Charles Dickens war schon zu Lebzeiten ungemein populär - wir heute würden sagen: ein Star. Als er 1867 seine zweite Amerikareise antrat, richtete man ihm in London ein Staatsbankett aus, in Boston wurde er mit einem Feuerwerk empfangen, die New Yorker standen in eisiger Winternacht stundenlang an, um Karten für seine Lesung zu bekommen - Höhepunkt der Lesungen waren stets Auszuge aus »Oliver Twist.«Angeregt durch die neuen Armengesetze von 1834 erzählt Dickens von den Schatten, die auf den Glanz der viktorianischen Zeit fallen und mit dem industriellen Aufschwung einhergehen: Armut, Kriminalität, Prostitution und die Verelendung breiter Gesellschaftsschichten. Eine weitere Anregung waren die traumatischen Erlebnisse seiner eigenen Kindheit. Das Motiv des alleingelassenen, unglücklichen und bedrohten Kindes, das in seinem Werk ständig wiederkehren wird, nimmt in »Oliver Twist« erstmals feste Gestalt an. Oliver wird im Armenhaus einer englischen Kleinstadt geboren, der Vater ist unbekannt, die Mutter stirbt gleich nach der Geburt. Seine Kindheit ist trostlos. Mit 9 Jahren kommt er ins Arbeitshaus und wird wenig später zu einem Sargtischler in die Lehre gegeben. Nach einem heftigen Streit flieht er nach London, gerät in eine Bande jugendlicher Taschendiebe und fällt dem Schurken Fagin in die Hände, der ihn zum Dieb ausbilden will. Es folgen mancherlei weitere Verwicklungen, bis schließlich Olivers Identität geklärt wird und sein Leben in ruhigere Bahnen gerat. Axel Monte hat den Roman neu für die 'Reclam Bibliothek' übersetzt.
Aus der Tiefe des Schrankes
Das Elend und seine Verwandlung in reines Sacharin: Deutsche Neuerscheinungen zum 200. Geburtstag von Charles Dickens
Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, über die man immer noch spricht, sind in der Regel nicht allein in ihren dicken Büchern präsent, für deren Lektüre die wenigsten Zeitgenossen die Muße finden. Kostümfilme spielen hier eine Rolle, und für Victor Hugo wurde das Musical zum Gefäß der Überlieferung. Bei Charles Dickens, der vor zweihundert Jahren geboren wurde, sind es die Figuren, die sich vom Buch gelöst haben und als anekdotische Existenzen das kollektive Gedächtnis bevölkern, zumindest das der angelsächsischen Welt.
Die erstaunlichste und gleichwohl eine typische Karriere hat dabei Ebenezer Scrooge hinter sich, der alte Geizhals aus der „Weihnachtsgeschichte“, der durch die drei Geister der vergangenen, der gegenwärtigen und der zukünftigen Weihnacht so gründlich erschreckt wird, dass sein hartes Herz vor Rührung zerschmilzt und er sich fortan als Menschenfreund betätigt. Disney hat die Geschichte in einen Zeichentrickfilm und ihn selbst in eine alte Ente mit Galoschen und Zylinder verwandelt – so erfolgreich, dass sie seither als „Scrooge McDuck“ in der Comic-Welt lebt, im Deutschen, unter Tilgung des Dickens- Bezugs, als Dagobert Duck.
Scrooge McDuck kann als Inbegriff dessen gelten, was eine Dickens’sche Figur ausmacht. Sie beschränkt sich immer auf ein paar typische Züge; doch diese Züge prägen sich ein. Scrooge ist ein Charakter und nichts sonst; in seinem Charakter sitzt er sozusagen gefangen. Ihm widerfahren die eigentümlichsten Ereignisse; aber sie haben keine Macht über ihn, sie perlen ab wie vom Gefieder der Ente, die Dimension der Erfahrung fehlt ihm zur Gänze. Charakter tritt an Stelle der Psychologie, der Entwicklung, der Seele, wie auch immer man jenes andere nennen mag, das Comic-Figuren in der Regel abgeht. Dafür drückt er sich unverwechselbar in seinem Erscheinungsbild aus, das sich aus Physiognomie, Gestik, Stimme, Kleidung und Accessoires gleichrangig zusammensetzt.
Es dürfte kein Zufall sein, dass der Übertritt von Scrooge aus der viktorianischen Erzählung in die Populärkultur sich gerade im Zusammenhang mit dem Weihnachtsfest vollzogen hat, dem Fest, das nicht nur eines der Kinder ist, sondern dem Kindlichen auch im Erwachsenen zu seinem Recht verhilft. Es steckt darin jede Menge Regression und Sentimentalität; aber doch auch der aufrichtige Wunsch, die Welt möchte sich dem Erleben wieder mit solcher Intensität darbieten wie damals, als wir klein waren.
Kein Schriftsteller war so in Weihnachten vernarrt wie Charles Dickens. Ja man könnte sein ganzes Werk als ein weihnachtlich behauchtes bezeichnen. Es muss einer wohl früh verletzt worden sein, damit er mit solcher Macht hier stehenbleibt und hierhin zurück will. Dickens hat sein traumatisches Erlebnis lang verschwiegen, selbst seiner Frau und engsten Freunden. Im Alter von zwölf Jahren musste er, da sein Vater im Schuldgefängnis saß, in einer Fabrik für Schuhwichse arbeiten gehen. Sie befand sich in einem verwinkelten, halbverfallenen Haus am Ufer der Themse, in dem es von Ratten wimmelte. Und obwohl bürgerlicher Herkunft, fand er sich mitten unters Proletariat versetzt. Über diese Schmach kam er nie hinweg. „Keine Worte können die heimliche Agonie meiner Seele ausdrücken, die das Versinken in solche Gesellschaft in mir bewirkte, wenn ich diese Genossen mit den Gefährten meiner glücklicheren Kindheit verglich und wenn ich daran dachte, dass alle Hoffnungen, einmal ein gelehrter und angesehener Mann zu werden, in meiner Brust erstickt waren.“ Wie sollte sich da nicht in die Verlassenheit und Verzweiflung ein intensives Gefühl von Unrecht mischen?
