Set on both sides of the Atlantic, Smith's third novel is a brilliant analysis of family life, the institution of marriage, intersections of the personal and the political, and an honest look at people's deceptions.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.08.2006Ich könnte nicht sagen, wer ich eigentlich bin
Die englische Schriftstellerin Zadie Smith über Condoleezza Rice, Harvard-Studenten und den Unterschied zwischen Literatur und Musik
Eine Doppelhaushälfte im Londoner Stadtteil Kilburn. Zadie Smith, 30, wohnt hier zusammen mit ihrem Ehemann Nick Laird, der auch Schriftsteller ist. Nach ihrem Erfolgsroman "Zähne zeigen" (2000) und ihrem zweiten Buch "Der Autogrammhändler" erscheint jetzt ihr dritter Roman in der deutschen Übersetzung: "Von der Schönheit". Er ist ein Familienroman, der an einem College in der Nähe von Boston spielt, und Zadie Smith bringt einem die Personen dieses Romans so nahe, daß man erstaunlicherweise anfängt, sich beim Lesen mit ihnen zu verwechseln. Immer ist sie dabei auch ironisch, verraten würde sie ihre Protagonisten nie. Wir gehen ins Wohnzimmer, wo alles hellgrün und weiß ist und an den Wänden keine Bilder, sondern viele alte Spiegel hängen. Zadie Smith serviert Tee und dreht sich die dünnsten Zigaretten, die man je gesehen hat. Sie spricht mit dunkler Stimme und sehr schnell.
Ihr neuer Roman "Von der Schönheit" ist in England und Amerika sehr gefeiert worden. Und obwohl man erst mal darauf kommen muß, haben doch alle gleich bemerkt, daß Sie eine alte Geschichte neu erfunden haben: den Familienzwist aus Edward Morgan Forsters "Wiedersehen in Howards End". Warum?
Forster gehört zu den Schriftstellern, die ich sehr, sehr mochte, als ich Anfang Zwanzig war. Ich habe immer viel Dickens und Hardy gelesen und die Bücher von den Brontë-Schwestern. Aber von Forster habe ich alles gelernt: Wie man schreibt, wie man Charaktere anlegt - er ist bei allem ja auch immer sehr lustig. Also war das Ausdruck meiner Dankbarkeit. Wissen Sie, worum es bei Forster geht? Ums Moralisieren. Menschen, die immer meinen, daß sie im Recht sind, werden eindimensional, starrsinnig und flach. Meine Figuren haben dasselbe Problem.
Ihr Roman erzählt die Geschichte von zwei verfeindeten Professoren und ihren Familien. Der eine, Howard Belsey, ist ein linker Weißer, der an einem College in der Nähe von Boston lehrt; der andere, Monty Kipps, ein schwarzer Konservativer von der Uni in London.
Beide sind Rembrandt-Forscher. Sie sind beruflich Rivalen und politische Erzfeinde. Und sie kriegen ein Problem, als Howards Sohn sich in London in Montys Tochter verliebt und Montys ganze Familie kurz darauf für ein Gastsemester nach Boston zieht. Da können sie sich dann nicht mehr aus dem Weg gehen. Es ist das ganz große Familienchaos.
Daß er mit seinem Starrsinn nicht weiterkommt, merkt allerdings nur Howard. Monty ist bis zum Schluß der konservative Schwarze vom Typ Colin Powell oder Condoleezza Rice, der es geschafft hat und sich permanent vom schwarzen Rest absetzt. Man hat nicht gerade den Eindruck, daß Sie ihn besonders mögen.
Leute wie Colin Powell und Condoleezza Rice finde ich vor allem psychologisch interessant. Sie sorgen in der Black Community für viel Verwirrung und lösen in gewisser Weise auch Angst aus. Wann immer man etwas über Condoleezza Rice liest, tauchen diese seltsamen Vermutungen auf, daß sie lesbisch sei oder psychotisch. Daß sie möglicherweise einfach eine sehr erfolgreiche schwarze Frau ist, die sehr rechte Positionen hat und ihren Job ziemlich gut macht, will keiner so recht glauben. Ich ertappe mich selbst dabei, daß mir das immer wieder komisch vorkommt und ich nach psychologischen Erklärungen suche. Und das ist doch interessant: daß man, sobald die schwarzen Wurzeln für die politische Gesinnung einer Schwarzen keine Rolle spielen, sofort eine Störung vermutet.
