Aus dem Aufenthalt kennt man diesen Niebuhr, der in polnischer Gefangenschaft erfuhr, was die Nazis und die Wehrmacht angerichtet hatten. Die "polnische Abteilung seines Lebens" behält ihr Gewicht auch für den Erzähler dieses Romans, zumal seinerzeit Merkwürdiges geschah: Stalin habe ihn in den Kreml holen lassen, zu seinem "Ideengefäß" ernannt und auf einer Okarina gespielt - Flötentöne, die ihn lange besetzt halten. Und seitdem ihm damals - eine ebenso mythische Angelegenheit - Norma-Marilyn begegnet sei, durchziehen Liebesgeschichten sein Leben. Zunächst wird er Lehrer an einer Parteischule, dann Setzer und Drucker, schließlich Redakteur einer Zeitschrift für Kommunikation, OKARINA benannt. Mit Behagen verweilt der Erzähler bei angenehmen Momenten seines Lebens, erzählt von Liebe, vom Tischbeißen und vom Klassenkampf, wobei er sich - wie man das bei Kant kennt - keinen Wortwitz und keine Anspielung entgehen läßt. Doch bedenkt er auch den möglichen Irrtum. Deshalb ist auch von Sturheit und Dogmatismus die Rede, vom Wirken unterschiedlichster Geheimdienste und schließlich von einer zunehmenden "Vereisung". So ist ein gewichtiger Roman entstanden, der sich einer sehr beteiligten Auseinandersetzung mit der Geschichte der DDR verschrieben hat."Voller erfrischender polemischer Verve" F.A.Z."Ein Zeitdokument von hohem Wert" nannte die Süddeutsche Zeitung diesen jüngsten Roman Hermann Kants. Der Autor so bedeutender Werke wie "Die Aula" und "Der Aufenthalt" läßt - wie immer sprachlich virtuos - die zuweilen wilden und widrigen Jahre der DDR Revue passieren. Wo in dieser teils wehmütigen, stets aber kurzweiligen "Halbmär" Erlebtes und wo Erdachtes sich findet, kann man mit großem Vergnügen selbst zu enträtseln versuchen."Ein starkes Buch voller Anspielungen, Gescheitheiten, Widersprüche, Schnurren und wirklich schöner Erzählstücke." Neues Deutschland
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.03.2002Rattenfänger von Moskau
Hermann Kant bläst Stalins Marsch / Von Stephan Maus
Hermann Kant kennt mehr Wahrheiten als das offensichtliche Zusammenspiel der bloßen Fakten. Dem ehemaligen Präsidenten des DDR-Schriftstellerverbandes geht es um Höheres: "Vor dem Ereignis, das als Wende beschrieben steht, und über dieses hinaus hatte ich ein Organ gelesen, das ENDE hieß. Natürlich hieß es nicht ENDE, aber da in Geschichte statt der führenden eine höhere Wahrheit herrscht, soll es hier so heißen." Das neue Deutschland ist am Ende. Die Wahrheit hat mindestens zwei Stockwerke: Basis und Überbau. Kant bewegt sich im Überbau. So hat er mit "Okarina" einen autobiographischen Roman verfaßt, der mit historischen Ereignissen spielt, sie verkleidet und verschlüsselt. Kant sucht und gestaltet die poetische und sozialistische Wahrheit in der Geschichte.
"Okarina" kombiniert die Struktur des klassischen Bildungsromans mit den ausufernden Erzähltechniken des barocken Schelmenromans. Der wortgewaltige Ich-Erzähler schildert seine Entwicklung vom jungen deutschen Wehrmachtssoldaten zum überzeugten Antifaschisten, sozialistischen Parteisoldaten und linientreuen Führungskader. Man liest die Geschichte eines glasklaren, kritischen Bewußtseins und keinesfalls die Chronik einer Verblendung. Zu Beginn dieser kommunistischen Vita steht eine Mission: Im Herbst 1947 wird der deutsche Kriegsgefangene in den Kreml gerufen. Stalin lädt den Deutschen zum Tee, bringt ihm ein Ständchen auf einer tönernen Flöte, der Okarina, und erklärt ihn zu seinem geistigen Statthalter:"Diese auch für mich längst unglaubliche Szene gipfelte in Stalins Auftrag an einen verwirrten deutschen Gefangenen, er möge sich für den mißlichen Fall einer Niederlage als Gefäß der Ideen des Weltenführers bewähren. Einfach, indem er sie bewahre."