Unrecht, das ist es, was Kinder am stärksten empfinden; alles, was an Dickens gut und schlecht ist, erwächst aus dieser Empfindung. Mitleid und Empörung sind die leitenden Affekte in seinem Werk. Es erzählt von Kränkungen und Schrecken kindhaften Ursprungs und von den grandiosen Genugtuungen, durch die sie später gutgemacht werden. Das heißt, ganz gutgemacht werden können sie natürlich nie.
Das gilt von Dickens selbst, der, auch als er schon lang der berühmteste Schriftsteller des britischen Empire war, sich niemals von seinen manischen Zügen befreite und unersättlich in immer weitere profitable Projekte stürzte, bis er schließlich, völlig ausgepumpt, mit bloß 58 Jahren starb. Das gilt mehr noch von seinen Büchern, deren dunkle Anfänge unvergleichlich eindrücklichere Kraft besitzen als die idyllischen Schlüsse. Es bleibt da stets ein Missverhältnis zwischen Ausgangs- und Endpunkt, überbrückt durch einen Plot, in dem Vertauschungen, Familiengeheimnisse, Zufälle und Ähnliches reichlich strapaziert werden. So etwas ist statthaft in der kindgemäßesten aller Literaturgattungen, im Märchen, dem Dickens immer nahesteht; dem realistischen Roman darf man es verübeln. Was genau und in welcher Verkettung es in Dickens’ Romanen geschieht, lohnt meist nicht die Mühe der Nacherzählung, oder vielmehr, in der Nacherzählung nähmen sie sich alberner aus, als sie es verdienen; denn Dickens lebt eindeutig nicht im Ganzen, sondern in seinen Teilen. Seine Romane, urteilt George Orwell, glichen Gebäuden mit miserabler Architektur, aber tollen Wasserspeiern.
Am 7. Februar 1812 wurde Dickens geboren. Anlässlich des Jubiläums sind eine ganze Reihe von Büchern neu erschienen. Zu den altbekannten gehört „Oliver Twist“, das Reclam in einer schönen, gut kommentierten Ausgabe in der Übersetzung von Axel Monte neu vorlegt. Es ist oft gesagt worden, und besonders oft über „Oliver Twist“, Dickens habe seine kindlichen Helden zu tugendblassen Milchgesichtern gemacht. Doch nur unter dieser Bedingung vermag dem Unrecht, das ihnen widerfährt, jene Kraft zuzuwachsen, die das Buch trägt. Wenn Dickens den Leser verlockt, mit und über Oliver seine Tränen zu vergießen, dann hat er nur dieses eine Schicksal vor Augen und ganz gewiss keinen Klassenkampf; es wird sich zum Schluss herausstellen, dass Oliver bloß versehentlich in die falsche Klasse einsortiert worden ist und es sich bei ihm tatsächlich um einen reichen Erben, einen geborenen Gentleman handelt.
Nie hat sich Dickens gegen Kinderarbeit überhaupt ausgesprochen; nur dass er, der kleine Charles, sie leisten musste, wo er doch so ein begabtes Kind war, das schrie zum Himmel. Hier steckt eine Inkonsequenz des sozialen Denkens. Diese Haltung kann man unterschiedlich bewerten. Karl Marx soll Dickens als Schilderer der konkreten Armut im England seiner Zeit hoch geschätzt haben. Lenin hingegen regte sich über solche „Mittelklassen-Sentimentalität“ dermaßen auf, dass er die Bühnenversion eines Werks von Dickens mitten in einer Szene verließ. Freilich war das fragliche Werk auch ausgerechnet „Das Heimchen am Herd“ gewesen.
Der Autor handelt nicht mit Bedacht so; er tut es in aller Unschuld, einer Unschuld, die man bei einem erstrangigen Autor leicht etwas fehl am Platz finden könnte. Die Folge ist, dass Dickens, obwohl seine Darstellung Züge einer überaus scharfen Kritik an der Gesellschaft aufweist, dennoch auf deren breiteste Zustimmung stößt. Die Ursachen des elementaren Unrechts, etwa, dass ein Kind nicht genügend zu essen bekommt, fasst Dickens nicht ins Auge. Man betrachte die berühmte Stelle, wo Oliver es sich herausnimmt, den Koch im Armenhaus um einen Nachschlag zu bitten. Er tritt mit seinem Napf an und sagt mit klarer Stimme: „Bitte, Sir, ich möchte noch mehr“, im Original: „Please, Sir, I want some more.“ Der Satz hat zwei intonatorische Gipfel, das „Sir“ und das „more“. Das „more“ ist eine unmissverständliche Forderung; doch aus dem „Sir“ spricht eine Ehrerbietung für die bestehenden Autoritäten, die Dickens niemals ablegt.
Dickens war kein Mann der Reformen, sondern der bloßen Bekämpfung von „Missständen“, die sich doch müssten ausbügeln lassen, wenn alle Menschen guten Willens zusammenhelfen. Das Erforderliche hüllt sich in Bescheidenheit. Aber in dieser unscheinbaren Schale schlummert die Nuss der Revolution. Dies wird auch im Fall Olivers sogleich ersichtlich. Der Koch, bestürzt, schlägt mit der Suppenkelle nach Oliver, eine Ausschusssitzung des Armenhaus-Beirats beschäftigt sich mit dem Fall, Oliver wird arretiert und des Armenhauses verwiesen – womit die Handlung des Buchs erst eigentlich in Gang kommt.
