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Eine ländliche Gegend unweit der Stadt Klausenburg. Ende der 40er Jahre wird die bäuerliche Wirtschaft nach sowjetischem Vorbild kollektiviert und der einst wilde Garten des sanften, belesenen Gärtners Vilmos zu einem Versuchsgelände für neue Obstsorten und international wettbewerbsfähige Rosenzüchtungen. Vier Menschen erzählen von der tiefgreifenden Veränderung: Vilmos, sein Dienstmädchen Kali, die vor ihrem prügelnden Ehemann geflohen ist, Annuschka, eine Halbwaise, die in Vilmos verliebt ist, und deren Schwester Eleonóra, die ins Kloster geht und Opfer politischer Säuberungen wird.

Produktbeschreibung
Eine ländliche Gegend unweit der Stadt Klausenburg. Ende der 40er Jahre wird die bäuerliche Wirtschaft nach sowjetischem Vorbild kollektiviert und der einst wilde Garten des sanften, belesenen Gärtners Vilmos zu einem Versuchsgelände für neue Obstsorten und international wettbewerbsfähige Rosenzüchtungen. Vier Menschen erzählen von der tiefgreifenden Veränderung: Vilmos, sein Dienstmädchen Kali, die vor ihrem prügelnden Ehemann geflohen ist, Annuschka, eine Halbwaise, die in Vilmos verliebt ist, und deren Schwester Eleonóra, die ins Kloster geht und Opfer politischer Säuberungen wird.
Autorenporträt
Andrea Tompa, 1971 in Kolozsvár/Cluj-Napoca/Klausenburg geboren, lebt seit 1990 in Budapest. Sie studierte Slawistik und ist als Theaterkritikerin tätig. Omertà ist ihr dritter Roman und ihr erstes ins Deutsche übersetzte Buch.
Rezensionen
»Andrea Tompa beleuchtet in einem fulminanten Epos die Anfänge der Parteidiktatur in Siebenbürgen. ... Zu entdecken ist eine großartige Autorin, der Terézia Mora eine eindringliche deutsche Stimme verliehen hat.« Ilma Rakusa Neue Zürcher Zeitung 20230124

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Rezensentin Ilma Rakusa zeigt sich durchaus überzeugt von Andrea Tompas Monumentalwerk "Omertà", das vier Schicksale in der rumänischen Diktatur zwischen den vierziger und sechziger Jahren in Cluj-Napoca in den Blick nimmt. Die Autorin, selbst Siebenbürgerin mit ungarisch-jüdischen Wurzeln, nehme vier Schicksale in einem jeweils ganz eigenen Ton in den Blick: Bäuerin Kali, die sich mit den Umständen arrangiert, ohne zu resignieren, der Rosenzüchter Vilmos, der vom Regime profitiert und Opportunist wird, die junge und wütende Annuska, die mit ihm eine Affäre eingeht und ihre Schwester, die unter dem Namen Eleonóra Nonne wird und dies aufgrund eines Verbots der Kommunisten verbergen muss, letztlich aber doch gefasst wird und mehrere Jahre in Haft kommt. Dort, verrät Rakusa, schreibt sie Seite um Seite ihrer Erlebnisse und hat nur den Glauben als Stütze. Diese Schicksale bringe Tompa überzeugend rüber, doch die Rezensentin hätte sich noch ein wenig mehr Interpretationsleitung gewünscht. Trotzdem ist sie sehr überzeugt von dem Prisma einer "dunklen Epoche", das die Autorin vorgelegt hat.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.06.2022

Rosen brauchen viel Geduld
Zwischen Schweigen, Euphemismen und Wortfluten: Andrea Tompas Roman "Omertà"

Aller Anfang ist schwer, dieser ist es besonders. Zunächst freilich für die Übersetzerin Terézia Mora, denn sie musste den Dialekt und jene mündliche Rede, die von der ungarischen Minderheit in Rumänien in den Fünfzigerjahren gepflegt wurde, ins Deutsche bringen. Mora ist ihre Aufgabe einfallsreich angegangen. Es sind noch keine fünf Seiten gelesen, da bleibt das Auge an einem Wort hängen, das ähnlich nur von Wochenendausgaben einer Zeitung bekannt ist: "KommenS nicht herein, Tantchen, ist noch keine Melkzeit nicht, noch ne gute Stund, bis die Mülch fertig ist."

