Eine Inventur der Männlichkeit
Die sogenannte »Männlichkeit« steckt in einer Krise. Die Rollen im Männlichkeitstheater müssen neu besetzt werden. Die erste literarische Bestandsaufnahme ihrer Art von prägenden Autor_innen der Gegenwart.
Ein Mann, der sich die eigene Übergriffigkeit eingesteht. Eine non-binäre Person, die ihr eigenes Genital nicht googeln kann. Ein Gefangener zwischen Krieger oder Loser. Und eine schwarze Box, in der Gefühle, Sehnsüchte und Wahrheiten versteckt liegen. Und die es gilt, zu öffnen. 18 mutige Selbstbefragungen zum Thema Männlichkeit_en von den wichtigsten deutschsprachigen Erzähler_innen unserer Tage. Ein explizit viel-stimmiger Debattenbeitrag in Zeiten einer Neufindung zwischen Toxic Masculinity und Gender Fluidity.
Mit einem Comic-Strip von Joris Bas Backer und mit einem Nachwort von Mithu M. Sanyal.
»Wenn sich die Männer ihrer Art zu leben nicht bewusst werden, wirddie Befreiung der Frau nie stattfinden.« Annie Ernaux
Die sogenannte »Männlichkeit« steckt in einer Krise. Die Rollen im Männlichkeitstheater müssen neu besetzt werden. Die erste literarische Bestandsaufnahme ihrer Art von prägenden Autor_innen der Gegenwart.
Ein Mann, der sich die eigene Übergriffigkeit eingesteht. Eine non-binäre Person, die ihr eigenes Genital nicht googeln kann. Ein Gefangener zwischen Krieger oder Loser. Und eine schwarze Box, in der Gefühle, Sehnsüchte und Wahrheiten versteckt liegen. Und die es gilt, zu öffnen. 18 mutige Selbstbefragungen zum Thema Männlichkeit_en von den wichtigsten deutschsprachigen Erzähler_innen unserer Tage. Ein explizit viel-stimmiger Debattenbeitrag in Zeiten einer Neufindung zwischen Toxic Masculinity und Gender Fluidity.
Mit einem Comic-Strip von Joris Bas Backer und mit einem Nachwort von Mithu M. Sanyal.
»Wenn sich die Männer ihrer Art zu leben nicht bewusst werden, wirddie Befreiung der Frau nie stattfinden.« Annie Ernaux
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Das Thema Männlichkeit und Männerforschung hat nicht nur Klaus Theweleit mit seinen epochemachenden "Männerfantasien" aufgegriffen, weiß Rezensentin Shirin Sojitrawalla: Sie hat einen Band vor sich liegen, der 16 Beiträge ganz unterschiedlicher, klug ausgewählter Autor:innen versammelt, die sich dem Thema Mannsein widmen. Kim de L'Horizon ist "agnostisch, was Gender angeht", Dinçer Güçyeter schreibt über "männliche Zu- und Abrichtungen." Nur Peter Wawerzineks Beitrag zu männlichen Politikern kann sie nicht überzeugen - und auch, dass Mithu Sanyal hier a la Beauvoir von Mannwerdeung spricht, scheint ihr nicht innovativ, wenn auch sehr treffend, wie sie schließt.
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.07.2023Die Grillwolke der Männlichkeit
Mit einem Lesebühnenfestival am Wannsee wurde jetzt der Sammelband "Oh Boy" vorgestellt. Wie weit ist die Debatte um Maskulinität wirklich?
Von Tobias Rüther
Drei Bühnen, verteilt über einen Park am Wasser. Wo das Publikum per Gongschlag von Bühne zu Bühne wechselte, um sich neun Lesungen anzuhören. Aus einem neuen Buch mit achtzehn Beiträgen. Am Donnerstagabend wurde der neue Sammelband "Oh Boy" im Literarischen Colloquium am Berliner Wannsee vorgestellt. Er versammelt Texte über "Männlichkeit*en heute", wie es im Untertitel heißt. Literarische und essayistische Texte und ein Comic darüber, wie man zum Mann wird und was das mit sich bringt, was ein "Mann" eigentlich ist, tut oder nicht tut, sein könnte, sein sollte. "So eine Anthologie", erklärte Gunnar Cynybulk, ihr Verleger, "gab es auf Deutsch bislang nicht", es handle sich hier, davon sei er überzeugt, "um die prägende Sammlung von Texten, die es in Deutschland gibt". Und während das Publikum ihm und Donat Blum und Valentin Moritz, die "Oh Boy" herausgegeben haben, laut applaudierte und hinter den dreien die Sonne langsam über dem Wannsee und den Segelbooten unterging, dachte man: Kaum schreiben Typen mal irgendwie kritisch über sich selbst, mieten sie gleich Mar-a-Lago an, um das zu feiern.