Der junge Mann folgt den stalinistischen Flötentönen. Zuerst jedoch muß das hohle Ideengefäß gefüllt werden. Während seiner Kriegsgefangenschaft im Warschauer Getto schließt sich der Erzähler einer antifaschistischen Gruppe an und erhält seine kommunistische Grundausbildung. Aus der unmittelbaren Anschauung der nationalsozialistischen Verbrechen leitet sich sein gesamtes Leben als überzeugter Kommunist her. Er findet sich im selben Lager wieder, in das seine Landsleute die Juden Europas einpferchten. Hier muß er im Zentrum für polygrafischen Bedarf riesige Berge von durcheinandergewürfelten Drucktypen sortieren. Kant setzt an den Beginn seines Textes ein greifbares Bild für die Ordnungskraft der Schrift und legt so das erzählerische Fundament für eine Hauptperson im Dienste der Buchstaben.
Nach seiner Kriegsgefangenschaft entscheidet sich der gebürtige Hamburger für ein Leben im und für den Kommunismus. In Ost-Berlin wird er erst Lehrer in einer Parteischule, die er nach einer gewagten Auslegung der offiziellen Geschichtsschreibung verlassen muß. Im Betrieb des sympathischen Kapitalistenehepaares Moeller & Moeller wird er Drucker und Setzer, im Fachjargon des Druckereigewerbes "Schweizerdegen". Bald macht ihn die Partei zum Verantwortlichen für ein "Organ für Kommunikations-Angelegenheiten Regionaler, Internationaler und Nationaler Art", kurz OKARINA. Für den Schweizerdegen wird der Stil nun zum Stilett, mit dem er seine Mission als Ideengefäß durchsetzt. Als Begleitmusik ertönen die Flötenklänge aus Moskau. Er avanciert zum "Sprecher der Sachbuchautoren". Dieses Ideengefäß geht so lange zum Brunnen, bis die Mauer fällt. Nach einem langen Leben voller Abenteuer im Überbau der sozialistischen Staatsmacht zieht sich der Erzähler zurück an die Mecklenburger Seenplatte, die als Landschaft eines melancholischen, aber tapferen Exils erscheint.
Hermann Kant entwirft mit weit ausholendem Erzählgestus ein hochinteressantes, lehrreiches und amüsantes Panorama der Nachkriegsgeschichte aus der heute seltenen Perspektive eines überzeugten kommunistischen Kaders. Er eröffnet seinen Roman mit einer Eislaufszene auf der zugefrorenen Alster ganz im Stil klassischer holländischer Maler. Auch im Text erweist er sich als Alter Meister, überzeugt mit unzähligen schillernden Personenporträts, dichten Milieu-, Stadt- und Landschaftsbeschreibungen und verzwickten Nachrichtendienstmanövern. Den Roman nach einer Flöte mit eher begrenztem Klangvolumen zu benennen ist ein Understatement: "Okarina" ist eine üppig instrumentierte Orchestersuite.
Schwungvoll vermittelt Kant den revolutionären Elan, mit dem in den Anfängen der DDR versucht wurde, eine neue Gesellschaftsordnung zu erfinden. Alle Romanfiguren sind ausgeprägte Charakterköpfe mit gut geöltem Mundwerk. Ob Kapitalisten, Anarchisten oder Kommunisten, ihre Dialoge funkeln vor Esprit. Kant betreibt keine billige Propaganda, sondern zeichnet die Irrungen und Wirrungen eines überzeugten Marxisten. Seine Hauptfigur ist ein ostdeutscher Simplicissimus. Wie sein Buchstaben sortierender, Lettern polierender und Drucktypen manövrierender Held dreht der Autor jeden Buchstaben dreimal und sich selbst das Wort im Munde um.
Bei Kant schlägt sich das dialektische Denken noch in den Stilfiguren nieder. Er scheint unter grammatikalischem Beziehungswahn zu leiden, der aus dem ständigen Versuch erwächst, die Welt auf der Suche nach den großen Zusammenhängen zu durchleuchten. Der Autor gestaltet sein beachtliches Textvolumen mit Hilfe von Leitmotiven, deren augenscheinlichstes die immer wieder erklingende Tonflöte des obersten Rattenfängers von Moskau ist. Meisterhaft beherrscht Kant die Kunst, eine Metapher oder ein Bild im Textverlauf wiederaufzunehmen, zu variieren oder in ein anderes thematisches Register zu heben.