Die Frau, die da spricht, ist Kali. Zusammen mit Vilmos, Annuschka und Eleonóra bildet sie das Stimmenquartett in Andrea Tompas Roman "Omertà". Die 1972 geborene Autorin teilt den sprachlichen Hintergrund ihrer Figuren, die fast gleichaltrige Mora zieht sämtliche lexikalischen und grammatikalischen Register, schießt dabei aber gelegentlich über ihr Ziel hinaus. "Ich spiel mich ein bisschen mit der bunten Katze, um die Zeit totzuschlagen."

Die dreißigjährige Magd Kali, der fünfzigjährige Rosenzüchter Vilmos, die Bäuerin Annuschka, noch keine sechzehn, und ihre weit ältere Schwester Eleonóra, eine Nonne, die später im Gefängnis landet, thematisieren allesamt das Reden. Kali gibt offen zu: "Aber ich kann nicht still sein. Ich muss immer reden", und sie wirft Vilmos vor, seine Gefühle nicht in Worte fassen zu können, denn "er kann nicht reden, was ihn betrübt. So sind die Männer. Können nicht reden. Hat nicht gelernt, wie man was sagt. Und jetzt heult er nur und schweigt." Der Selfmade-Rosenzüchter sieht das natürlich nicht ein: "Man muss nicht so viel reden, meine ich. Wie langweilig die ganzen Sitzungen sind. Das viele Reden, während draußen die Rosen blühen." Sie schaut er gern an, für sie, die Blumen, hat er auch Geduld, nicht aber für die hohen Herren, die "reden nur immer, in Sitzungen, an der Universität, in Kommissionen, begrüßt, eröffnet, weiht ein, führt ein, begutachtet, macht die Expertise. Sie sitzen da, hören alle zu, denken, dass der große Mann die Weisheit in seinen Taschen daherbringt, dass es ein Wunder ist. Dabei bewegt er nur die Muskeln in seinem Gesicht und seine Stimmbänder." Annuschka unterhält sich notfalls mit ihrem Pferd Puju. "Er antwortet nicht, aber er schweigt schön", ihre Schwester hält lapidar für ihren Orden fest: "Bei uns ist es nicht üblich, dass wir über uns selbst sprechen."

Es wäre ein gelungener Kniff, einer genormten Sprache einen individuellen Ton entgegenzusetzen, allein, Tompa belässt es beim formalen Signal. Auch "unverblümt" wird in den vier Monologen nur beschönigt. Da rollen keine Panzer im Nachbarland ein, sondern da werden "die Dinge in Ungarn geregelt". Schöner hätte Chruschtschow es auch nicht ausdrücken können.

Die Geschichte aller Figuren ist rasch erzählt. Kali wird von ihrem Mann geschlagen, ihr gelingt die Flucht von zu Hause, auf dem Dienstbotenmarkt "kauft" Vilmos sie, schwängert sie, quartiert sie dann samt Kind in einem anderen Dorf ein, damit in seiner Akte ja nicht länger steht, dass sein "Privatleben ungeordnet ist", bändelt schließlich mit Annuschka an, die jedoch Mihály heiratet, mit ihm zwei Kinder hat und Eleonóra nach dem Gefängnis aufnimmt. Tompa gelingt das Kunststück, die Beziehung zwischen Vilmos und Annuschka tatsächlich als beiderseitig gewollt darzustellen. An einigen Stellen grundiert sie ihre Figuren ironisch, am Ende bleiben die vier jedoch eindimensional und opportunistisch, selbst der ungebremste Mitläufer kann es nicht mit Diederich Heßling aufnehmen: Dieser "Untertan" eignet sich in keiner Weise zur Demaskierung der Machthaber.

