Ein Standardwerk über den zivilen Widerstand in Europa.Jacques Semelin rekonstruiert in seiner Studie verschiedene Formen zivilen Widerstands gegen das NS-Regime, vor allem in Frankreich, Skandinavien und den Benelux-Staaten, aber auch in Deutschland. Der unbewaffnete Kampf gegen die Nationalsozialisten geschah zum Beispiel durch Verweigerung der Zwangsarbeit, Sabotage, langsames Arbeiten, illegale Presse, Demonstrationen oder Streiks. So aussichtslos solche Aktionen zunächst erscheinen mochten, behinderten sie die Nationalsozialisten doch erheblich oder retteten sogar Leben. In seiner Analyse filtert Semelin außerdem die Voraussetzungen für gewaltfreien zivilen Widerstand gegen totalitäre Herrschaftssysteme heraus.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Michael Wildt hält die Lektüre von Jacques Semelins Buch auch mehr als dreißig Jahre nach der französischen Originalveröffentlichung noch für gewinnbringend. Auch wenn die Studie über den Widerstand gegen Hitler in Westeuropa nicht den aktuellen Forschungsstand abbildet und längst auch Osteuropa die Archive geöffnet hat, wie Wildt anmerkt, entdeckt der Rezensent doch Einsichten im Buch, die ihm weiterhin bedenkenswert erscheinen. Die Ausweitung des Widerstandsbegriffs auf Dissens und Verweigerung gehört für ihn dazu, ebenso der Hinweis auf die Bedeutung des Widerstands der jeweiligen staatlichen Instanzen. Manchmal erscheint es Wildt, als betrachte der Autor die Gesellschaften als allzu homogen. Als Beitrag zur Holocaustforschung taugen Semelins Überlegungen zur Beziehung zwischen Besatzern und Besetzten immer noch, findet er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.07.2021Kompass der Menschlichkeit
Der Historiker Jacques Semelin erzählt, wie Menschen in der NS-Zeit Juden retteten und was sie antrieb.
Er hat den stillen Helden in einer dunklen Zeit ein Denkmal gesetzt
VON LUDGER HEID
Der französische Historiker und Politikwissenschaftler Jacques Semelin untersucht Formen der Hilfeleistung für die jüdischen Opfer der Verfolgung und des Holocaust. In seiner Studie „Ohne Waffen gegen Hitler“ beschreibt er den tagtäglichen Widerstand gegen den Nationalsozialismus, an dem Tausende, wenn nicht Zehntausende beteiligt waren.
Als ein Beispiel dafür gilt ihm der französische Ort Chambon-sur-Lignon, in dem Juden vor dem Zugriff der Nationalsozialisten gerettet wurden. In dem Dorf im Departement Haute-Loire, dem Land der Hugenotten, wo man Verfolgung aus eigener Anschauung kannte, wurden zwischen 1941 und 1944 Tausende Juden gerettet, indem man sie in Privatwohnungen und Bauernhöfen, aber auch in öffentlichen Einrichtungen versteckte, ihnen gefälschte Papiere ausstellte und über die Schweizer Grenze schleuste. Wenn Patrouillen der Deutschen anrückten, wurden die Juden auf dem Land außerhalb des Ortes versteckt. Später gingen die Einwohner in die Wälder und sangen ein bestimmtes Lied, um den Juden anzuzeigen, dass die unmittelbare Gefahr vorüber sei. Das Rettungsunternehmen war insofern einzigartig, als sich eine ganze Gemeinde aus christlicher Nächstenliebe zusammenschloss, um Juden vor dem Tod zu bewahren.