Kant zeigt sich in seinem Text voller erfrischender polemischer Verve. Er ist ein amüsanter Kapitalistenfresser, dem auch nach all den Jahren der Appetit nicht vergangen ist. Den Alltag eines Parteifunktionärs zeigt er als ewiges Hadern mit den Kadern und ständiges Ausloten der eigenen Freiheiten in den engen Grenzen der Parteilinie. Doch bei allem Auslegungskampf bleibt die Parteidisziplin oberstes Gebot, denn der Klassenkampf will vor allem gewonnen sein. Eine Alternative zum Sozialismus wird nicht sichtbar: "Ich habe nicht gezählt, wie oft ich gefragt wurde, warum ich bei der Sache blieb, ihr nicht einfach anhing, sondern ihr, wo nötig, voranging. Ich zähle auch weiterhin die Antwort nicht; sie ist gegeben. In hohem Ton: Weil ich die Sache nicht mit dem Makel verwechselte und meinte, ich könnte jene von diesem befreien. Leiser Zusatz, nicht für jeden bestimmt: Und weil ich eine andere Sache weder sah noch sehe." Mit dieser Haltung hat der Autor viel Haß auf sich gezogen und wird auch jetzt wieder mit Gezeter rechnen müssen. Man braucht ihn dafür nicht unbedingt zu bedauern, denn mit Polemik hat er sich niemals zurückgehalten. Hermann Kant hat in den letzten fünfzehn Jahren viel Macht verloren. Seine Sprachmacht wird ihm keiner nehmen können.
Hermann Kant: "Okarina". Roman. Aufbau-Verlag, Berlin 2002. 463 S., geb., 22,50.
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Hermann Kant bläst Stalins Marsch / Von Stephan Maus
Hermann Kant kennt mehr Wahrheiten als das offensichtliche Zusammenspiel der bloßen Fakten. Dem ehemaligen Präsidenten des DDR-Schriftstellerverbandes geht es um Höheres: "Vor dem Ereignis, das als Wende beschrieben steht, und über dieses hinaus hatte ich ein Organ gelesen, das ENDE hieß. Natürlich hieß es nicht ENDE, aber da in Geschichte statt der führenden eine höhere Wahrheit herrscht, soll es hier so heißen." Das neue Deutschland ist am Ende. Die Wahrheit hat mindestens zwei Stockwerke: Basis und Überbau. Kant bewegt sich im Überbau. So hat er mit "Okarina" einen autobiographischen Roman verfaßt, der mit historischen Ereignissen spielt, sie verkleidet und verschlüsselt. Kant sucht und gestaltet die poetische und sozialistische Wahrheit in der Geschichte.
"Okarina" kombiniert die Struktur des klassischen Bildungsromans mit den ausufernden Erzähltechniken des barocken Schelmenromans. Der wortgewaltige Ich-Erzähler schildert seine Entwicklung vom jungen deutschen Wehrmachtssoldaten zum überzeugten Antifaschisten, sozialistischen Parteisoldaten und linientreuen Führungskader. Man liest die Geschichte eines glasklaren, kritischen Bewußtseins und keinesfalls die Chronik einer Verblendung. Zu Beginn dieser kommunistischen Vita steht eine Mission: Im Herbst 1947 wird der deutsche Kriegsgefangene in den Kreml gerufen. Stalin lädt den Deutschen zum Tee, bringt ihm ein Ständchen auf einer tönernen Flöte, der Okarina, und erklärt ihn zu seinem geistigen Statthalter:"Diese auch für mich längst unglaubliche Szene gipfelte in Stalins Auftrag an einen verwirrten deutschen Gefangenen, er möge sich für den mißlichen Fall einer Niederlage als Gefäß der Ideen des Weltenführers bewähren. Einfach, indem er sie bewahre."
Der junge Mann folgt den stalinistischen Flötentönen. Zuerst jedoch muß das hohle Ideengefäß gefüllt werden. Während seiner Kriegsgefangenschaft im Warschauer Getto schließt sich der Erzähler einer antifaschistischen Gruppe an und erhält seine kommunistische Grundausbildung. Aus der unmittelbaren Anschauung der nationalsozialistischen Verbrechen leitet sich sein gesamtes Leben als überzeugter Kommunist her. Er findet sich im selben Lager wieder, in das seine Landsleute die Juden Europas einpferchten. Hier muß er im Zentrum für polygrafischen Bedarf riesige Berge von durcheinandergewürfelten Drucktypen sortieren. Kant setzt an den Beginn seines Textes ein greifbares Bild für die Ordnungskraft der Schrift und legt so das erzählerische Fundament für eine Hauptperson im Dienste der Buchstaben.