Zwei Momente gibt es, in denen sich - womöglich gegen Tompas Absicht - zwischen den Zeilen etwas entdecken lässt. Einmal bringt ein Genosse Vilmos eine Rose aus Frankreich mit, die in einer Art Sägemehl steckt. "Sakrament noch mal!", wettert er. "Ist jetzt nicht mal mehr die Erde gut genug für euch? Hat man stattdessen auch irgendwas erfunden?" Auch seine Pläne zum industrialisierten Obstanbau fußen einzig auf einheimischen Sorten: "Nichts Ausländisches. Damit schleppen wir nur die ganzen fremden und gefährlichen Krankheiten ein. Was wir hier herauszüchten, wird widerstandsfähig sein." Und als Eleonóra mal der Securitate, mal ihrem Beichtvater Auskunft über Sünden und Vergehen gibt, parallelisiert Tompa die beiden Strukturen. "Wir dienen. Wir schauen nicht in die Zeitung", behauptet Eleonóra. Willfährigkeit ist allenthalben erwünscht.

Diesen guten Ansätzen stehen fast beleidigende Redundanzen gegenüber. Vor allem den beiden Schwestern scheinen sie in die Wiege gelegt. Annuschka hofft auf einen Kinobesuch mit Vilmos. "Ich würde mir den Film gern anschauen. In Farbe! Er ist bunt gemacht. Ganz wie im Leben. Sowas hab ich noch nie gesehen. Ein farbiger Film aus der Sowjetunion." Und als Eleonóra bereits zum vierten Mal mit fast gleichem Wortlaut sagt: "Ich habe unterschrieben, alle müssen unterschreiben, denke ich mir. Dass wir über nichts reden, was im Gefängnis mit uns geschehen ist. Nichts. Omertà. Schweigebefehl", erfolgt eine der wenigen Repliken im Roman: ",Ti-ai semnat Omerta?', fragt mich oben in der Küche das eine Mädchen. Hast du den Schweigebefehl unterschrieben, fragt es, weil du dann bald freikommst."

Tompas Roman ist in Ungarn 2017 herausgekommen. Dort wird man die Anspielungen auf den Vertrag von Trianon oder auf den jungen Ceausescu vermutlich besser zu deuten wissen. Im Deutschen bleibt vage, ob die Unterdrückung der ungarischen Minderheit in Rumänien mit dem neuen kommunistischen System oder mit Folgen des Ersten Weltkriegs in Zusammenhang gebracht wird. Das liegt auch, aber nicht nur an fehlenden Anmerkungen. Letzten Endes hat Tompa ihren Stoff verschenkt.

Sie beobachtet ihre Figuren wie Vilmos seine Rosen. Das würde vielleicht noch funktionieren, wenn diese Figuren für eine Position einstehen würden, nicht wie die Geschöpfe des Blumenzüchters allein auf ihre Existenz reduziert wären. Knapp tausend Seiten kann man daher beobachten, wie Kunstwörter entstehen und hier und da ein Anakoluth erblüht. Einen Widerhall aber hinterlässt das Werk nicht. CHRISTIANE PÖHLMANN

Andrea Tompa: "Omertà". Roman.

Aus dem Ungarischen von Terézia Mora. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 954 S., geb., 34,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.06.2022