Für Semelin war es ein logischer Schritt, über die „Monstrosität der Barbarei“ zur humanitären Seite des menschlichen Verhaltens zu gelangen – der des Widerstands. Gemeint ist ein Widerstand, den Männer und Frauen mit bloßen Händen leisten, ein Widerstand, der sich in kleinen anonymen Gesten des Protestes und symbolischen Handlungen und auf die kleinstmögliche Abweichung in einer Diktatur ausdrückt – die Nonkonformität. Dazu gehören kollektive Formen des Widerstands wie Kundgebungen, Streiks, Verweigerungstaktiken, Ungehorsam und andere illegale Aktionen, die unter dem Begriff Zivilcourage zu rubrizieren sind. Für diese Art von Widerstand hat Arno Lustiger den Begriff „Rettungswiderstand“ eingeführt. Und der deutsch-amerikanische Historiker Fritz Stern hat die stille, ja meist heimliche Form des Widerstands einmal trefflich als „aktiven Anstand“ charakterisiert. Damit ist das Verhalten derjenigen beschrieben, die sich in den Jahren des Nationalsozialismus eine humane Orientierung bewahren wollten.
Widerstand gegen eine bewaffnete Macht zu leisten, heißt, anders zu kämpfen und originelle Formen der Opposition zu erfinden. Als die Vichy-Regierung im Sommer 1942 mit den Deportationen begann, protestierten Pariser gegen die Einführung des gelben Sterns mit Solidaritätsdemonstrationen, indem sie diese Maßnahme ins Lächerliche zogen: Sie schnitten sich Papiersterne zurecht, auf die sie „Neger“ schrieben, oder hefteten den gelben Stern ihrem Hund an, wenn sie mit ihm spazieren gingen.
Die bemerkenswerteste Solidaritätsbewegung in der Geschichte des Holocaust war zweifellos die Rettung der Juden in Dänemark: 95 Prozent der jüdischen Gemeinde blieb von der Deportation verschont, indem sie mit Schiffen nach Schweden gebracht wurden. Der Grund: ein Land, das weitgehend frei von Antisemitismus war und über einen hohen sozialen Zusammenhalt seiner Bevölkerung verfügte. Juden waren vollständig als Mitglieder der Nation angesehen. Die dänische Regierung vertrat gegenüber Berlin einen festen politischen Grundsatz: Partei für die Juden zu ergreifen hieß, einen Grundpfeiler der dänischen Verfassung zu verteidigen, nämlich die rechtliche Gleichstellung aller Bürger. Innerhalb nur weniger Tage war die Rettung der Juden zu einer nationalen Angelegenheit quer durch alle Schichten geworden. Es war ein Lehrstück darüber, „welch ungeheure Macht in gewaltloser Aktion und im Widerstand gegen einen an Gewaltmitteln vielfach überlegenen Gegner liegt“, so Hannah Arendt in ihrem Essay „Eichmann in Jerusalem“. Das Beispiel Dänemark wurde so zum Beweis dafür, dass Solidarität auch im nationalsozialistischen Europa, in direkter Nachbarschaft zu dem zum System erhobenen Verrat, noch existieren konnte. Es beweist, dass ein kleines, unbewaffnetes Volk, dem der Antisemitismus fremd geblieben war, die Möglichkeit hatte, die teuflische Logik des Holocaust zu durchbrechen.
Der Holocaust stand am Ende einer Entwicklung antisemitischer Kräfte, deren tiefgreifende Wurzeln bis weit vor den Krieg zurückreichten. Sie wuchsen in dem Maße an, als das internationale Umfeld mit Blick auf die Judenverfolgung gleichgültig blieb. Auch die Alliierten, obwohl im Bilde, unternahmen nichts Wesentliches, um die Vernichtung zu verhindern. Vor dem Hintergrund des totalen Krieges stellte Auschwitz aus ihrer Sicht kein strategisch relevantes Ziel dar. Der zivile Rettungswiderstand war ungleich wirkungsvoller – als nichts zu tun. Dessen Effizienz darf man freilich nicht ausschließlich im Licht dänischer Ereignisse beurteilen.