Die Welt des Charles Dickens ist ungemein breit und reich, aber gesehen wird sie aus der Froschperspektive eines Kindes, das auf dem Wohnzimmerteppich spielt. Menschen erscheinen da, wenn sie sich herabbeugen, als übermächtige Masken, grotesk, oft bedrohlich; und sie scheiden sich nicht kategorial von den Dingen. Ja oft sind die Dinge diesem Auge sehr viel näher und trauter.
Man betrachte, wie in „Das Geheimnis des Edwin Drood“, in einer Neuübersetzung von Burkhart Kroeber, die jetzt bei Manesse herausgekommen ist, ein Vorratsschrank beschrieben wird: „hob sich der untere Schieber, so kamen Orangen ans Licht, beaufsichtigt von einer großen lackierten Zuckerdose zwecks Linderung ihrer Bitterkeit, falls sie noch unreif waren. Selbstgebackene Plätzchen bildeten das Gefolge dieser Mächte, begleitet von einem tüchtigen Stück Plumcake und schlanken ‚Damenfingern‘, die man in Süßwein stippt und dann zärtlich küsst. Ganz unten schließlich barg ein kompaktes Bleigewölbe den Süßwein sowie einen Vorrat an Likören, aus dem ein Gewisper von andalusischen Orangen, Zitronen, Mandeln und Kümmel aufstieg. Krönend wehte um diesen Schrank der Schränke ein duftiger Klang, als hätten die Glocken- und Orgelklänge der Kathedrale ihn jahrhundertelang durchsummt, bis diese ehrwürdigen Bienen alles, was er enthielt, zu feinstem Honig gemacht hatten; und stets war bemerkt worden, dass ein jeder, der in diese Fächer eintauchte (die, wie gesagt, so tief waren, dass Kopf, Schultern und Ellbogen darin verschluckt wurden) so milden Gesichts wieder hervorkam, dass man meinen konnte, er hätte sich einer Verwandlung in reines Sacharin unterzogen.“
Dieser Schrank besitzt in vollem Maße, was Dickens’ Charakteren abgeht: Tiefe. Das Dinghafte ist in ihm zu einer verdichteten Räumlichkeit geworden, deren hoher Druck zugleich die feinste Sinnlichkeit der Düfte und Klänge destilliert. Der Hymnus des Schranks umfasst zwei Druckseiten. Nach seinem Auftritt wundert sich der Leser nicht mehr, dass in diesem Buch ernsthaft die Frage erörtert wird, ob Dinge, wie Menschen, als Gespenster umgehen können.
„Das Geheimnis des Edwin Drood“ war Dickens’ letzter Roman, über dem er starb und der darum unvollendet blieb. Edwin Drood verschwindet, allem Anschein nach wurde er ermordet; doch wie und von wem, das hat Dickens nicht hinterlassen. Die Nachwelt besitzt lediglich die bereits fertiggestellten Illustrationen für die fehlenden Lieferungen – ein Geheimnis also, das unversehens zu einem größeren wurde, als der Autor es geplant hatte. Es gibt dazu rund 1800 Publikationen, ein Tribunal über den mutmaßlichen Täter wurde unter Beteiligung von George Bernard Shaw und G. K. Chesterton abgehalten, und mehrfach ist der Versuch unternommen worden, das fehlende Ende zu konstruieren.
Ulrike Leonhardt hat sich an diesem eminent englischen Spiel nun mit einem deutschen Beitrag versucht. Sie tut es mit viel Gefühl für Dickens’ Stil und Eigenart, mit Liebe, Sorgfalt und Scharfsinn. Mit mehr Sorgfalt und Scharfsinn, möchte man vermuten, als Dickens selbst mit seinen oft willkürlichen Schlüssen wohl darauf verwendet hätte. Auch ist einem der muntere und sonst etwas farblose Held keineswegs so ans Herz gewachsen wie beispielsweise der oben zitierte Schrank. Nicht zuletzt glaubt man Dickens keinen echten Mord – so wenig, wie ein Kind eine Vorstellung von dem hat, was der Tod bedeutet.
Wie vom Tod fehlt Dickens auch ein eigentlicher Begriff von der Liebe. Die Liebesgeschichten stellen den schwächsten Part seiner umfänglichen Romane dar. Das geht weit über die bekannte Prüderie des viktorianischen Zeitalters hinaus. Als die erstaunlichste Publikation im Jubiläumsjahr darf man den Band „Der Schwarze Schleier“ aus dem Aufbau-Verlag bezeichnen, der eine Reihe wenig oder auf Deutsch bislang gar nicht bekannter Erzählungen enthält, darunter den „Doktor Marigold“, die Geschichte eines „Billigen Jakob“, der über die Märkte zieht und alles vom Kochtopf bis zur Rasierklinge verhökert. Ihn begleitet ein kleines taubstummes Mädchen, das er unterwegs gegen ein Paar Hosenträger eingehandelt hat und dem er das Lesen und eine ganz eigene Gebärdensprache beibringt.
