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Ausgehend von einer Fahrt in seine Heimatstadt Hamburg, läßt der Meister des anekdotischen Erzählens darin die Leidenschaften und Irrtümer der 50er Jahre Revue passieren. Aus dem »Aufenthalt« kennt man diesen Niebuhr, der in polnischer Gefangenschaft von den Greueltaten der Nazis und der Wehrmacht erfuhr. Jener Lebensabschnitt behält sein Gewicht auch für den Erzähler dieses Romans, zumal ihn seinerzeit Stalin in den Kreml holen ließ, zu seinem »Ideengefäß« ernannte und auf einer Okarina spielte - Flötentöne, die lange in Niebuhr nachhallen. Aber auch eine Begegnung mit Norma-Marilyn geht ihm…mehr

Produktbeschreibung
Ausgehend von einer Fahrt in seine Heimatstadt Hamburg, läßt der Meister des anekdotischen Erzählens darin die Leidenschaften und Irrtümer der 50er Jahre Revue passieren. Aus dem »Aufenthalt« kennt man diesen Niebuhr, der in polnischer Gefangenschaft von den Greueltaten der Nazis und der Wehrmacht erfuhr. Jener Lebensabschnitt behält sein Gewicht auch für den Erzähler dieses Romans, zumal ihn seinerzeit Stalin in den Kreml holen ließ, zu seinem »Ideengefäß« ernannte und auf einer Okarina spielte - Flötentöne, die lange in Niebuhr nachhallen.
Aber auch eine Begegnung mit Norma-Marilyn geht ihm nicht aus dem Kopf. Zunächst wird Niebuhr Lehrer an einer Parteischule, dann Setzer und Drucker, schließlich Redakteur einer Zeitschrift namens »OKARINA«. Mit Behagen erinnert er sich an die angenehmen Momente seines Lebens, erzählt von Liebe, vom Tischbeißen und vom Klassenkampf.
Autorenporträt
Hermann Kant wurde 1926 in Hamburg geboren. Er machte eine Lehre zum Elektriker. Im Zweiten Weltkreig war er Soldat, befand sich von 1945-49 in polnischer Kriegsgefangenschaft. Der Mitbegründer des Antifa-Komitees war im Arbeitslager Warschau und Lehrer an der Antifa-Zentralschule. Ab 1949 besuchte er die Arbeiter- und Bauern-Fakultät Greifswald und studierte von 1952 bis 1956 Germanistik in Berlin. Danach arbeitete er als wissenschaftlicher Assistent und Redakteur. Er lebt seit 1962 als freier Schriftsteller in Berlin. Von 1978 bis 1989 war er Präsident des Schriftstellerverbandes der DDR.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.03.2002

Rattenfänger von Moskau
Hermann Kant bläst Stalins Marsch / Von Stephan Maus

Hermann Kant kennt mehr Wahrheiten als das offensichtliche Zusammenspiel der bloßen Fakten. Dem ehemaligen Präsidenten des DDR-Schriftstellerverbandes geht es um Höheres: "Vor dem Ereignis, das als Wende beschrieben steht, und über dieses hinaus hatte ich ein Organ gelesen, das ENDE hieß. Natürlich hieß es nicht ENDE, aber da in Geschichte statt der führenden eine höhere Wahrheit herrscht, soll es hier so heißen." Das neue Deutschland ist am Ende. Die Wahrheit hat mindestens zwei Stockwerke: Basis und Überbau. Kant bewegt sich im Überbau. So hat er mit "Okarina" einen autobiographischen Roman verfaßt, der mit historischen Ereignissen spielt, sie verkleidet und verschlüsselt. Kant sucht und gestaltet die poetische und sozialistische Wahrheit in der Geschichte.