Die selbstlosen Helfer, die „Gerechten unter den Völkern“, sind Helden ihrer Zeit und das kostbarste moralische Kapital, das die europäischen Gesellschaften besitzen, weil sie die Ehre ihrer Mitbürger und der Menschheit während der barbarischsten Zeit bewahrt haben. Es waren zumeist einfache Menschen, die nie die Berühmtheit eines Oskar Schindler oder Raoul Wallenberg erreicht haben, gar nicht erreichen wollten, die allerdings über einen moralischen Kompass verfügten, der geeignet war, das ganze Universum zu retten.
Den stillen, „unbesungenen“ Helden wurde höchst selten ein Denkmal gesetzt. Das hat nunmehr Jacques Semelin mit seiner Studie getan. Durch die humanitäre Dimension der Judenretter gewinnt dieses zeitgeschichtliche Verhalten an Kontur.
Ludger Heid ist Historiker. Er lebt in Duisburg.
Die Dänen retteten 95 Prozent
der Juden im Land, weil ihnen
Antisemitismus fremd war
Mehr als 27 000 „Gerechte unter den Völkern“ zählt die Gedenkstätte Yad Vashem – nichtjüdische Menschen, die unter Lebensgefahr Juden vor dem Tod bewahrten. Wer – oft erst posthum – ausgezeichnet wird, erhält eine Ehrenurkunde, eine eigens geprägte Medaille, und darf einen Baum im „Garten der Gerechten“ pflanzen.
Foto: imago
Jacques Semelin:
Ohne Waffen gegen Hitler. Eine Studie zum zivilen Widerstand in Europa. Aus dem Französischen von Ralf Vandamme. Wallstein Verlag, Göttingen 2021. 281 Seiten, 34 Euro.
E-Book: 26,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Der Historiker Jacques Semelin erzählt, wie Menschen in der NS-Zeit Juden retteten und was sie antrieb.
Er hat den stillen Helden in einer dunklen Zeit ein Denkmal gesetzt
VON LUDGER HEID
Der französische Historiker und Politikwissenschaftler Jacques Semelin untersucht Formen der Hilfeleistung für die jüdischen Opfer der Verfolgung und des Holocaust. In seiner Studie „Ohne Waffen gegen Hitler“ beschreibt er den tagtäglichen Widerstand gegen den Nationalsozialismus, an dem Tausende, wenn nicht Zehntausende beteiligt waren.
Als ein Beispiel dafür gilt ihm der französische Ort Chambon-sur-Lignon, in dem Juden vor dem Zugriff der Nationalsozialisten gerettet wurden. In dem Dorf im Departement Haute-Loire, dem Land der Hugenotten, wo man Verfolgung aus eigener Anschauung kannte, wurden zwischen 1941 und 1944 Tausende Juden gerettet, indem man sie in Privatwohnungen und Bauernhöfen, aber auch in öffentlichen Einrichtungen versteckte, ihnen gefälschte Papiere ausstellte und über die Schweizer Grenze schleuste. Wenn Patrouillen der Deutschen anrückten, wurden die Juden auf dem Land außerhalb des Ortes versteckt. Später gingen die Einwohner in die Wälder und sangen ein bestimmtes Lied, um den Juden anzuzeigen, dass die unmittelbare Gefahr vorüber sei. Das Rettungsunternehmen war insofern einzigartig, als sich eine ganze Gemeinde aus christlicher Nächstenliebe zusammenschloss, um Juden vor dem Tod zu bewahren.
Für Semelin war es ein logischer Schritt, über die „Monstrosität der Barbarei“ zur humanitären Seite des menschlichen Verhaltens zu gelangen – der des Widerstands. Gemeint ist ein Widerstand, den Männer und Frauen mit bloßen Händen leisten, ein Widerstand, der sich in kleinen anonymen Gesten des Protestes und symbolischen Handlungen und auf die kleinstmögliche Abweichung in einer Diktatur ausdrückt – die Nonkonformität. Dazu gehören kollektive Formen des Widerstands wie Kundgebungen, Streiks, Verweigerungstaktiken, Ungehorsam und andere illegale Aktionen, die unter dem Begriff Zivilcourage zu rubrizieren sind. Für diese Art von Widerstand hat Arno Lustiger den Begriff „Rettungswiderstand“ eingeführt. Und der deutsch-amerikanische Historiker Fritz Stern hat die stille, ja meist heimliche Form des Widerstands einmal trefflich als „aktiven Anstand“ charakterisiert. Damit ist das Verhalten derjenigen beschrieben, die sich in den Jahren des Nationalsozialismus eine humane Orientierung bewahren wollten.