Rosen für den Weltfrieden
Zum ersten Mal erscheint eines ihrer Bücher auf Deutsch: Andrea Tompas großer Roman „Omertà“ über Liebe, Schweigen und Opportunismus
in der rumänischen Parteidiktatur. Eine staunenswerte Entdeckung
VON LOTHAR MÜLLER
Als Kali das Dorf verlässt, das Haus, den Mann, der sie schlägt und ihr kein eigenes Geld zugesteht, kann sie nicht viel mitnehmen. Brot, Speck, ein wenig Pflaumenmus „und mein Linnen, was ich gewoben hab“. Der Zweite Weltkrieg liegt noch nicht lange zurück, das Széker Land, dem sie entstammt, gehört wie ganz Siebenbürgen zur noch jungen Volksrepublik Rumänien. Mit dem Linnen nimmt Kali ihre Sprache mit, das Ungarische. Für sie heißt die Stadt, in der sie sich auf dem Dienstbotenmarkt verdingen will, Kolozsvár, auf Rumänisch Cluj, auf Deutsch Klausenburg. Sie wird zu Fuß dort ankommen, vorbei an Schlössern mit eingeschlagenen Fenstern, Provinzbahnhöfen, denen man die Bombenangriffe noch ansieht. Sie wird Arbeit finden bei dem Rosenzüchter Vilmos. Die Kinderlosigkeit einer fast Vierzigjährigen, die sie aus ihrem Eheunglück mitgebracht hat, wird ein Ende haben. Die einzige Geliebte des Rosenzüchters wird sie nicht sein.
Kali ist die Portalfigur in dem großen Roman „Omertà. Buch des Schweigens“ von Andrea Tompa, die 1971 in Cluj geboren wurde, als Angehörige der ungarischen Minderheit in Rumänien wie die meisten ihrer Figuren. In ihrer Familie gab es eine jüdische und eine katholische Großmutter, Repräsentanten des siebenbürgischen Bürgertums und politische Aktivisten. Sie hat 1989, kurz vor dem Ende der Ceaușescu-Diktatur, in ihrer Heimatstadt Ungarisch und Russisch zu studieren begonnen, ist am Beginn der Neunzigerjahre nach Budapest gegangen und hat ihr Studium dort fortgesetzt, war 1996/97 mit einem Stipendium in St. Petersburg.
Ihre Dissertation hat sie über Vladimir Nabokov geschrieben, sie war Mitarbeiterin am Ungarischen Institut für Theatergeschichte und mehrere Jahre Theaterkritikerin, ehe sie 2010 ihr Romandebüt publizierte, „Das Haus des Henkers“, mit dem sarkastischen Untertitel „Geschichten aus dem Goldenen Zeitalter“ und einer Protagonistin, die wie ihre Autorin im Rumänien Ceaușescus in den Siebziger- und Achtzigerjahren aufwächst. Ins Englische wurde dieses Buch übersetzt, ins Deutsche noch nicht. Insgesamt vier Romane hat Andrea Tompa inzwischen geschrieben, „Omertà“, im Original 2018 erschienen, ist der dritte. Mit ihm stellt der Suhrkamp-Verlag dem deutschen Publikum diese Autorin vor.
Er holt das Schweigen, das er im Titel trägt, auf weit über 900 Seiten in die Sprache hinein, mit vier Protagonisten, drei Frauen und einem Mann, die nacheinander das Wort erhalten. Auf die vom Leben versehrte Kali folgen Vilmos, der Rosenzüchter, der in der Aufbauphase der Parteidiktatur Karriere macht, dann die junge Annuschka, in der sich Land und Vorstadt durchdringen, und schließlich deren ältere Schwester Rózsi, die zum katholischen Glauben übergetreten ist, mit der „Rosenkranzgruppe“, der sie angehört, vor Gericht gestellt wurde und körperlich schwer gezeichnet aus dem Gefängnis zurückkehrt. In dem Bericht, den sie auf Bitten ihrer Schwester schreibt, schält sich der harte Kern des Wortes „Omertà“ heraus, das Schweigegebot, das ihr die Behörden auferlegt haben, als sie aus der Haft entlassen wird. Doch die Omertà hat in diesem Roman nicht das letzte Wort.
Über den Plot lässt er sich nicht begreifen. Der nachhaltige Eindruck, den er hinterlässt, entspringt seiner eigenwilligen Form. Er spielt in einer abgelegenen europäischen Provinz, aber die Muster des Provinzromans hat Andrea Tompa ausgeschlagen. Bei fortschreitender Lektüre wird klar, dass dieser polyphone Roman nicht nur aus vier Stimmen besteht, sondern vor allem aus dem Schweigen einer fünften, der Erzählerstimme eines zeithistorischen Romans. Es gibt sie hier nicht, es gibt nur die Stimmen der Ich-Erzähler, die sich wechselseitig beleuchten, aber mit sich allein sind, während sie erzählen. Eine Instanz der eleganten Überleitungen, des Kommentars, der Wertung, des Rückblicks aus einer Gegenwart auf die Irrtümer der in ihre Welt eingeschlossenen Figuren gibt es nicht.
