine Entscheidung "in liebesdingen" kann schlechterdings nicht falsch sein: die Entscheidung für dieses ebenso raffinierte wie einfältige, verspielte und ernsthafte, jedenfalls aber kunstreiche "Buch der Liebe".
Michael Lentz: "Offene Unruh." 100 Liebesgedichte. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010. 176 S., geb.,16,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Quadratisch, praktisch, gut erscheint Rolf-Bernhard Essig dieser Band mit Liebes- und Leidensgedichten von Michael Lentz, auch wenn er vom Autor schon Stärkeres gelesen hat. Das Einfache, das Larmoyante, auch das Hohelied der Liebe kann ihm Lenz kenntnisreich, witzig und sprachlich versiert, im literarischen Fundus von Gryphius bis Rilke wildernd, wie Essig herausfindet, nahebringen. Dass Lentz den hier und da vorgefundenen hohen Ton mit schnoddrigem Gebrabbel auflockert, macht Essig die Lektüre angenehmer. Zur Kenntnis nimmt er auch die zum Repertoire anerkannter Dichter gehörenden "Archaismen und Neologismen" wie "kleinwirsch", "zikadierst", "mein tausendschönes subjektil". Im Übrigen ist er am frohsten, wenn die allseits durch die Texte wehende Kühle, das Coole, von einem heiteren Ton a la Kästner abgelöst wird oder Lentz sich dem kleinen Alltagsdetail widmet oder "betörend" Liedhaftes dichtet.
© Perlentaucher Medien GmbH
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