"Dieses Buch ist ein kleiner Schatz!": Ein herzerwärmender Streifzug durch Omas Haus, mit liebevollen Bildern zum Entdecken und Aufklappen - nicht nur für Enkel! Nach der Schule geht die kleine Heldin dieses Bilderbuchs oft zu ihrer Oma. In Omas Haus ist es so: Alles ist ganz anders, aber es bleibt immer alles gleich - die kleine Milchkanne in Kuhform und die Blechdose mit dem Karomuster und den Schokokeksen, die ganz oben im Regal steht. Der Schaukelstuhl, der Globus und die tickende Standuhr. Die steile Leiter zum aufregendsten Ort - dem Speicher mit Omas alten Spielsachen. Die violette Flasche mit Körperpuder, mit der man eine weiße Wolke in die Luft zaubern kann. Die Galerie mit den Familienfotos, zu denen Oma so viele Geschichten erzählen kann.Dieses Buch lädt mit vielen Einblicken und Klappen - die größte führt auf den Dachboden! - zum Erkunden ein, und zugleich ist es die herzerwärmende Feier eines mit viel Liebe gestalteten Zuhauses. Mit all dem Leben, den Gefühlen und den Erinnerungen, die in ihm stecken, ist Omas Haus so viel mehr ist als nur ein Haus ...
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.12.2017Hinter jeder Tür lockt eine neue Welt
Der Puder der alten Dame: Alice Melvin besucht Omas Haus und findet sich selbst
Lächelnd und ein wenig erstaunt blickt das blonde Schulmädchen im roten Dufflecoat den dunkelblauen Luftballon am Gartentor von "Omas Haus" an. Schon die Titelseite hält damit einen ersten Hinweis auf das bereit, was die kleine Protagonistin am Ende des farbenfrohen Bilderbuches der britischen Illustratorin und Autorin Alice Melvin erwartet. Doch bereits auf der folgenden Doppelseite, auf der das Mädchen auf die efeuumrankte Haustür mit den bunten Jugendstilfenstern zugeht, ist der schlichte Ballon vergessen. Auf den folgenden Seiten begleitet die Betrachterin das Mädchen bei seinem Streifzug durch das offenbar vertraute und doch immer wieder zu entdeckende Haus der Großmutter, das vor Farben und Details strotzt. Da geht es über den Flur in die Küche und weiter in die Kammer, wo das Mädchen versucht, mit Hilfe einer kleinen Leiter an die Keksdose oben im Regal zu gelangen. Durch die Durchreiche erhaschen wir einen ersten Blick auf das Wohnzimmer mit der kleingemusterten tiefroten Tapete, dem gemütlichen gestreiften Ohrensessel und dem hölzernen Schaukelstuhl. Das Mädchen schaukelt ein wenig, bevor wir es durch die einladend geöffnete Tür ins Arbeitszimmer mit Nähmaschine und Sekretär begleiten.
So geht es immer weiter, und im Grunde genommen ist dieser Gang auch schon die Handlung. Natürlich könnte man es dabei belassen, die 1982 geborene Illustratorin so gut wie die Leserinnen und Leser, nur gestaltet Melvin dieses Buch nach einer Idee, die einen nachvollziehbaren roten Faden spinnt und die erstaunlich weit trägt. Der Übergang von einem Zimmer zum anderen ist jeweils durch eine offenstehende Tür markiert, der Raum zu den Zargen ist ausgestanzt, so dass die Ruhe, die in den großmütterlichen Zimmern liegt, durch die Erwartung auf den nächsten Raum gebrochen wird: der Blick nach vorn ist jederzeit möglich, der zurück aber auch.
Je weiter das geht, je mehr Zimmer das Mädchen durchläuft und durchaus auch so benutzt, als wäre ihm alles erlaubt, desto drängender wird allerdings die Frage, wo denn die eigentliche Bewohnerin ist.
Da öffnet sich etwa eine Tür zum Treppenhaus mit der stehengebliebenen Standuhr - seit wann wurde sie nicht mehr aufgezogen und warum? Über die Treppe geht es hoch in das Obergeschoss und über eine Leiter weiter auf den Dachboden, der sich mit zwei Handbewegungen über den Buchrand hinweg nach oben aufklappen lässt. Das blaue Schaukelpferd, der rote Puppenwagen, der gelbe Drachen und die vielen anderen Spielsachen fesseln das Mädchen heute nicht, es steigt wieder hinunter und sucht weiter.