Widerstand gegen eine bewaffnete Macht zu leisten, heißt, anders zu kämpfen und originelle Formen der Opposition zu erfinden. Als die Vichy-Regierung im Sommer 1942 mit den Deportationen begann, protestierten Pariser gegen die Einführung des gelben Sterns mit Solidaritätsdemonstrationen, indem sie diese Maßnahme ins Lächerliche zogen: Sie schnitten sich Papiersterne zurecht, auf die sie „Neger“ schrieben, oder hefteten den gelben Stern ihrem Hund an, wenn sie mit ihm spazieren gingen.
Die bemerkenswerteste Solidaritätsbewegung in der Geschichte des Holocaust war zweifellos die Rettung der Juden in Dänemark: 95 Prozent der jüdischen Gemeinde blieb von der Deportation verschont, indem sie mit Schiffen nach Schweden gebracht wurden. Der Grund: ein Land, das weitgehend frei von Antisemitismus war und über einen hohen sozialen Zusammenhalt seiner Bevölkerung verfügte. Juden waren vollständig als Mitglieder der Nation angesehen. Die dänische Regierung vertrat gegenüber Berlin einen festen politischen Grundsatz: Partei für die Juden zu ergreifen hieß, einen Grundpfeiler der dänischen Verfassung zu verteidigen, nämlich die rechtliche Gleichstellung aller Bürger. Innerhalb nur weniger Tage war die Rettung der Juden zu einer nationalen Angelegenheit quer durch alle Schichten geworden. Es war ein Lehrstück darüber, „welch ungeheure Macht in gewaltloser Aktion und im Widerstand gegen einen an Gewaltmitteln vielfach überlegenen Gegner liegt“, so Hannah Arendt in ihrem Essay „Eichmann in Jerusalem“. Das Beispiel Dänemark wurde so zum Beweis dafür, dass Solidarität auch im nationalsozialistischen Europa, in direkter Nachbarschaft zu dem zum System erhobenen Verrat, noch existieren konnte. Es beweist, dass ein kleines, unbewaffnetes Volk, dem der Antisemitismus fremd geblieben war, die Möglichkeit hatte, die teuflische Logik des Holocaust zu durchbrechen.
Der Holocaust stand am Ende einer Entwicklung antisemitischer Kräfte, deren tiefgreifende Wurzeln bis weit vor den Krieg zurückreichten. Sie wuchsen in dem Maße an, als das internationale Umfeld mit Blick auf die Judenverfolgung gleichgültig blieb. Auch die Alliierten, obwohl im Bilde, unternahmen nichts Wesentliches, um die Vernichtung zu verhindern. Vor dem Hintergrund des totalen Krieges stellte Auschwitz aus ihrer Sicht kein strategisch relevantes Ziel dar. Der zivile Rettungswiderstand war ungleich wirkungsvoller – als nichts zu tun. Dessen Effizienz darf man freilich nicht ausschließlich im Licht dänischer Ereignisse beurteilen.
Die selbstlosen Helfer, die „Gerechten unter den Völkern“, sind Helden ihrer Zeit und das kostbarste moralische Kapital, das die europäischen Gesellschaften besitzen, weil sie die Ehre ihrer Mitbürger und der Menschheit während der barbarischsten Zeit bewahrt haben. Es waren zumeist einfache Menschen, die nie die Berühmtheit eines Oskar Schindler oder Raoul Wallenberg erreicht haben, gar nicht erreichen wollten, die allerdings über einen moralischen Kompass verfügten, der geeignet war, das ganze Universum zu retten.