Doktor Marigold („Doktor“ ist sein kurioser Vorname) ist, wie in seinem Beruf nicht anders möglich, ein großer Volksredner; aber um die Liebe zu seiner angenommenen Tochter fühlbar zu machen, die er schließlich doch in einer Taubstummenschule anmeldet, bedient sich der Ich-Erzähler anderer Mittel: „Der Herr lächelte und meinte dann: ‚Nun ja‘, sagte er, ‚zunächst muss ich wissen, was sie schon alles gelernt hat. Wie verständigen Sie sich mit ihr?‘ Da zeigte ich es ihm, und sie schrieb in Druckbuchstaben viele Namen von Dingen und so weiter auf; und wir führten eine lebhafte Konversation, Sophy und ich, über eine kleine Geschichte in einem Buch, das der Herr ihr zeigte und das sie lesen konnte. ‚Das ist außerordentlich‘, sagte der Herr.“ Hier hat sich die Gestalt der Liebe völlig in das eine Wort des Erstaunens zurückgezogen, das der Beobachter dieser Leistung spricht.
Doch wäre Dickens nicht Dickens, wenn er das Rührend-Moralische an der Szene nicht auch explizit hervorhöbe: „,Dann‘, meinte der Herr, und nie hat mir jemand angenehmere Worte gesagt, ‚sind Sie ein sehr schlauer Bursche und ein guter Kerl.‘ Das teilte er auch Sophy mit, die ihm die Hände küsste, in die ihren klatschte und darüber lachte und weinte.“ Der heutige Leser hat an solchen Stellen dasselbe Gefühl wie der Erforscher des Wunderschranks aus „Edwin Drood“: der Verwandlung einer Köstlichkeit in reines Sacharin beizuwohnen. Wer so etwas nicht zumindest gelegentlich erträgt, für den ist Dickens verloren. Das wäre schade.
Denn dann entgingen ihm auch die „Großen Erwartungen“ in der Neuübersetzung von Melanie Walz, erschienen bei Hanser. Schon der Titel macht klar, dass Dickens hier vielleicht das einzige Mal über seinen Schatten springt: Indem er die Erwartung zum Gegenstand erklärt und nicht etwa nur als unentbehrliche Vorstufe der Erfüllung einführt, verlässt er die Bahn der Naivität und befindet sich mit seinem Roman, der den Weg von der Täuschung zur Enttäuschung nachzeichnet, unvermutet auf Augenhöhe mit Flauberts „Éducation sentimentale“. Freilich gibt Dickens, anders als Flaubert, dem Scheitern und Vermögensverlust noch einen moralischen Drall, indem Pip, der Protagonist, dabei eine seelische Läuterung erfährt.
Der Band ist als schöne Dünndruckausgabe gestaltet und ausgezeichnet kommentiert. Wie auch die drei anderen gibt er Gelegenheit, die heutige Höhe der Übersetzerkunst in Deutschland zu bewundern, nicht als isolierte Spitzenleistung, sondern als Standard. Nur in einem Punkt treffen alle Dickens-Übersetzer auf ein hartnäckiges Hindernis, und das ist bei der Wiedergabe der Unterschichten-Sprache, die sich in England auf ganz besondere Weise aus Anteilen der Region und der Klasse zusammensetzt. Hier hilft es weder, ersatzweise einen bestimmten deutschen Dialekt heranzuziehen wieeinst Gustav Meyrink, bei dem die Cockneys Wienerisch reden, noch auch, etwas Originelles zu improvisieren. „Ich mach Sie blind mach ich Sie, das könnse mir glaum! Die Augen tu ich Ihn’n ausschmeißen tu ich, das könnse mir glaum! Verrecken will ich, wenn ich Ihn’n nich die Augen ausschmeiß!“ Wenn ein Übersetzer wie Burkhart Kroeber es nicht anders hinbekommt als so, darf man das Problem getrost als unlösbar betrachten.
Einen kleinen, im Aufbau Verlag erschienenen Band gibt es noch, der Zeugnisse von Dickens’ Kindern über ihren Vater versammelt. Von den insgesamt zehn Kindern, die Dickens hatte, kommen vier zu Wort, die Töchter Mamie und Kate, die Söhne Henry und Charlie. Kaum etwas erfährt man über den großen Bruch in der Familie, als Dickens Knall auf Fall seine Frau und die Mutter seiner Kinder verließ um einer siebzehnjährigen Schauspielerin willen. Alle sind sie, wenn sie von den Wonnen des riesigen Haushalts erzählen, bemüht, ihren Vater zu schirmen, und nur zuweilen klingt ein Unterton des Grolls durch. Natürlich hat Dickens ungeheuer viel mit seinen Kindern unternommen, so hyperaktiv wie er war; und dennoch wird man den Eindruck nicht los, dass er selbst im Herzen viel zu sehr ein Kind geblieben ist, um jemals wirklich Vater zu werden.
BURKHARD MÜLLER
CHARLES DICKENS: Oliver Twist oder der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus. Aus dem Englischen übersetzt, mit Anmerkungen und einem Nachwort von Axel Monte. Reclam Verlag, Stuttgart 2011. 687 S., 29,95 Euro
CHARLES DICKENS: Das Geheimnis des Edwin Drood. Roman. Aus dem Englischen übersetzt und mit einem Nachwort von Burkhart Kroeber. Fortgeschrieben und zu Ende geführt von Ulrike Leonhardt. Manesse Verlag, Zürich 2012. 766 S., 24,95 Euro.
CHARLES DICKENS: Große Erwartungen. Roman. Herausgegeben und aus dem Englischen übersetzt von Melanie Walz. Carl Hanser Verlag, München 2012, 829 S., 34,90 Euro.
CHARLES DICKENS: Der schwarze Schleier. Neu entdeckte Meistererzählungen. Aus dem Englischen übersetzt von Ulrike Seeberger. Aufbau Verlag, Berlin 2011. 399 S., 22,99 Euro.