Sie meinen also nicht, daß Schwarze ihren schwarzen Wurzeln politisch verpflichtet sind?
Ich teile die Positionen von Condoleezza Rice nicht, und wenn ich Kinder hätte, die in ihr eine Art Vorbild sähen, würde ich mir Sorgen machen. Trotzdem glaube ich nicht, daß sich jemand, nur weil er eine bestimmte Hautfarbe hat oder bestimmter Herkunft ist, für die Menschen, die dieselbe Hautfarbe und dieselben Wurzeln haben, einsetzen muß. Das ist eine Frage der freien Entscheidung. Sie zum Beispiel können sich Deutschland gegenüber verpflichtet fühlen, müssen es aber nicht. Sie könnten auch Engländerin werden und ich Deutsche, wie wäre das?
Das wäre toll. Allerdings finde ich Sie gerade sehr britisch.
Ich mich ja auch. Das hat aber gar nicht soviel damit zu tun, daß ich hier geboren bin. Ich liebe mein Land, weil ich die Bücher und die Kunst liebe, die von hier kommen. Also habe ich meine Gründe. Leute, die mit der Flagge herumlaufen, viel Lärm machen und nicht wissen, wer Henry V. war, sind für mich nicht englisch.
Amerikanerin wären Sie nicht gern?
Das entspricht mir nicht, da bin ich mir sicher. Als ich jetzt aber für acht Monate in Harvard war, hatte ich wirklich eine großartige Zeit dort und habe mich sehr wohl gefühlt. Es hat viele Vor- und Nachteile, wenn man Bücher schreibt und mit einem Mal so sehr in der Öffentlichkeit steht. Für mich gehörte es zu den allergrößten Vorteilen, plötzlich ein amerikanisches Publikum zu haben. Das kam völlig unerwartet, weil man als englische Schriftstellerin natürlich erst mal an eine Leserschaft aus England oder Europa denkt. In gewisser Weise habe ich für mich so Amerika entdeckt und das anti-amerikanische Gerede von zu Hause als sehr seltsam empfunden. Man kann Amerika nicht in einem Satz abhandeln. Es ist ein riesiges, in zwei Hälften gespaltenes Land, und die eine Hälfte ist von der anderen politisch völlig verschieden.
Ihr Roman spielt an einem College in der Nähe von Boston. In einer der lustigsten Szenen treffen sich Howards Kinder, Zora und Levi, zufällig bei einer Poetry-Slam-Session in einem Club. Levi ist mit seinen Rapper-Freunden da, Zora mit den Studenten vom Creative-Writing-Kurs, die alle ein bißchen so reden, als hätten sie zuviel Foucault und Judith Butler gelesen. Sie sitzen da wie kleine Professoren, die sich plötzlich im wahren Leben wiederfinden.
Das komische ist ja, daß, wenn man Student ist - und ich habe wirklich gerne studiert -, man sehr genau weiß, daß einen keiner mag. Niemand mag Studenten. Alle denken, sie seien lächerlich oder verrückt, und tatsächlich ist man das auch, weil man in kurzer Zeit so vieles so schnell lernt und randvoll ist mit diesem neuen Wissen. Das ist ein guter Stoff für Komödien.
Mußten Sie in Harvard Creative-Writing-Kurse geben?