Den stillen, „unbesungenen“ Helden wurde höchst selten ein Denkmal gesetzt. Das hat nunmehr Jacques Semelin mit seiner Studie getan. Durch die humanitäre Dimension der Judenretter gewinnt dieses zeitgeschichtliche Verhalten an Kontur.
Ludger Heid ist Historiker. Er lebt in Duisburg.
Die Dänen retteten 95 Prozent
der Juden im Land, weil ihnen
Antisemitismus fremd war
Mehr als 27 000 „Gerechte unter den Völkern“ zählt die Gedenkstätte Yad Vashem – nichtjüdische Menschen, die unter Lebensgefahr Juden vor dem Tod bewahrten. Wer – oft erst posthum – ausgezeichnet wird, erhält eine Ehrenurkunde, eine eigens geprägte Medaille, und darf einen Baum im „Garten der Gerechten“ pflanzen.
Foto: imago
Jacques Semelin:
Ohne Waffen gegen Hitler. Eine Studie zum zivilen Widerstand in Europa. Aus dem Französischen von Ralf Vandamme. Wallstein Verlag, Göttingen 2021. 281 Seiten, 34 Euro.
E-Book: 26,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.12.2021Die Kraft der Verweigerung
Jacques Semelin über Formen des zivilen Widerstands in Europa
Dieses Buch ist nicht neu, doch die Lektüre lohnt. Jacques Semelin, ein emeritierter französischer Historiker, dessen Studien zu Massengewalt und Widerstand weltweit Beachtung gefunden haben, hat das Buch bereits in den Achtzigerjahren geschrieben. Nun, mehr als dreißig Jahre später, kommt die deutsche Übersetzung heraus. Folgerichtig bildet die Studie nicht den aktuellen Stand der Forschung ab, die sich gerade seit den Neunzigerjahren intensiviert hat.
So wissen wir über den zivilen Widerstand in Deutschland und den besetzten Gebieten viel mehr als Semelin zum damaligen Zeitpunkt. Manche seiner Urteile zur deutschen Besatzungspolitik und zur Zusammenarbeit - Semelin benutzt den Ausdruck "collaboration", der im Französischen einen weniger moralischen Impetus besitzt als im Deutschen - mit den einheimischen Institutionen würden heute vielschichtiger ausfallen.
Den geographischen Schwerpunkt seines Buches bildet Westeuropa, was zum einen der Tatsache geschuldet ist, dass in den Achtzigern die osteuropäischen Archive noch verschlossen waren. Zum anderen führt Semelin an, dass in der rassistischen Perspektive der NS-Führung Osteuropa den künftigen deutschen Siedlungsraum darstellte, eine "Zusammenarbeit" mit den dortigen Institutionen deshalb von vorneherein ausgeschlossen war. Diese Annahme hat die Forschung inzwischen revidiert und gezeigt, wie stark auch in Ostmittel- wie Südosteuropa die deutsche Besatzungsadministration auf die Kooperation mit den einheimischen Eliten und Institutionen angewiesen war.
Doch trotz dieser Beschränkungen bietet Semelins Buch Einsichten, die es lohnen, auch heute noch wahrgenommen zu werden. Seine Stärke liegt hauptsächlich im systematischen Zugriff. Semelin entwickelt mit den historischen Beispielen aus Westeuropa eine allgemeine Matrix des Widerstands, die nicht veraltet ist. So argumentiert er schon früh in seinem Buch für ein breites Verständnis von Widerstand, der nicht nur mit der Waffe in der Hand, sondern eben auch zivil geleistet werden konnte, als Nonkonformität, Dissens, Verweigerung. Damit weitete Semelin in Frankreich den Blick für gesellschaftliche, zivile Formen des Widerstands.