MARY UND CHARLIE DICKENS: Unser Vater Charles Dickens. Herausgegeben und aus dem Englischen von Alexander Pechmann. Aufbau Verlag, Berlin 2011, 206 S., 14,99 Euro.
Die Figuren aus Dickens’ Werk
haben die Buchseiten verlassen –
allen voran Ebenezer Scrooge
Das Mitleid und die Empörung
sind die leitenden
Affekte in seinem großen Werk
Bei Dickens können auch die
Dinge, nicht anders als die
Menschen, zu Gespenstern werden
Sie bleibt ein schwerer Brocken
für alle Dickens-Übersetzer:
die Sprache der Unterschichten
Im Jahr 1859 gründete Charles
Dickens die Zeitschrift „All the Year round“, benannt nach einer Zeile aus Shakespeares „Othello“. Die Karikatur von George Goursat
zeigt Dickens, wie er auf einem Ring mit der Inschrift sitzt: „Conducted by Charles Dickens – All The Year Round“.
Foto: Hulton Archive/Getty Images
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Das Elend und seine Verwandlung in reines Sacharin: Deutsche Neuerscheinungen zum 200. Geburtstag von Charles Dickens
Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, über die man immer noch spricht, sind in der Regel nicht allein in ihren dicken Büchern präsent, für deren Lektüre die wenigsten Zeitgenossen die Muße finden. Kostümfilme spielen hier eine Rolle, und für Victor Hugo wurde das Musical zum Gefäß der Überlieferung. Bei Charles Dickens, der vor zweihundert Jahren geboren wurde, sind es die Figuren, die sich vom Buch gelöst haben und als anekdotische Existenzen das kollektive Gedächtnis bevölkern, zumindest das der angelsächsischen Welt.
Die erstaunlichste und gleichwohl eine typische Karriere hat dabei Ebenezer Scrooge hinter sich, der alte Geizhals aus der „Weihnachtsgeschichte“, der durch die drei Geister der vergangenen, der gegenwärtigen und der zukünftigen Weihnacht so gründlich erschreckt wird, dass sein hartes Herz vor Rührung zerschmilzt und er sich fortan als Menschenfreund betätigt. Disney hat die Geschichte in einen Zeichentrickfilm und ihn selbst in eine alte Ente mit Galoschen und Zylinder verwandelt – so erfolgreich, dass sie seither als „Scrooge McDuck“ in der Comic-Welt lebt, im Deutschen, unter Tilgung des Dickens- Bezugs, als Dagobert Duck.
Scrooge McDuck kann als Inbegriff dessen gelten, was eine Dickens’sche Figur ausmacht. Sie beschränkt sich immer auf ein paar typische Züge; doch diese Züge prägen sich ein. Scrooge ist ein Charakter und nichts sonst; in seinem Charakter sitzt er sozusagen gefangen. Ihm widerfahren die eigentümlichsten Ereignisse; aber sie haben keine Macht über ihn, sie perlen ab wie vom Gefieder der Ente, die Dimension der Erfahrung fehlt ihm zur Gänze. Charakter tritt an Stelle der Psychologie, der Entwicklung, der Seele, wie auch immer man jenes andere nennen mag, das Comic-Figuren in der Regel abgeht. Dafür drückt er sich unverwechselbar in seinem Erscheinungsbild aus, das sich aus Physiognomie, Gestik, Stimme, Kleidung und Accessoires gleichrangig zusammensetzt.
Es dürfte kein Zufall sein, dass der Übertritt von Scrooge aus der viktorianischen Erzählung in die Populärkultur sich gerade im Zusammenhang mit dem Weihnachtsfest vollzogen hat, dem Fest, das nicht nur eines der Kinder ist, sondern dem Kindlichen auch im Erwachsenen zu seinem Recht verhilft. Es steckt darin jede Menge Regression und Sentimentalität; aber doch auch der aufrichtige Wunsch, die Welt möchte sich dem Erleben wieder mit solcher Intensität darbieten wie damals, als wir klein waren.
Kein Schriftsteller war so in Weihnachten vernarrt wie Charles Dickens. Ja man könnte sein ganzes Werk als ein weihnachtlich behauchtes bezeichnen. Es muss einer wohl früh verletzt worden sein, damit er mit solcher Macht hier stehenbleibt und hierhin zurück will. Dickens hat sein traumatisches Erlebnis lang verschwiegen, selbst seiner Frau und engsten Freunden. Im Alter von zwölf Jahren musste er, da sein Vater im Schuldgefängnis saß, in einer Fabrik für Schuhwichse arbeiten gehen. Sie befand sich in einem verwinkelten, halbverfallenen Haus am Ufer der Themse, in dem es von Ratten wimmelte. Und obwohl bürgerlicher Herkunft, fand er sich mitten unters Proletariat versetzt. Über diese Schmach kam er nie hinweg. „Keine Worte können die heimliche Agonie meiner Seele ausdrücken, die das Versinken in solche Gesellschaft in mir bewirkte, wenn ich diese Genossen mit den Gefährten meiner glücklicheren Kindheit verglich und wenn ich daran dachte, dass alle Hoffnungen, einmal ein gelehrter und angesehener Mann zu werden, in meiner Brust erstickt waren.“ Wie sollte sich da nicht in die Verlassenheit und Verzweiflung ein intensives Gefühl von Unrecht mischen?
Unrecht, das ist es, was Kinder am stärksten empfinden; alles, was an Dickens gut und schlecht ist, erwächst aus dieser Empfindung. Mitleid und Empörung sind die leitenden Affekte in seinem Werk. Es erzählt von Kränkungen und Schrecken kindhaften Ursprungs und von den grandiosen Genugtuungen, durch die sie später gutgemacht werden. Das heißt, ganz gutgemacht werden können sie natürlich nie.