Aber das hatte mehr mit der lesefestivalartigen Dimension dieser Buchpräsentation zu tun als mit dem Buch selbst. "Oh Boy" versammelt einige tatsächlich beeindruckende Texte - vom Leipziger Buchpreisträger Dinçer Güçyeter beispielsweise, von Sascha Rijkeboer, auch von Ozan Zakariya Keskinkiliç, der am Wannsee daraus las. "Er war mein Hans Hansen und ich sein Tonio Kröger" heißt sein Text, eine autobiographische Geschichte über seine Lektüre von Thomas Manns berühmter Erzählung und deren queere Motive. Es findet sich in "Oh Boy" aber auch ein Beitrag der österreichischen Legende Hermes Phettberg, der von seiner Jugend in der Nachkriegsprovinz erzählt, über einen Jungen, der mit jedem Jahr stärker spürt, dass er andere Jungen begehrt, damit aber nicht dem herkömmlichen Lauf der Dinge entspricht, wie ihn Kirche, Vater, Omi gern hätten. Ein Junge, der es sich nicht leicht macht, "ich" zu sagen, sondern lieber umständlich drumherum redet. Und sich, in diesem Text, heute, 2023, "meiner-eins" nennt, was eine Redensartlichkeit ist, wie man sie in Briefen oder Ansprachen verwendet, aber auch ein Signalwort, um auf Distanz zu gehen zu sich selbst. Kein starkes, selbstsicheres, anführendes Ich, wie das Männerbild des Abendlandes es verlangte, sondern ein "meinereins".
Weil die Sache eben nicht so klar ist. Meiner-eins oder meinerviele? Wie setzt sich die Identität eines Mann zusammen, der andere Männer begehrt? "Ich bin eh etwas sehr Dazwischiges geworden, eh de facto 'vom anderen Ufer'", so nennt der Moderator und Autor Phettberg sich auch. Sein Beitrag zeigt programmatisch, was dieser Sammelband versucht: den "Mann" von außen zu betrachten, aus betroffener, vielfach gebrochener Perspektive.
"Oh Boy" erscheint mitten in einen Sommer hinein, in dem in Deutschland vielleicht heftiger als je zuvor über "toxische Männlichkeit" geredet wird. Und der Begriff inzwischen auch in bürgerlichen Kreisen verwendet wird, wo er bislang eher für ein feministisches Schlagwort oder einen Kampfbegriff gehalten worden ist. Das hat mit dem Fall Till Lindemann zu tun. Gegen den Sänger der Band Rammstein ermittelt inzwischen die Berliner Staatsanwaltschaft, wegen "Tatvorwürfen aus dem Bereich der Sexualdelikte und der Abgabe von Betäubungsmitteln", wie sie erklärt. Die zahlreichen Berichte von Lindemanns Backstage-Partys mit sehr jungen, eigens dafür rekrutierten Frauen haben die breite Öffentlichkeit erschüttert, der Graubereich männlicher Übergriffigkeit gegenüber Frauen ist zum Politikum geworden.
"Oh Boy" erscheint allerdings auch in einen Sommer hinein, in dem Olaf Scholz im Interview erklärt hat, kein "John Wayne" sein zu wollen. Damit meinte der Bundeskanzler: Er sei halt kein einsam durchgreifender Entscheider, sondern mehr so der Typ Team. Als Gegenbild zum kooperativen Führungsstil, den Scholz für sich in Anspruch nimmt, brachte er also einen Cowboy ins Spiel, die Verkörperung für Härte, Einsilbigkeit und Durchsetzungskraft. Das hat die Sache nicht klarer gemacht, denn John Wayne war Schauspieler, und darüber, wer er wirklich war und was er verkörperte, kann man streiten. Aber es zeigte eben auch, dass es für "Männer" immer noch bestimmte Vorbilder gibt, über die wir uns verständigen, an denen sich Nachgeborene orientieren. Vorbilder, die, wenn sie nicht längst schwanken, dieser Sammelband zu erschüttern versucht. Das Thema "Männlichkeit" hängt jedenfalls wie eine Grillwolke über der Gegenwart, das zeigt auch der deutsche Dauerstreit ums Fleischessen, Hausbauen und ums Autofahren.