Zu Recht weist Semelin auf die Bedeutung hin, die die Kooperationsbereitschaft beziehungsweise der Verweigerungswille der jeweiligen staatlichen Instanzen für die Legitimität zivilen Widerstands besaßen. In Dänemark beließen die deutschen Besatzer die Regierung im Amt und gestanden ihr weitgehende Handlungsräume zu. So waren zivilgesellschaftliche Aktivitäten gegen die Besatzungspolitik bis hin zur Rettungsaktion der dänischen Jüdinnen und Juden 1943 möglich.
Die niederländische Königin und das Kabinett waren ins Exil nach London geflohen, während im Land die Verwaltungsspitzen mit den Deutschen zusammenarbeiteten. So war die lückenlose Erfassung der Jüdinnen und Juden die wichtigste Voraussetzung für deren Deportation in die Vernichtungslager. Und zugleich gab es in den Niederlanden im Februar 1941 Streiks gegen die Judenverfolgung.
Semelin analysiert die Quellen zivilen Widerstands und misst der öffentlichen Meinung, soweit sie geäußert werden konnte, eine maßgebliche Rolle zu. Wie Timothy Snyder viele Jahre später unterstreicht Semelin, dass intakte staatliche und soziale Strukturen in den besetzten Ländern den Opfern einen Schutzschild bieten, aber auch von den Besatzern zur Verfolgung instrumentalisiert werden konnten. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs radikalisierte sich die deutsche Besatzungspolitik und ging immer mörderischer gegen Dissens vor. Ziviler Widerstand diente Semelin zufolge nun dem Überleben und sollte die physische Integrität und die Identität der besetzten Gesellschaft bewahren.
Mitunter zeichnet Semelin die Gesellschaften zu homogen, als geschlossene Akteure gegenüber der Besatzungsmacht. Hingegen werden seine Betrachtungen immer dann eindringlich, wenn er die Verflechtungen zwischen Besatzern und Besetzten untersucht. Diese Beziehungen unter asymmetrischen Gewaltverhältnissen stehen heute im Mittelpunkt der Holocaustforschung. Dazu kann Semelins gescheites Buch noch immer beitragen. MICHAEL WILDT
Jacques Semelin: "Ohne Waffen gegen Hitler". Eine Studie zum zivilen Widerstand in Europa.
Aus dem Französischen von Ralf Vandamme. Wallstein Verlag, Göttingen 2021. 285 S., geb., 34,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jacques Semelin über Formen des zivilen Widerstands in Europa
Dieses Buch ist nicht neu, doch die Lektüre lohnt. Jacques Semelin, ein emeritierter französischer Historiker, dessen Studien zu Massengewalt und Widerstand weltweit Beachtung gefunden haben, hat das Buch bereits in den Achtzigerjahren geschrieben. Nun, mehr als dreißig Jahre später, kommt die deutsche Übersetzung heraus. Folgerichtig bildet die Studie nicht den aktuellen Stand der Forschung ab, die sich gerade seit den Neunzigerjahren intensiviert hat.
So wissen wir über den zivilen Widerstand in Deutschland und den besetzten Gebieten viel mehr als Semelin zum damaligen Zeitpunkt. Manche seiner Urteile zur deutschen Besatzungspolitik und zur Zusammenarbeit - Semelin benutzt den Ausdruck "collaboration", der im Französischen einen weniger moralischen Impetus besitzt als im Deutschen - mit den einheimischen Institutionen würden heute vielschichtiger ausfallen.
Den geographischen Schwerpunkt seines Buches bildet Westeuropa, was zum einen der Tatsache geschuldet ist, dass in den Achtzigern die osteuropäischen Archive noch verschlossen waren. Zum anderen führt Semelin an, dass in der rassistischen Perspektive der NS-Führung Osteuropa den künftigen deutschen Siedlungsraum darstellte, eine "Zusammenarbeit" mit den dortigen Institutionen deshalb von vorneherein ausgeschlossen war. Diese Annahme hat die Forschung inzwischen revidiert und gezeigt, wie stark auch in Ostmittel- wie Südosteuropa die deutsche Besatzungsadministration auf die Kooperation mit den einheimischen Eliten und Institutionen angewiesen war.