Das gilt von Dickens selbst, der, auch als er schon lang der berühmteste Schriftsteller des britischen Empire war, sich niemals von seinen manischen Zügen befreite und unersättlich in immer weitere profitable Projekte stürzte, bis er schließlich, völlig ausgepumpt, mit bloß 58 Jahren starb. Das gilt mehr noch von seinen Büchern, deren dunkle Anfänge unvergleichlich eindrücklichere Kraft besitzen als die idyllischen Schlüsse. Es bleibt da stets ein Missverhältnis zwischen Ausgangs- und Endpunkt, überbrückt durch einen Plot, in dem Vertauschungen, Familiengeheimnisse, Zufälle und Ähnliches reichlich strapaziert werden. So etwas ist statthaft in der kindgemäßesten aller Literaturgattungen, im Märchen, dem Dickens immer nahesteht; dem realistischen Roman darf man es verübeln. Was genau und in welcher Verkettung es in Dickens’ Romanen geschieht, lohnt meist nicht die Mühe der Nacherzählung, oder vielmehr, in der Nacherzählung nähmen sie sich alberner aus, als sie es verdienen; denn Dickens lebt eindeutig nicht im Ganzen, sondern in seinen Teilen. Seine Romane, urteilt George Orwell, glichen Gebäuden mit miserabler Architektur, aber tollen Wasserspeiern.
Am 7. Februar 1812 wurde Dickens geboren. Anlässlich des Jubiläums sind eine ganze Reihe von Büchern neu erschienen. Zu den altbekannten gehört „Oliver Twist“, das Reclam in einer schönen, gut kommentierten Ausgabe in der Übersetzung von Axel Monte neu vorlegt. Es ist oft gesagt worden, und besonders oft über „Oliver Twist“, Dickens habe seine kindlichen Helden zu tugendblassen Milchgesichtern gemacht. Doch nur unter dieser Bedingung vermag dem Unrecht, das ihnen widerfährt, jene Kraft zuzuwachsen, die das Buch trägt. Wenn Dickens den Leser verlockt, mit und über Oliver seine Tränen zu vergießen, dann hat er nur dieses eine Schicksal vor Augen und ganz gewiss keinen Klassenkampf; es wird sich zum Schluss herausstellen, dass Oliver bloß versehentlich in die falsche Klasse einsortiert worden ist und es sich bei ihm tatsächlich um einen reichen Erben, einen geborenen Gentleman handelt.
Nie hat sich Dickens gegen Kinderarbeit überhaupt ausgesprochen; nur dass er, der kleine Charles, sie leisten musste, wo er doch so ein begabtes Kind war, das schrie zum Himmel. Hier steckt eine Inkonsequenz des sozialen Denkens. Diese Haltung kann man unterschiedlich bewerten. Karl Marx soll Dickens als Schilderer der konkreten Armut im England seiner Zeit hoch geschätzt haben. Lenin hingegen regte sich über solche „Mittelklassen-Sentimentalität“ dermaßen auf, dass er die Bühnenversion eines Werks von Dickens mitten in einer Szene verließ. Freilich war das fragliche Werk auch ausgerechnet „Das Heimchen am Herd“ gewesen.
Der Autor handelt nicht mit Bedacht so; er tut es in aller Unschuld, einer Unschuld, die man bei einem erstrangigen Autor leicht etwas fehl am Platz finden könnte. Die Folge ist, dass Dickens, obwohl seine Darstellung Züge einer überaus scharfen Kritik an der Gesellschaft aufweist, dennoch auf deren breiteste Zustimmung stößt. Die Ursachen des elementaren Unrechts, etwa, dass ein Kind nicht genügend zu essen bekommt, fasst Dickens nicht ins Auge. Man betrachte die berühmte Stelle, wo Oliver es sich herausnimmt, den Koch im Armenhaus um einen Nachschlag zu bitten. Er tritt mit seinem Napf an und sagt mit klarer Stimme: „Bitte, Sir, ich möchte noch mehr“, im Original: „Please, Sir, I want some more.“ Der Satz hat zwei intonatorische Gipfel, das „Sir“ und das „more“. Das „more“ ist eine unmissverständliche Forderung; doch aus dem „Sir“ spricht eine Ehrerbietung für die bestehenden Autoritäten, die Dickens niemals ablegt.
Dickens war kein Mann der Reformen, sondern der bloßen Bekämpfung von „Missständen“, die sich doch müssten ausbügeln lassen, wenn alle Menschen guten Willens zusammenhelfen. Das Erforderliche hüllt sich in Bescheidenheit. Aber in dieser unscheinbaren Schale schlummert die Nuss der Revolution. Dies wird auch im Fall Olivers sogleich ersichtlich. Der Koch, bestürzt, schlägt mit der Suppenkelle nach Oliver, eine Ausschusssitzung des Armenhaus-Beirats beschäftigt sich mit dem Fall, Oliver wird arretiert und des Armenhauses verwiesen – womit die Handlung des Buchs erst eigentlich in Gang kommt.
Die Welt des Charles Dickens ist ungemein breit und reich, aber gesehen wird sie aus der Froschperspektive eines Kindes, das auf dem Wohnzimmerteppich spielt. Menschen erscheinen da, wenn sie sich herabbeugen, als übermächtige Masken, grotesk, oft bedrohlich; und sie scheiden sich nicht kategorial von den Dingen. Ja oft sind die Dinge diesem Auge sehr viel näher und trauter.