"Okarina" kombiniert die Struktur des klassischen Bildungsromans mit den ausufernden Erzähltechniken des barocken Schelmenromans. Der wortgewaltige Ich-Erzähler schildert seine Entwicklung vom jungen deutschen Wehrmachtssoldaten zum überzeugten Antifaschisten, sozialistischen Parteisoldaten und linientreuen Führungskader. Man liest die Geschichte eines glasklaren, kritischen Bewußtseins und keinesfalls die Chronik einer Verblendung. Zu Beginn dieser kommunistischen Vita steht eine Mission: Im Herbst 1947 wird der deutsche Kriegsgefangene in den Kreml gerufen. Stalin lädt den Deutschen zum Tee, bringt ihm ein Ständchen auf einer tönernen Flöte, der Okarina, und erklärt ihn zu seinem geistigen Statthalter:"Diese auch für mich längst unglaubliche Szene gipfelte in Stalins Auftrag an einen verwirrten deutschen Gefangenen, er möge sich für den mißlichen Fall einer Niederlage als Gefäß der Ideen des Weltenführers bewähren. Einfach, indem er sie bewahre."

Der junge Mann folgt den stalinistischen Flötentönen. Zuerst jedoch muß das hohle Ideengefäß gefüllt werden. Während seiner Kriegsgefangenschaft im Warschauer Getto schließt sich der Erzähler einer antifaschistischen Gruppe an und erhält seine kommunistische Grundausbildung. Aus der unmittelbaren Anschauung der nationalsozialistischen Verbrechen leitet sich sein gesamtes Leben als überzeugter Kommunist her. Er findet sich im selben Lager wieder, in das seine Landsleute die Juden Europas einpferchten. Hier muß er im Zentrum für polygrafischen Bedarf riesige Berge von durcheinandergewürfelten Drucktypen sortieren. Kant setzt an den Beginn seines Textes ein greifbares Bild für die Ordnungskraft der Schrift und legt so das erzählerische Fundament für eine Hauptperson im Dienste der Buchstaben.

Nach seiner Kriegsgefangenschaft entscheidet sich der gebürtige Hamburger für ein Leben im und für den Kommunismus. In Ost-Berlin wird er erst Lehrer in einer Parteischule, die er nach einer gewagten Auslegung der offiziellen Geschichtsschreibung verlassen muß. Im Betrieb des sympathischen Kapitalistenehepaares Moeller & Moeller wird er Drucker und Setzer, im Fachjargon des Druckereigewerbes "Schweizerdegen". Bald macht ihn die Partei zum Verantwortlichen für ein "Organ für Kommunikations-Angelegenheiten Regionaler, Internationaler und Nationaler Art", kurz OKARINA. Für den Schweizerdegen wird der Stil nun zum Stilett, mit dem er seine Mission als Ideengefäß durchsetzt. Als Begleitmusik ertönen die Flötenklänge aus Moskau. Er avanciert zum "Sprecher der Sachbuchautoren". Dieses Ideengefäß geht so lange zum Brunnen, bis die Mauer fällt. Nach einem langen Leben voller Abenteuer im Überbau der sozialistischen Staatsmacht zieht sich der Erzähler zurück an die Mecklenburger Seenplatte, die als Landschaft eines melancholischen, aber tapferen Exils erscheint.

Hermann Kant entwirft mit weit ausholendem Erzählgestus ein hochinteressantes, lehrreiches und amüsantes Panorama der Nachkriegsgeschichte aus der heute seltenen Perspektive eines überzeugten kommunistischen Kaders. Er eröffnet seinen Roman mit einer Eislaufszene auf der zugefrorenen Alster ganz im Stil klassischer holländischer Maler. Auch im Text erweist er sich als Alter Meister, überzeugt mit unzähligen schillernden Personenporträts, dichten Milieu-, Stadt- und Landschaftsbeschreibungen und verzwickten Nachrichtendienstmanövern. Den Roman nach einer Flöte mit eher begrenztem Klangvolumen zu benennen ist ein Understatement: "Okarina" ist eine üppig instrumentierte Orchestersuite.

Schwungvoll vermittelt Kant den revolutionären Elan, mit dem in den Anfängen der DDR versucht wurde, eine neue Gesellschaftsordnung zu erfinden. Alle Romanfiguren sind ausgeprägte Charakterköpfe mit gut geöltem Mundwerk. Ob Kapitalisten, Anarchisten oder Kommunisten, ihre Dialoge funkeln vor Esprit. Kant betreibt keine billige Propaganda, sondern zeichnet die Irrungen und Wirrungen eines überzeugten Marxisten. Seine Hauptfigur ist ein ostdeutscher Simplicissimus. Wie sein Buchstaben sortierender, Lettern polierender und Drucktypen manövrierender Held dreht der Autor jeden Buchstaben dreimal und sich selbst das Wort im Munde um.