Doch trotz dieser Beschränkungen bietet Semelins Buch Einsichten, die es lohnen, auch heute noch wahrgenommen zu werden. Seine Stärke liegt hauptsächlich im systematischen Zugriff. Semelin entwickelt mit den historischen Beispielen aus Westeuropa eine allgemeine Matrix des Widerstands, die nicht veraltet ist. So argumentiert er schon früh in seinem Buch für ein breites Verständnis von Widerstand, der nicht nur mit der Waffe in der Hand, sondern eben auch zivil geleistet werden konnte, als Nonkonformität, Dissens, Verweigerung. Damit weitete Semelin in Frankreich den Blick für gesellschaftliche, zivile Formen des Widerstands.
Zu Recht weist Semelin auf die Bedeutung hin, die die Kooperationsbereitschaft beziehungsweise der Verweigerungswille der jeweiligen staatlichen Instanzen für die Legitimität zivilen Widerstands besaßen. In Dänemark beließen die deutschen Besatzer die Regierung im Amt und gestanden ihr weitgehende Handlungsräume zu. So waren zivilgesellschaftliche Aktivitäten gegen die Besatzungspolitik bis hin zur Rettungsaktion der dänischen Jüdinnen und Juden 1943 möglich.
Die niederländische Königin und das Kabinett waren ins Exil nach London geflohen, während im Land die Verwaltungsspitzen mit den Deutschen zusammenarbeiteten. So war die lückenlose Erfassung der Jüdinnen und Juden die wichtigste Voraussetzung für deren Deportation in die Vernichtungslager. Und zugleich gab es in den Niederlanden im Februar 1941 Streiks gegen die Judenverfolgung.
Semelin analysiert die Quellen zivilen Widerstands und misst der öffentlichen Meinung, soweit sie geäußert werden konnte, eine maßgebliche Rolle zu. Wie Timothy Snyder viele Jahre später unterstreicht Semelin, dass intakte staatliche und soziale Strukturen in den besetzten Ländern den Opfern einen Schutzschild bieten, aber auch von den Besatzern zur Verfolgung instrumentalisiert werden konnten. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs radikalisierte sich die deutsche Besatzungspolitik und ging immer mörderischer gegen Dissens vor. Ziviler Widerstand diente Semelin zufolge nun dem Überleben und sollte die physische Integrität und die Identität der besetzten Gesellschaft bewahren.
Mitunter zeichnet Semelin die Gesellschaften zu homogen, als geschlossene Akteure gegenüber der Besatzungsmacht. Hingegen werden seine Betrachtungen immer dann eindringlich, wenn er die Verflechtungen zwischen Besatzern und Besetzten untersucht. Diese Beziehungen unter asymmetrischen Gewaltverhältnissen stehen heute im Mittelpunkt der Holocaustforschung. Dazu kann Semelins gescheites Buch noch immer beitragen. MICHAEL WILDT
Jacques Semelin: "Ohne Waffen gegen Hitler". Eine Studie zum zivilen Widerstand in Europa.
Aus dem Französischen von Ralf Vandamme. Wallstein Verlag, Göttingen 2021. 285 S., geb., 34,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Den stillen, 'unbesungenen' Helden wurde höchst selten ein Denkmal gesetzt. Das hat nunmehr Jacques Semelin mit seiner Studie getan.« (Ludger Heid, Süddeutsche Zeitung, 12.07.2021) "Dieses Buch ist nicht neu, doch die Lektüre lohnt.« (Michael Wildt, FAZ, 01.12.2021) »Viel zu selten wurde den zahlreichen unscheinbaren Helden der NS-Zeit, die sich dem System auf subtile und unspektakuläre Weise widersetzten, ein Denkmal gesetzt« (Cornelia Frenkel, UNIversalis-Zeitung, November 2021) »Ein Standardwerk über den zivilen Widerstand in Europa.« (Gaggenauer Woche, 05.05.2022)