Man betrachte, wie in „Das Geheimnis des Edwin Drood“, in einer Neuübersetzung von Burkhart Kroeber, die jetzt bei Manesse herausgekommen ist, ein Vorratsschrank beschrieben wird: „hob sich der untere Schieber, so kamen Orangen ans Licht, beaufsichtigt von einer großen lackierten Zuckerdose zwecks Linderung ihrer Bitterkeit, falls sie noch unreif waren. Selbstgebackene Plätzchen bildeten das Gefolge dieser Mächte, begleitet von einem tüchtigen Stück Plumcake und schlanken ‚Damenfingern‘, die man in Süßwein stippt und dann zärtlich küsst. Ganz unten schließlich barg ein kompaktes Bleigewölbe den Süßwein sowie einen Vorrat an Likören, aus dem ein Gewisper von andalusischen Orangen, Zitronen, Mandeln und Kümmel aufstieg. Krönend wehte um diesen Schrank der Schränke ein duftiger Klang, als hätten die Glocken- und Orgelklänge der Kathedrale ihn jahrhundertelang durchsummt, bis diese ehrwürdigen Bienen alles, was er enthielt, zu feinstem Honig gemacht hatten; und stets war bemerkt worden, dass ein jeder, der in diese Fächer eintauchte (die, wie gesagt, so tief waren, dass Kopf, Schultern und Ellbogen darin verschluckt wurden) so milden Gesichts wieder hervorkam, dass man meinen konnte, er hätte sich einer Verwandlung in reines Sacharin unterzogen.“
Dieser Schrank besitzt in vollem Maße, was Dickens’ Charakteren abgeht: Tiefe. Das Dinghafte ist in ihm zu einer verdichteten Räumlichkeit geworden, deren hoher Druck zugleich die feinste Sinnlichkeit der Düfte und Klänge destilliert. Der Hymnus des Schranks umfasst zwei Druckseiten. Nach seinem Auftritt wundert sich der Leser nicht mehr, dass in diesem Buch ernsthaft die Frage erörtert wird, ob Dinge, wie Menschen, als Gespenster umgehen können.
„Das Geheimnis des Edwin Drood“ war Dickens’ letzter Roman, über dem er starb und der darum unvollendet blieb. Edwin Drood verschwindet, allem Anschein nach wurde er ermordet; doch wie und von wem, das hat Dickens nicht hinterlassen. Die Nachwelt besitzt lediglich die bereits fertiggestellten Illustrationen für die fehlenden Lieferungen – ein Geheimnis also, das unversehens zu einem größeren wurde, als der Autor es geplant hatte. Es gibt dazu rund 1800 Publikationen, ein Tribunal über den mutmaßlichen Täter wurde unter Beteiligung von George Bernard Shaw und G. K. Chesterton abgehalten, und mehrfach ist der Versuch unternommen worden, das fehlende Ende zu konstruieren.
Ulrike Leonhardt hat sich an diesem eminent englischen Spiel nun mit einem deutschen Beitrag versucht. Sie tut es mit viel Gefühl für Dickens’ Stil und Eigenart, mit Liebe, Sorgfalt und Scharfsinn. Mit mehr Sorgfalt und Scharfsinn, möchte man vermuten, als Dickens selbst mit seinen oft willkürlichen Schlüssen wohl darauf verwendet hätte. Auch ist einem der muntere und sonst etwas farblose Held keineswegs so ans Herz gewachsen wie beispielsweise der oben zitierte Schrank. Nicht zuletzt glaubt man Dickens keinen echten Mord – so wenig, wie ein Kind eine Vorstellung von dem hat, was der Tod bedeutet.
Wie vom Tod fehlt Dickens auch ein eigentlicher Begriff von der Liebe. Die Liebesgeschichten stellen den schwächsten Part seiner umfänglichen Romane dar. Das geht weit über die bekannte Prüderie des viktorianischen Zeitalters hinaus. Als die erstaunlichste Publikation im Jubiläumsjahr darf man den Band „Der Schwarze Schleier“ aus dem Aufbau-Verlag bezeichnen, der eine Reihe wenig oder auf Deutsch bislang gar nicht bekannter Erzählungen enthält, darunter den „Doktor Marigold“, die Geschichte eines „Billigen Jakob“, der über die Märkte zieht und alles vom Kochtopf bis zur Rasierklinge verhökert. Ihn begleitet ein kleines taubstummes Mädchen, das er unterwegs gegen ein Paar Hosenträger eingehandelt hat und dem er das Lesen und eine ganz eigene Gebärdensprache beibringt.
Doktor Marigold („Doktor“ ist sein kurioser Vorname) ist, wie in seinem Beruf nicht anders möglich, ein großer Volksredner; aber um die Liebe zu seiner angenommenen Tochter fühlbar zu machen, die er schließlich doch in einer Taubstummenschule anmeldet, bedient sich der Ich-Erzähler anderer Mittel: „Der Herr lächelte und meinte dann: ‚Nun ja‘, sagte er, ‚zunächst muss ich wissen, was sie schon alles gelernt hat. Wie verständigen Sie sich mit ihr?‘ Da zeigte ich es ihm, und sie schrieb in Druckbuchstaben viele Namen von Dingen und so weiter auf; und wir führten eine lebhafte Konversation, Sophy und ich, über eine kleine Geschichte in einem Buch, das der Herr ihr zeigte und das sie lesen konnte. ‚Das ist außerordentlich‘, sagte der Herr.“ Hier hat sich die Gestalt der Liebe völlig in das eine Wort des Erstaunens zurückgezogen, das der Beobachter dieser Leistung spricht.