Nach seiner Kriegsgefangenschaft entscheidet sich der gebürtige Hamburger für ein Leben im und für den Kommunismus. In Ost-Berlin wird er erst Lehrer in einer Parteischule, die er nach einer gewagten Auslegung der offiziellen Geschichtsschreibung verlassen muß. Im Betrieb des sympathischen Kapitalistenehepaares Moeller & Moeller wird er Drucker und Setzer, im Fachjargon des Druckereigewerbes "Schweizerdegen". Bald macht ihn die Partei zum Verantwortlichen für ein "Organ für Kommunikations-Angelegenheiten Regionaler, Internationaler und Nationaler Art", kurz OKARINA. Für den Schweizerdegen wird der Stil nun zum Stilett, mit dem er seine Mission als Ideengefäß durchsetzt. Als Begleitmusik ertönen die Flötenklänge aus Moskau. Er avanciert zum "Sprecher der Sachbuchautoren". Dieses Ideengefäß geht so lange zum Brunnen, bis die Mauer fällt. Nach einem langen Leben voller Abenteuer im Überbau der sozialistischen Staatsmacht zieht sich der Erzähler zurück an die Mecklenburger Seenplatte, die als Landschaft eines melancholischen, aber tapferen Exils erscheint.
Hermann Kant entwirft mit weit ausholendem Erzählgestus ein hochinteressantes, lehrreiches und amüsantes Panorama der Nachkriegsgeschichte aus der heute seltenen Perspektive eines überzeugten kommunistischen Kaders. Er eröffnet seinen Roman mit einer Eislaufszene auf der zugefrorenen Alster ganz im Stil klassischer holländischer Maler. Auch im Text erweist er sich als Alter Meister, überzeugt mit unzähligen schillernden Personenporträts, dichten Milieu-, Stadt- und Landschaftsbeschreibungen und verzwickten Nachrichtendienstmanövern. Den Roman nach einer Flöte mit eher begrenztem Klangvolumen zu benennen ist ein Understatement: "Okarina" ist eine üppig instrumentierte Orchestersuite.
Schwungvoll vermittelt Kant den revolutionären Elan, mit dem in den Anfängen der DDR versucht wurde, eine neue Gesellschaftsordnung zu erfinden. Alle Romanfiguren sind ausgeprägte Charakterköpfe mit gut geöltem Mundwerk. Ob Kapitalisten, Anarchisten oder Kommunisten, ihre Dialoge funkeln vor Esprit. Kant betreibt keine billige Propaganda, sondern zeichnet die Irrungen und Wirrungen eines überzeugten Marxisten. Seine Hauptfigur ist ein ostdeutscher Simplicissimus. Wie sein Buchstaben sortierender, Lettern polierender und Drucktypen manövrierender Held dreht der Autor jeden Buchstaben dreimal und sich selbst das Wort im Munde um.
Bei Kant schlägt sich das dialektische Denken noch in den Stilfiguren nieder. Er scheint unter grammatikalischem Beziehungswahn zu leiden, der aus dem ständigen Versuch erwächst, die Welt auf der Suche nach den großen Zusammenhängen zu durchleuchten. Der Autor gestaltet sein beachtliches Textvolumen mit Hilfe von Leitmotiven, deren augenscheinlichstes die immer wieder erklingende Tonflöte des obersten Rattenfängers von Moskau ist. Meisterhaft beherrscht Kant die Kunst, eine Metapher oder ein Bild im Textverlauf wiederaufzunehmen, zu variieren oder in ein anderes thematisches Register zu heben.
Kant zeigt sich in seinem Text voller erfrischender polemischer Verve. Er ist ein amüsanter Kapitalistenfresser, dem auch nach all den Jahren der Appetit nicht vergangen ist. Den Alltag eines Parteifunktionärs zeigt er als ewiges Hadern mit den Kadern und ständiges Ausloten der eigenen Freiheiten in den engen Grenzen der Parteilinie. Doch bei allem Auslegungskampf bleibt die Parteidisziplin oberstes Gebot, denn der Klassenkampf will vor allem gewonnen sein. Eine Alternative zum Sozialismus wird nicht sichtbar: "Ich habe nicht gezählt, wie oft ich gefragt wurde, warum ich bei der Sache blieb, ihr nicht einfach anhing, sondern ihr, wo nötig, voranging. Ich zähle auch weiterhin die Antwort nicht; sie ist gegeben. In hohem Ton: Weil ich die Sache nicht mit dem Makel verwechselte und meinte, ich könnte jene von diesem befreien. Leiser Zusatz, nicht für jeden bestimmt: Und weil ich eine andere Sache weder sah noch sehe." Mit dieser Haltung hat der Autor viel Haß auf sich gezogen und wird auch jetzt wieder mit Gezeter rechnen müssen. Man braucht ihn dafür nicht unbedingt zu bedauern, denn mit Polemik hat er sich niemals zurückgehalten. Hermann Kant hat in den letzten fünfzehn Jahren viel Macht verloren. Seine Sprachmacht wird ihm keiner nehmen können.
Hermann Kant: "Okarina". Roman. Aufbau-Verlag, Berlin 2002. 463 S., geb., 22,50
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»...zeugt von Meisterschaft, sinnlicher Lebensfreude und einer Lust am Humor...« Frankfurter Neue Presse 20030314