Der Band enthält mit 405 Briefen die überlieferte Korrespondenz von Friedrich Engels mit etwa 130 Briefpartnern zwischen Oktober 1889 und November 1890. 172 Briefe an Engels werden hier erstmals veröffentlicht. Der Briefwechsel gewährt Einblick in eine Umbruchszeit der europäischen Arbeiterbewegungen. Gewerkschaften und Arbeiterparteien erhielten neue Impulse durch Streiks und Demonstrationen und gelangten 1889/90 an eine Wende hin zu Massenorganisationen, angeführt von britischen Gewerkschaften, die in der Folge des Hafenarbeiter-Streiks im August 1889 erstmals un- und angelernte Arbeiter neben Facharbeitern versammelten. Der 1. Mai 1890 wurde mit zahlreichen Veranstaltungen europaweit zu einer eindrucksvollen Demonstration der neuen Stärke und zugleich der internationalen Vernetzung, denn Ausgangspunkt war eine Resolution eines Zusammenschlusses von Arbeiterorganisationen im Juli 1889, der als II. Internationale bekannt wurde. Parlamente und Wahlen standen im Zentrum des Interesses, etwa in Frankreich im September/Oktober 1889 oder im Deutschen Kaiserreich im Februar 1890. Ihre Ergebnisse wurden von Engels und seinen Briefpartnern genauestens beobachtet und ausgiebig diskutiert: die Mobilisierung von weit über einer Millionen Wählern für die deutschen Sozialdemokraten, ebenso wie etwa die Bildung einer sozialistischen Gruppe in der französischen Deputiertenkammer und im Pariser Stadtrat. In den europäischen Ländern warben viele verschiedene politische Richtungen und Gruppierungen um die Gunst der wachsenden Zahl von Arbeitern. Ihre Auseinandersetzungen spiegeln sich deutlich im Austausch zwischen Engels und seinen Briefpartnern. Insbesondere Frankreich spielt hierbei eine wichtige Rolle, wo die Konfliktlinien nicht nur zwischen revolutionären und reformerisch ausgerichteten Kräften verliefen, sondern auch um die Haltung zu Boulangers nationalistischer Bewegung gestritten wurde. Ebenso wichtig ist Deutschland, wo sich bereits Anfang des Jahres 1890 abzeichnete, dass das Sozialistengesetz nicht mehr verlängert und damit die sozialdemokratische Partei in die Legalität zurückkehren würde. Dies setzte, zusammen mit dem Zulauf neuer Mitglieder, einen Diskussionsprozess in Gang, in dem heftig über Ziele und Mittel zukünftiger Politik gestritten wurde. Schließlich ist auch die Arbeit von Engels am Nachlass von Marx ein Thema in den Briefen, insbesondere am dritten Band des "Kapital". Ebenso finden sich Hinweise zu anderen Arbeiten von Engels, wie der vierten Auflage des Kommunistischen Manifestes.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Jens Grandt hat den Briefwechsel Friedrich Engels' von Oktober 1889 bis November 1890 mit Genuss gelesen. Mit großem Interesse durchstöbert er die 160 Briefe von und 290 Briefe an Engels, die teilweise erstmals publiziert werden. Neben einigen sehr persönlichen Briefen liest der Kritiker äußerst optimistische Berichte über die Wiederauferstehung der Arbeiterbewegung. So begrüßte Engels etwa die ersten großen Streiks in England, forderte - fast naiv -, dass die Arbeiter ihre eigenen Fehler und Erfahrungen machen, während er auf die "naseweisen Literaten" schimpfte. Nach der Lektüre dieser Briefe sinniert der Rezensent einmal mehr über die Frage, ob Engels nicht vielleicht doch ein "verkappter" Sozialdemokrat war.
© Perlentaucher Medien GmbH
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