Doch wäre Dickens nicht Dickens, wenn er das Rührend-Moralische an der Szene nicht auch explizit hervorhöbe: „,Dann‘, meinte der Herr, und nie hat mir jemand angenehmere Worte gesagt, ‚sind Sie ein sehr schlauer Bursche und ein guter Kerl.‘ Das teilte er auch Sophy mit, die ihm die Hände küsste, in die ihren klatschte und darüber lachte und weinte.“ Der heutige Leser hat an solchen Stellen dasselbe Gefühl wie der Erforscher des Wunderschranks aus „Edwin Drood“: der Verwandlung einer Köstlichkeit in reines Sacharin beizuwohnen. Wer so etwas nicht zumindest gelegentlich erträgt, für den ist Dickens verloren. Das wäre schade.
Denn dann entgingen ihm auch die „Großen Erwartungen“ in der Neuübersetzung von Melanie Walz, erschienen bei Hanser. Schon der Titel macht klar, dass Dickens hier vielleicht das einzige Mal über seinen Schatten springt: Indem er die Erwartung zum Gegenstand erklärt und nicht etwa nur als unentbehrliche Vorstufe der Erfüllung einführt, verlässt er die Bahn der Naivität und befindet sich mit seinem Roman, der den Weg von der Täuschung zur Enttäuschung nachzeichnet, unvermutet auf Augenhöhe mit Flauberts „Éducation sentimentale“. Freilich gibt Dickens, anders als Flaubert, dem Scheitern und Vermögensverlust noch einen moralischen Drall, indem Pip, der Protagonist, dabei eine seelische Läuterung erfährt.
Der Band ist als schöne Dünndruckausgabe gestaltet und ausgezeichnet kommentiert. Wie auch die drei anderen gibt er Gelegenheit, die heutige Höhe der Übersetzerkunst in Deutschland zu bewundern, nicht als isolierte Spitzenleistung, sondern als Standard. Nur in einem Punkt treffen alle Dickens-Übersetzer auf ein hartnäckiges Hindernis, und das ist bei der Wiedergabe der Unterschichten-Sprache, die sich in England auf ganz besondere Weise aus Anteilen der Region und der Klasse zusammensetzt. Hier hilft es weder, ersatzweise einen bestimmten deutschen Dialekt heranzuziehen wieeinst Gustav Meyrink, bei dem die Cockneys Wienerisch reden, noch auch, etwas Originelles zu improvisieren. „Ich mach Sie blind mach ich Sie, das könnse mir glaum! Die Augen tu ich Ihn’n ausschmeißen tu ich, das könnse mir glaum! Verrecken will ich, wenn ich Ihn’n nich die Augen ausschmeiß!“ Wenn ein Übersetzer wie Burkhart Kroeber es nicht anders hinbekommt als so, darf man das Problem getrost als unlösbar betrachten.
Einen kleinen, im Aufbau Verlag erschienenen Band gibt es noch, der Zeugnisse von Dickens’ Kindern über ihren Vater versammelt. Von den insgesamt zehn Kindern, die Dickens hatte, kommen vier zu Wort, die Töchter Mamie und Kate, die Söhne Henry und Charlie. Kaum etwas erfährt man über den großen Bruch in der Familie, als Dickens Knall auf Fall seine Frau und die Mutter seiner Kinder verließ um einer siebzehnjährigen Schauspielerin willen. Alle sind sie, wenn sie von den Wonnen des riesigen Haushalts erzählen, bemüht, ihren Vater zu schirmen, und nur zuweilen klingt ein Unterton des Grolls durch. Natürlich hat Dickens ungeheuer viel mit seinen Kindern unternommen, so hyperaktiv wie er war; und dennoch wird man den Eindruck nicht los, dass er selbst im Herzen viel zu sehr ein Kind geblieben ist, um jemals wirklich Vater zu werden.
BURKHARD MÜLLER
CHARLES DICKENS: Oliver Twist oder der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus. Aus dem Englischen übersetzt, mit Anmerkungen und einem Nachwort von Axel Monte. Reclam Verlag, Stuttgart 2011. 687 S., 29,95 Euro
CHARLES DICKENS: Das Geheimnis des Edwin Drood. Roman. Aus dem Englischen übersetzt und mit einem Nachwort von Burkhart Kroeber. Fortgeschrieben und zu Ende geführt von Ulrike Leonhardt. Manesse Verlag, Zürich 2012. 766 S., 24,95 Euro.
CHARLES DICKENS: Große Erwartungen. Roman. Herausgegeben und aus dem Englischen übersetzt von Melanie Walz. Carl Hanser Verlag, München 2012, 829 S., 34,90 Euro.
CHARLES DICKENS: Der schwarze Schleier. Neu entdeckte Meistererzählungen. Aus dem Englischen übersetzt von Ulrike Seeberger. Aufbau Verlag, Berlin 2011. 399 S., 22,99 Euro.
MARY UND CHARLIE DICKENS: Unser Vater Charles Dickens. Herausgegeben und aus dem Englischen von Alexander Pechmann. Aufbau Verlag, Berlin 2011, 206 S., 14,99 Euro.
Die Figuren aus Dickens’ Werk
haben die Buchseiten verlassen –
allen voran Ebenezer Scrooge
Das Mitleid und die Empörung
sind die leitenden
Affekte in seinem großen Werk
Bei Dickens können auch die
Dinge, nicht anders als die
Menschen, zu Gespenstern werden
Sie bleibt ein schwerer Brocken
für alle Dickens-Übersetzer:
die Sprache der Unterschichten
Im Jahr 1859 gründete Charles
Dickens die Zeitschrift „All the Year round“, benannt nach einer Zeile aus Shakespeares „Othello“. Die Karikatur von George Goursat
zeigt Dickens, wie er auf einem Ring mit der Inschrift sitzt: „Conducted by Charles Dickens – All The Year Round“.
Foto: Hulton Archive/Getty Images
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