Bereits im Schlafzimmer mit seiner hellen Tapete voller Blumen, Vögel und Schmetterlinge ist das Kind jedoch schon wieder abgelenkt. Es verkleidet sich mit Omas herumliegenden Sachen, bevor es im gefliesten und vertäfelten Bad mit der freistehenden alten Badewanne mit dem Puder der alten Dame spielt. Indem Melvin dies mit der Suche nach der Hausbewohnerin verknüpft, deutet sie auf einen zweiten Punkt: Was verbindet die Enkelin mit der Großmutter, was wird zwischen den Generationen weitergegeben, in welcher Weise wird dieses Erbe angenommen?
Überall lassen sich in dem Buch Zeichen von kreativ und vielseitig gelebtem bürgerlichem Leben entdecken. Hübsch angerichtete Blumen in jedem Eckchen, Familienfotos in bunt gemischten Rahmen, aufeinander abgestimmte Tassen und Teller im Abtropfsieb, Wollknäule mit Stricknadeln neben dem Ohrensessel, ein aufgeschlagenes Notenblatt auf dem geöffneten Klavier, ein Buch und eine Teetasse neben dem Korbsessel im Wintergaten und erdverschmierte Gummistiefel neben der Tür zum Garten. "Meine Oma hatte die unterschiedlichsten kreativen Fähigkeiten", schreibt Melvin in ihrem Nachwort zu dem Buch, das sie ihrer Tochter Florence und ihrer im Jahr 2005 verstorbenen Großmutter Muriel gewidmet hat. Das Buch speist sich aus Erinnerungen an das Haus der Großmutter, die über 300 Kilometer entfernt wohnte. "Wenn wir angekommen waren und uns alle begrüßt und umarmt hatten, machte ich jedes Mal meinen Rundgang durchs Haus, um all die Dinge wiederzusehen, die mir so lieb waren."
So beschwört die Autorin eine Welt herauf, die verloren ist und ebendeshalb als Erbe fortwirken kann. Auf welchem Weg das geschieht, deutet das Nachwort an, in dem die lebende Künstlerin von der Kunstfertigkeit der verstorbenen berichtet. Vor allem aber zeigt sie in dem Selbstporträt des tastenden, erkundenden Kindes, welche Anlagen es braucht, um ein solches Erbe auch anzunehmen.
RAMONA LENZ
Alice Melvin: "Omas Haus".
Aus dem Englischen von Susanne Weber. Verlag Antje Kunstmann, München 2016. 32 S., geb., 19,95 [Euro]. Ab 6 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Puder der alten Dame: Alice Melvin besucht Omas Haus und findet sich selbst
Lächelnd und ein wenig erstaunt blickt das blonde Schulmädchen im roten Dufflecoat den dunkelblauen Luftballon am Gartentor von "Omas Haus" an. Schon die Titelseite hält damit einen ersten Hinweis auf das bereit, was die kleine Protagonistin am Ende des farbenfrohen Bilderbuches der britischen Illustratorin und Autorin Alice Melvin erwartet. Doch bereits auf der folgenden Doppelseite, auf der das Mädchen auf die efeuumrankte Haustür mit den bunten Jugendstilfenstern zugeht, ist der schlichte Ballon vergessen. Auf den folgenden Seiten begleitet die Betrachterin das Mädchen bei seinem Streifzug durch das offenbar vertraute und doch immer wieder zu entdeckende Haus der Großmutter, das vor Farben und Details strotzt. Da geht es über den Flur in die Küche und weiter in die Kammer, wo das Mädchen versucht, mit Hilfe einer kleinen Leiter an die Keksdose oben im Regal zu gelangen. Durch die Durchreiche erhaschen wir einen ersten Blick auf das Wohnzimmer mit der kleingemusterten tiefroten Tapete, dem gemütlichen gestreiften Ohrensessel und dem hölzernen Schaukelstuhl. Das Mädchen schaukelt ein wenig, bevor wir es durch die einladend geöffnete Tür ins Arbeitszimmer mit Nähmaschine und Sekretär begleiten.