Bei Kant schlägt sich das dialektische Denken noch in den Stilfiguren nieder. Er scheint unter grammatikalischem Beziehungswahn zu leiden, der aus dem ständigen Versuch erwächst, die Welt auf der Suche nach den großen Zusammenhängen zu durchleuchten. Der Autor gestaltet sein beachtliches Textvolumen mit Hilfe von Leitmotiven, deren augenscheinlichstes die immer wieder erklingende Tonflöte des obersten Rattenfängers von Moskau ist. Meisterhaft beherrscht Kant die Kunst, eine Metapher oder ein Bild im Textverlauf wiederaufzunehmen, zu variieren oder in ein anderes thematisches Register zu heben.

Kant zeigt sich in seinem Text voller erfrischender polemischer Verve. Er ist ein amüsanter Kapitalistenfresser, dem auch nach all den Jahren der Appetit nicht vergangen ist. Den Alltag eines Parteifunktionärs zeigt er als ewiges Hadern mit den Kadern und ständiges Ausloten der eigenen Freiheiten in den engen Grenzen der Parteilinie. Doch bei allem Auslegungskampf bleibt die Parteidisziplin oberstes Gebot, denn der Klassenkampf will vor allem gewonnen sein. Eine Alternative zum Sozialismus wird nicht sichtbar: "Ich habe nicht gezählt, wie oft ich gefragt wurde, warum ich bei der Sache blieb, ihr nicht einfach anhing, sondern ihr, wo nötig, voranging. Ich zähle auch weiterhin die Antwort nicht; sie ist gegeben. In hohem Ton: Weil ich die Sache nicht mit dem Makel verwechselte und meinte, ich könnte jene von diesem befreien. Leiser Zusatz, nicht für jeden bestimmt: Und weil ich eine andere Sache weder sah noch sehe." Mit dieser Haltung hat der Autor viel Haß auf sich gezogen und wird auch jetzt wieder mit Gezeter rechnen müssen. Man braucht ihn dafür nicht unbedingt zu bedauern, denn mit Polemik hat er sich niemals zurückgehalten. Hermann Kant hat in den letzten fünfzehn Jahren viel Macht verloren. Seine Sprachmacht wird ihm keiner nehmen können.

Hermann Kant: "Okarina". Roman. Aufbau-Verlag, Berlin 2002. 463 S., geb., 22,50 .

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Der Autor leidet unter "grammatikalischem Beziehungswahn", stellt Stephan Maus fest und nimmt dies als Beweis für Kants fortgesetztes dialektisches Denken, das sich selbst in seinen Stilfiguren niederschlage. "Okarina" sei ein sprachgewaltiges, beinahe barockes Werk, das formal den Gesetzen des klassischen Bildungsromans folge: Junger deutscher Wehrmachtssoldat entwickelt sich zum überzeugten Antifaschisten. Soweit entspricht die Handlung auch Kants persönlicher Geschichte, behauptet Maus; Kant bringe das ganze wiederum auf eine Metaebene, indem er den jungen Mann zum Ideenträger und ideellen Gefäß des großen Genossen Stalin mache: er tanzt fortan ideologisch nach der Flöte Stalins, der Okarina. Nun wird damit keinesfalls eine kritische Stimme laut, warnt Maus, die sich am Sozialismus abarbeiten würde. Vielmehr erzähle Kant seine verschlungene Geschichte, die weit in die DDR hinreicht, aus der unerschütterten Perspektive eines überzeugten Altkommunisten. Dies einmal akzeptiert, kann man sich laut Maus an Kants "polemischer Verve" erfreuen, denn er sei zwar heutzutage ein Mann ohne gesellschaftliche Macht, verfüge aber über sehr viel "Sprachmacht".

© Perlentaucher Medien GmbH
»...zeugt von Meisterschaft, sinnlicher Lebensfreude und einer Lust am Humor...« Frankfurter Neue Presse 20030314