Die große Kunst von Andrea Tompa besteht darin, dass diese Figuren viel mehr über sich und ihre Welt preisgeben, als sie wollen und wissen. Es ist die Kunst der Modellierung von Sprache, der Charakterisierung der Figuren durch die Tonlagen ihres Erzählens. Aus Kali zum Beispiel spricht nicht nur das Unglück ihrer Ehe, aus ihr sprechen die Märchen, die Sprichwörter, die Redewendungen ihrer Herkunftswelt. Die Lust im Bett ist in ihrer Ehe vernichtet worden, scharf geworden ist dafür ihr Blick auf die Männer. Für sie ist es ein Gesetz der Schöpfung, „dass der Mann, wenn er über die Frau gekommen ist, sich immer zur Seite dreht und schläft, und die Frau will ihm gerade dann schöne Dinge aus ihrem Leben erzählen“. Manchmal hört der Rosenzüchter ihr zu. Aber meist ist sie allein mit ihrer Lebensgeschichte, eine Prise Notwehr ist ihrer Erzählerstimme beigemischt, die dem festen Leinen ähnelt, das sie selbst gewoben hat: „Ich muss es mir selbst erzählen, damit ich’s nicht vergesse. Wie schön alles war. Schön, wie das Loch des Teufels.“
Lockerer geknüpft, gelegentlich salopp hochschnellend, dann wieder zielstrebig geglättet ist der Erzählfaden bei Vilmos Décsi, dem Rosenzüchter, der in einem eigenen Haus lebt, schon vor dem Krieg seinen Gartenbetrieb aufgebaut hat und als autodidaktisch gebildeter Mann aus dem Volke an die Universität berufen wird. Das Gelände, auf dem er zum Ruhm der Volksrepublik Rumänien die Rosenzucht im Maßstab der Industrialisierung vorantreiben soll, verdankt er den Enteignungen der „Hóstáter“, Bauern, die Landwirtschaft am Rande der Stadt betreiben.
Er besteigt nach seinem Eintritt in die kommunistische Partei die Karriereleiter mit der stillen Reserve des Individualisten. Seinen Opportunismus tarnt er als Realismus. Aber der hat ein Fundament von fantastischen Dimensionen: seine obsessive Leidenschaft für die Rosen. Sie ist nicht nur in sich erotisch gefärbt, sie ist mit seiner Obsession für Frauen verknüpft. Als Züchter ist er der Produzent der Objekte seiner Obsession, als Liebhaber der unglücklichen Kali, der jungen Annuschka und der mondän-bürgerlichen Madame M. hemmungsloser Konsument. Als ihm klar wird, dass seine Liebschaft mit Kali seine Karriere gefährdet, verfrachtet er sie und den Sohn, den sie ihm geboren hat (so sagt man das in seiner Welt), in ein flugs gekauftes Haus in einem nahen Dorf.
All das lässt Andrea Tompa den Rosenzüchter selbst erzählen, ohne ihm je ins Wort zu fallen oder darauf hinzuweisen, was er verschweigt: dass seine Lebenslügen der Tribut sind, den er an die herrschende Macht und ihren Gewaltapparat zahlt. Staunenswert, wie es ihr gelingt, diese Figur nicht in ihrem Opportunismus verschwinden zu lassen. Vilmos hat den weitaus größten Part in diesem Roman. Denn anders als die Frauen hat er die Chance, die Verwurzelung in der Herkunftswelt mit dem Aufstieg in die Nomenklatura und in die internationale Welt zu verknüpfen. Er reist zu Rosenzüchter-Wettbewerben nach Triest und Paris, und er ist zugleich die etwas trübe Glasscherbe, durch die den Lesern des Romans die Geschichte des Abstiegs der Ungarn in Cluj und Siebenbürgen während der Fünfziger- und frühen Sechzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts vor Augen tritt.