So geht es immer weiter, und im Grunde genommen ist dieser Gang auch schon die Handlung. Natürlich könnte man es dabei belassen, die 1982 geborene Illustratorin so gut wie die Leserinnen und Leser, nur gestaltet Melvin dieses Buch nach einer Idee, die einen nachvollziehbaren roten Faden spinnt und die erstaunlich weit trägt. Der Übergang von einem Zimmer zum anderen ist jeweils durch eine offenstehende Tür markiert, der Raum zu den Zargen ist ausgestanzt, so dass die Ruhe, die in den großmütterlichen Zimmern liegt, durch die Erwartung auf den nächsten Raum gebrochen wird: der Blick nach vorn ist jederzeit möglich, der zurück aber auch.
Je weiter das geht, je mehr Zimmer das Mädchen durchläuft und durchaus auch so benutzt, als wäre ihm alles erlaubt, desto drängender wird allerdings die Frage, wo denn die eigentliche Bewohnerin ist.
Da öffnet sich etwa eine Tür zum Treppenhaus mit der stehengebliebenen Standuhr - seit wann wurde sie nicht mehr aufgezogen und warum? Über die Treppe geht es hoch in das Obergeschoss und über eine Leiter weiter auf den Dachboden, der sich mit zwei Handbewegungen über den Buchrand hinweg nach oben aufklappen lässt. Das blaue Schaukelpferd, der rote Puppenwagen, der gelbe Drachen und die vielen anderen Spielsachen fesseln das Mädchen heute nicht, es steigt wieder hinunter und sucht weiter.
Bereits im Schlafzimmer mit seiner hellen Tapete voller Blumen, Vögel und Schmetterlinge ist das Kind jedoch schon wieder abgelenkt. Es verkleidet sich mit Omas herumliegenden Sachen, bevor es im gefliesten und vertäfelten Bad mit der freistehenden alten Badewanne mit dem Puder der alten Dame spielt. Indem Melvin dies mit der Suche nach der Hausbewohnerin verknüpft, deutet sie auf einen zweiten Punkt: Was verbindet die Enkelin mit der Großmutter, was wird zwischen den Generationen weitergegeben, in welcher Weise wird dieses Erbe angenommen?
Überall lassen sich in dem Buch Zeichen von kreativ und vielseitig gelebtem bürgerlichem Leben entdecken. Hübsch angerichtete Blumen in jedem Eckchen, Familienfotos in bunt gemischten Rahmen, aufeinander abgestimmte Tassen und Teller im Abtropfsieb, Wollknäule mit Stricknadeln neben dem Ohrensessel, ein aufgeschlagenes Notenblatt auf dem geöffneten Klavier, ein Buch und eine Teetasse neben dem Korbsessel im Wintergaten und erdverschmierte Gummistiefel neben der Tür zum Garten. "Meine Oma hatte die unterschiedlichsten kreativen Fähigkeiten", schreibt Melvin in ihrem Nachwort zu dem Buch, das sie ihrer Tochter Florence und ihrer im Jahr 2005 verstorbenen Großmutter Muriel gewidmet hat. Das Buch speist sich aus Erinnerungen an das Haus der Großmutter, die über 300 Kilometer entfernt wohnte. "Wenn wir angekommen waren und uns alle begrüßt und umarmt hatten, machte ich jedes Mal meinen Rundgang durchs Haus, um all die Dinge wiederzusehen, die mir so lieb waren."
So beschwört die Autorin eine Welt herauf, die verloren ist und ebendeshalb als Erbe fortwirken kann. Auf welchem Weg das geschieht, deutet das Nachwort an, in dem die lebende Künstlerin von der Kunstfertigkeit der verstorbenen berichtet. Vor allem aber zeigt sie in dem Selbstporträt des tastenden, erkundenden Kindes, welche Anlagen es braucht, um ein solches Erbe auch anzunehmen.
RAMONA LENZ
Alice Melvin: "Omas Haus".
Aus dem Englischen von Susanne Weber. Verlag Antje Kunstmann, München 2016. 32 S., geb., 19,95 [Euro]. Ab 6 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main