"Oh Boy" präsentiert dabei bewusst Texte, die sich nicht nur mit dieser Deutschländerwürstchenhaftigkeit des Manns beschäftigen (das sind die schwächsten Texte in diesem Band). Er stellt diese Texte neben sexuell explizite Darstellungen schwulen Begehrens. Um es auf eine Formel zu bringen, die eigentlich nicht weit trägt, um zu beschreiben, wie ungefähr, annäherungshaft und vorläufig und mit aller Vorsicht hier definitive Aussagen über "Maskulinität" getroffen werden. Aber das ist, am Ende, vermutlich der Sinn der Sache. Achtzehn Beiträge lang wird die Frage, was Männlichkeit sein könnte, eingekreist, und die Sache dabei immer komplizierter. Das liegt natürlich am Thema selbst, denn es wäre banal, mit dem Kenntnisstand des Jahres 2023 noch unumstößliche Definitionen in Fragen der "Identität" abliefern zu wollen, also Mann = Fleischessen, Hausbauen, Autofahren.
Aber der Eindruck von Redundanz, der am Ende der Lektüre und dieses Lesefestes leider überwiegt, liegt auch an der stark schwankenden Stärke der Texte, die in "Oh Boy" versammelt sind - und an den großen Formeln, die darin ständig hin- und hergeschoben werden, als sei damit schon genug gesagt, an diesem Jargon. "Patriarchale Hierarchisierung" (Deniz Utlu, auf der Bühne im LCB). "Ich bin Teil des Problems, Teil des Patriarchats. Und damit Teil der Rape Culture" (Valentin Moritz, in seinem Text). Signalisiert das Gesprächsbereitschaft? Oder ist es, im Gegenteil, nur bequem? "Unser aller Körper sind Produkte von Einschreibungen, die wir uns nicht aussuchen konnten", erklärte der Bestsellerautor Daniel Schreiber auf der Bühne am Wannsee, zum Band hat er eine schwule Liebesgeschichte beigesteuert. Um diesen "Einschreibungen" zu entgehen, wäre es aber sicher besser, eine Sprache zu verwenden, die sich nicht nach dreihundertfünfzig Theorieseminaren in die Debatte eingeschrieben hat. Sascha Rijkeboer schlägt etwa den Begriff "kulturelle Männlichkeit" vor, um der Vorstellung entgegenzuwirken, "dass alle Maskulinitäten per se patriarchal" seien, das sind zwar wieder sehr viele große Worte hintereinander, aber sie öffnen das Gespräch und lassen die - banale - Idee zu, dass auch Männern Männer gewaltig auf den Wecker gehen können in ihrer Männerhaftigkeit.
Es mangelt "an Bereitschaft zu einem selbstkritischen Dialog seitens derer, die von den herrschenden patriarchalen Strukturen am meisten profitieren", so behauptet es aber das Vorwort. Im Nachwort stellt die Autorin Mithu Sanyal, wie eine Gutachterin zum Projekt dazugeholt, fest: "Man wird nicht als Mann geboren, man wird dazu gemacht." Da klingen Simone de Beauvoir an, und die große Tradition feministischer Selbstbefragung. Wie kritisch der ausgerufene Dialog um "Männer" auch immer ist - er ist zum Glück aber doch schon seit Längerem in Gang. Dass wir überhaupt über die vermeintlich Identität stiftende Kraft von Autos und Grillfleisch diskutieren, zeigt es auf dialektische Weise. Sechs Jahre ist es zudem her, dass Jack Urwin den Begriff der "toxischen Männlichkeit" in breiten Umlauf brachte: mit einem Essay im "Vice"-Magazin, der später als "Boys don't cry" auch auf Deutsch in Buchform erschien, weltweit gelesen wurde - und auch deswegen für Unruhe sorgte, weil Urwin darin zeigte, wie schädlich die Anerziehung klassisch "männlich" verstandener Eigenschaften sich auch auf die Männer selbst auswirkt. Sechs Jahre sind anderseits natürlich gar nichts, gemessen an hundertfünfzig Jahren feministischer Theorie. Oh Boy, es ist noch ein weiter Weg.
"Oh Boy". Kanon-Verlag, 238 Seiten, 22 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mit einem Lesebühnenfestival am Wannsee wurde jetzt der Sammelband "Oh Boy" vorgestellt. Wie weit ist die Debatte um Maskulinität wirklich?