Anfangs stellen sie noch die Mehrheit in der Stadt, aber zunehmend werden an der Universität wie im Alltag ihre Rechte eingeschränkt. Reine Opfer sind sie nicht, weil viele von ihnen mittun, wie Vilmos. Die Beschwichtigungsrhetorik, mit der er von den schraubstockartigen Befestigungen des Machtapparates in der Ära des Parteiführers Gheorghe Gheorghiu-Dej erzählt, kann die Härten der Zwangskollektivierung, der Inhaftierung oder Liquidierung von Abweichlern nicht überdecken. Zu ihnen gehört einer der engsten Freunde des Rosenzüchters, Lali, anders als er selbst ein überzeugter Sozialist, Jude wie viele seiner ins Gefängnis geworfenen Leidensgenossen. Vilmos wird die Prüfung, die diese Freundschaft für ihn darstellt, nicht bestehen. Diese Prüfung ist eng mit der ungarischen Revolution im Herbst 1956 verknüpft. Sie ist der zeithistorische Glutkern des Romans, der auf alle Protagonisten abstrahlt.
Terézia Mora hat es ermöglicht, dass die vier Stimmen dieses eigenwilligen, exemplarischen Romans über die Errichtung eines Repressionsregimes in der europäischen Provinz nun auch im Deutschen zu hören sind. Sie ist selbst in einer mehrsprachigen Welt aufgewachsen. Als Übersetzerin der „Harmonia Caelestis“ von Péter Esterházy ist sie mit den Herausforderungen polyphoner Romane vertraut. Sie hat dem deutschen Text ein Register mit den Begriffen und Ortsnamen des Originals beigegeben, die sie gelegentlich hat stehenlassen. So bleibt die Ferne der dargestellten Welt, zugleich aber holt die Übersetzung die Tonarten der Protagonisten ins Deutsche, einschließlich der älteren Sprachschichten, die Märchen, Chronik und frommen Rosenkranz einschließen und eine bisweilen aufreizende Demut.
Gibt es in diesem Roman eine Utopie? Ja, aber ihre Einlösung ist schon verpasst, als er beginnt. Es ist weder der Sozialismus noch die Vergangenheit oder Zukunft der Ungarn in Siebenbürgen. Es ist eine Rose namens „Peace“, für die es wie für den Rosenzüchter selbst ein historisches Vorbild gibt. Sie geistert durch die Obsessionen von Vilmos Décsi, der aufmerksam die Kataloge seiner Kollegen in Frankreich, Deutschland, England studiert. Die Rose „Peace“ fasziniert ihn schon, als er noch nicht weiß, warum sie ihren Namen trägt. Einen Ableger hat er erhalten, sie soll in seiner Welt aufblühen. Durch seine mondän-bürgerliche Geliebte, Frau M., erfährt er, dass bei der Gründungsversammlung der Vereinten Nationen 1945 in San Francisco jedem Teilnehmer die von dem Franzosen Francis Meilland gezüchtete Rose „Peace“ überreicht wurde. Nun ist seine Obsession vollkommen, am Ende seiner Aufzeichnungen ist sie für ihn „die größte Rose der Welt“, die welthistorische Verklärung seines Züchterdaseins. Dass Andrea Tompa Humor hat, kommt an vielen Stellen des Romans zum Ausdruck. Dies ist seine sarkastischste Pointe.
Andrea Tompa und Terézia Mora als Übersetzerin sind mit „Omertà“ für den Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt nominiert, dem interessantesten deutschen Literaturpreis. Auf der Shortlist stehen sechs Romane, darunter Can Xues „Liebe im neuen Jahrtausend“ und Adania Shiblis „Eine Nebensache“. Der Preis wird am Mittwoch, dem 22. Juni, in Berlin verliehen.
Tompa lässt ihre Figur
erzählen, ohne zu kommentieren,
was sie verschweigt
Terézia Moras Übersetzung
erhält die Ferne der dargestellten
Welt und bringt ihre Tonarten nah
Andrea Tompa: Omertà. Buch des Schweigens. Roman. Aus dem
Ungarischen von Terézia Mora. Suhrkamp Verlag,
Berlin 2022. 954 Seiten,
34 Euro.
Nach dem Volksaufstand
in Ungarn 1956 steht
ein sowjetischer Panzer
auf einem Platz in Budapest. Dieses Ereignis ist der
zeithistorische Glutkern des Romans von Andrea Tompa (oben). Für seine Utopie steht die Zuchtrose „Peace“,
die 1945 an die Abgeordneten der Gründungskonferenz
der Vereinten Nationen
verteilt wurde.
Fotos: DB/picture alliance,
Stefan Klüter/Suhrkamp,
Gottfried Czepluch / imago
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