Von Tobias Rüther
Drei Bühnen, verteilt über einen Park am Wasser. Wo das Publikum per Gongschlag von Bühne zu Bühne wechselte, um sich neun Lesungen anzuhören. Aus einem neuen Buch mit achtzehn Beiträgen. Am Donnerstagabend wurde der neue Sammelband "Oh Boy" im Literarischen Colloquium am Berliner Wannsee vorgestellt. Er versammelt Texte über "Männlichkeit*en heute", wie es im Untertitel heißt. Literarische und essayistische Texte und ein Comic darüber, wie man zum Mann wird und was das mit sich bringt, was ein "Mann" eigentlich ist, tut oder nicht tut, sein könnte, sein sollte. "So eine Anthologie", erklärte Gunnar Cynybulk, ihr Verleger, "gab es auf Deutsch bislang nicht", es handle sich hier, davon sei er überzeugt, "um die prägende Sammlung von Texten, die es in Deutschland gibt". Und während das Publikum ihm und Donat Blum und Valentin Moritz, die "Oh Boy" herausgegeben haben, laut applaudierte und hinter den dreien die Sonne langsam über dem Wannsee und den Segelbooten unterging, dachte man: Kaum schreiben Typen mal irgendwie kritisch über sich selbst, mieten sie gleich Mar-a-Lago an, um das zu feiern.
Aber das hatte mehr mit der lesefestivalartigen Dimension dieser Buchpräsentation zu tun als mit dem Buch selbst. "Oh Boy" versammelt einige tatsächlich beeindruckende Texte - vom Leipziger Buchpreisträger Dinçer Güçyeter beispielsweise, von Sascha Rijkeboer, auch von Ozan Zakariya Keskinkiliç, der am Wannsee daraus las. "Er war mein Hans Hansen und ich sein Tonio Kröger" heißt sein Text, eine autobiographische Geschichte über seine Lektüre von Thomas Manns berühmter Erzählung und deren queere Motive. Es findet sich in "Oh Boy" aber auch ein Beitrag der österreichischen Legende Hermes Phettberg, der von seiner Jugend in der Nachkriegsprovinz erzählt, über einen Jungen, der mit jedem Jahr stärker spürt, dass er andere Jungen begehrt, damit aber nicht dem herkömmlichen Lauf der Dinge entspricht, wie ihn Kirche, Vater, Omi gern hätten. Ein Junge, der es sich nicht leicht macht, "ich" zu sagen, sondern lieber umständlich drumherum redet. Und sich, in diesem Text, heute, 2023, "meiner-eins" nennt, was eine Redensartlichkeit ist, wie man sie in Briefen oder Ansprachen verwendet, aber auch ein Signalwort, um auf Distanz zu gehen zu sich selbst. Kein starkes, selbstsicheres, anführendes Ich, wie das Männerbild des Abendlandes es verlangte, sondern ein "meinereins".
Weil die Sache eben nicht so klar ist. Meiner-eins oder meinerviele? Wie setzt sich die Identität eines Mann zusammen, der andere Männer begehrt? "Ich bin eh etwas sehr Dazwischiges geworden, eh de facto 'vom anderen Ufer'", so nennt der Moderator und Autor Phettberg sich auch. Sein Beitrag zeigt programmatisch, was dieser Sammelband versucht: den "Mann" von außen zu betrachten, aus betroffener, vielfach gebrochener Perspektive.
"Oh Boy" erscheint mitten in einen Sommer hinein, in dem in Deutschland vielleicht heftiger als je zuvor über "toxische Männlichkeit" geredet wird. Und der Begriff inzwischen auch in bürgerlichen Kreisen verwendet wird, wo er bislang eher für ein feministisches Schlagwort oder einen Kampfbegriff gehalten worden ist. Das hat mit dem Fall Till Lindemann zu tun. Gegen den Sänger der Band Rammstein ermittelt inzwischen die Berliner Staatsanwaltschaft, wegen "Tatvorwürfen aus dem Bereich der Sexualdelikte und der Abgabe von Betäubungsmitteln", wie sie erklärt. Die zahlreichen Berichte von Lindemanns Backstage-Partys mit sehr jungen, eigens dafür rekrutierten Frauen haben die breite Öffentlichkeit erschüttert, der Graubereich männlicher Übergriffigkeit gegenüber Frauen ist zum Politikum geworden.
"Oh Boy" erscheint allerdings auch in einen Sommer hinein, in dem Olaf Scholz im Interview erklärt hat, kein "John Wayne" sein zu wollen. Damit meinte der Bundeskanzler: Er sei halt kein einsam durchgreifender Entscheider, sondern mehr so der Typ Team. Als Gegenbild zum kooperativen Führungsstil, den Scholz für sich in Anspruch nimmt, brachte er also einen Cowboy ins Spiel, die Verkörperung für Härte, Einsilbigkeit und Durchsetzungskraft. Das hat die Sache nicht klarer gemacht, denn John Wayne war Schauspieler, und darüber, wer er wirklich war und was er verkörperte, kann man streiten. Aber es zeigte eben auch, dass es für "Männer" immer noch bestimmte Vorbilder gibt, über die wir uns verständigen, an denen sich Nachgeborene orientieren. Vorbilder, die, wenn sie nicht längst schwanken, dieser Sammelband zu erschüttern versucht. Das Thema "Männlichkeit" hängt jedenfalls wie eine Grillwolke über der Gegenwart, das zeigt auch der deutsche Dauerstreit ums Fleischessen, Hausbauen und ums Autofahren.
"Oh Boy" präsentiert dabei bewusst Texte, die sich nicht nur mit dieser Deutschländerwürstchenhaftigkeit des Manns beschäftigen (das sind die schwächsten Texte in diesem Band). Er stellt diese Texte neben sexuell explizite Darstellungen schwulen Begehrens. Um es auf eine Formel zu bringen, die eigentlich nicht weit trägt, um zu beschreiben, wie ungefähr, annäherungshaft und vorläufig und mit aller Vorsicht hier definitive Aussagen über "Maskulinität" getroffen werden. Aber das ist, am Ende, vermutlich der Sinn der Sache. Achtzehn Beiträge lang wird die Frage, was Männlichkeit sein könnte, eingekreist, und die Sache dabei immer komplizierter. Das liegt natürlich am Thema selbst, denn es wäre banal, mit dem Kenntnisstand des Jahres 2023 noch unumstößliche Definitionen in Fragen der "Identität" abliefern zu wollen, also Mann = Fleischessen, Hausbauen, Autofahren.
Aber der Eindruck von Redundanz, der am Ende der Lektüre und dieses Lesefestes leider überwiegt, liegt auch an der stark schwankenden Stärke der Texte, die in "Oh Boy" versammelt sind - und an den großen Formeln, die darin ständig hin- und hergeschoben werden, als sei damit schon genug gesagt, an diesem Jargon. "Patriarchale Hierarchisierung" (Deniz Utlu, auf der Bühne im LCB). "Ich bin Teil des Problems, Teil des Patriarchats. Und damit Teil der Rape Culture" (Valentin Moritz, in seinem Text). Signalisiert das Gesprächsbereitschaft? Oder ist es, im Gegenteil, nur bequem? "Unser aller Körper sind Produkte von Einschreibungen, die wir uns nicht aussuchen konnten", erklärte der Bestsellerautor Daniel Schreiber auf der Bühne am Wannsee, zum Band hat er eine schwule Liebesgeschichte beigesteuert. Um diesen "Einschreibungen" zu entgehen, wäre es aber sicher besser, eine Sprache zu verwenden, die sich nicht nach dreihundertfünfzig Theorieseminaren in die Debatte eingeschrieben hat. Sascha Rijkeboer schlägt etwa den Begriff "kulturelle Männlichkeit" vor, um der Vorstellung entgegenzuwirken, "dass alle Maskulinitäten per se patriarchal" seien, das sind zwar wieder sehr viele große Worte hintereinander, aber sie öffnen das Gespräch und lassen die - banale - Idee zu, dass auch Männern Männer gewaltig auf den Wecker gehen können in ihrer Männerhaftigkeit.
Es mangelt "an Bereitschaft zu einem selbstkritischen Dialog seitens derer, die von den herrschenden patriarchalen Strukturen am meisten profitieren", so behauptet es aber das Vorwort. Im Nachwort stellt die Autorin Mithu Sanyal, wie eine Gutachterin zum Projekt dazugeholt, fest: "Man wird nicht als Mann geboren, man wird dazu gemacht." Da klingen Simone de Beauvoir an, und die große Tradition feministischer Selbstbefragung. Wie kritisch der ausgerufene Dialog um "Männer" auch immer ist - er ist zum Glück aber doch schon seit Längerem in Gang. Dass wir überhaupt über die vermeintlich Identität stiftende Kraft von Autos und Grillfleisch diskutieren, zeigt es auf dialektische Weise. Sechs Jahre ist es zudem her, dass Jack Urwin den Begriff der "toxischen Männlichkeit" in breiten Umlauf brachte: mit einem Essay im "Vice"-Magazin, der später als "Boys don't cry" auch auf Deutsch in Buchform erschien, weltweit gelesen wurde - und auch deswegen für Unruhe sorgte, weil Urwin darin zeigte, wie schädlich die Anerziehung klassisch "männlich" verstandener Eigenschaften sich auch auf die Männer selbst auswirkt. Sechs Jahre sind anderseits natürlich gar nichts, gemessen an hundertfünfzig Jahren feministischer Theorie. Oh Boy, es ist noch ein weiter Weg.
"Oh Boy". Kanon-Verlag, 238 Seiten, 22 Euro
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