Einen ja, das war Bedingung. Ich habe wirklich großen Respekt vor Leuten, die das können. Eine Menge großer amerikanischer Autoren macht das, aber wenn man ein guter Schriftsteller ist, ist man eben noch lange kein guter Lehrer. Ein guter Lehrer muß mit jungen Menschen umgehen können, was ich nicht besonders gut kann. Ich fand es schwierig, mit ihnen zu reden und mich daran zu erinnern, wie es ist, wenn man achtzehn ist. Außerdem muß man so vorsichtig sein. Sie sitzen da und zeigen dir all die Sachen, die sie geschrieben haben, was ja auch intim ist. Also dachte ich, es reicht, einen guten Geschmack zu haben und ganz gut lektorieren zu können. Aber darum geht es gar nicht. Man muß sie öffnen und ihr Selbstvertrauen stärken. Das ist eine Fähigkeit, die ich bewundere. Immerhin kommen viele meiner Freunde in Amerika aus solchen Programmen: Jonathan Safran Foer hat solche Kurse besucht, Jeffrey Eugenides, Franzen, ich meine, alle waren da mal.
Sie schreiben Ihren Familienroman als Dreißigjährige nicht aus der Perspektive einer Dreißigjährigen, sondern versetzen sich in Figuren jeden Alters hinein. Fällt Ihnen das leicht?
Ich habe mich selbst nie als klar umrissene Person empfunden und könnte wirklich nicht sagen, wer ich eigentlich bin. In meiner eigenen Wahrnehmung bin ich eher vieles auf einmal - vielleicht daher meine Vorliebe für viele verschiedene Charaktere. Mich befremdet das ja, daß so viele junge Autoren ständig glauben, einem über ein Alter ego mitteilen zu müssen, wer sie sind. Ich könnte das gar nicht. Man muß sich schon für ein besonders großes Wunder halten oder es selbst gar nicht fassen können, was man zum Beispiel alles für sexuelle Gewohnheiten hat, um so schreiben zu können. Mich interessiert diese Literatur überhaupt nicht. Es ist Literatur von Schauspielern: Sie sind die Stars, die anderen die Co-Stars in ihrem persönlichen Film. Worauf es mir ankommt, ist, zu verstehen zu geben, daß andere in derselben Weise lebendig sind wie man selbst; daß sie ihre Lieben haben und ihr Leid - und daß sie sterben werden.
Schicken Sie Howards Familie im Roman deshalb in ein Konzert von Mozarts "Requiem"?
Wenn Sie so wollen, ja. Konzertbesuche gehören doch zu diesen gemeinsamen Familienunternehmungen, zu denen allerhöchstens die Hälfte der Familie Lust hat. Aber von Mozarts "Requiem" sind alle berührt, sogar Howard, der sich für einen unerbittlichen Atheisten und Rationalisten hält.
Sie haben selber mal gesungen. Was ist für Sie der Hauptunterschied zwischen Musik und Literatur in der Möglichkeit, sich auszudrücken?
Wenn man mit Schriftstellern spricht, ist es eigentlich immer so, daß sie Musiker beneiden, weil Musikhören eine so unmittelbare Erfahrung ist: Du hörst ein Stück oder ein Lied - und das ist es! Sie kennen doch sicher das "Pulp"-Album "Different Class" von 1995. Auf diesem Album wird so unglaublich viel über England, über die Menschen und die Klassen gesagt - ich brauchte zwölf Bücher und könnte nicht annähernd dasselbe sagen. Das ist der Unterschied: Dylan schreibt einen Song, Christopher Ricks fünfzig Bücher. Musik ist intensiver und berührt direkter, was man auf Hochzeiten oder Beerdigungen beobachten kann. Jeder wünscht sich ein Lied und fände es nicht unbedingt passend, wenn auf seiner Beerdigung eine Seite aus, sagen wir, "Middlesex" vorgelesen würde. Ich wäre damit auch nicht einverstanden! Bei Rap-Musik, die in meinem Roman eine Rolle spielt, ist das etwas anderes, weil sie so textlastig ist. Ich verdanke da viele Anregungen meinem Bruder, der in der britischen Hip-Hop-Szene aktiv ist.
Man hat ja den Eindruck, daß Sie, so wie Sie Familienszenen beschreiben, in Ihrer Familie viel Spaß gehabt haben müssen.
Das hatten wir sicher. Meine Brüder und ich sind mit Monty Python groß geworden und mit der Fernsehserie "The Office". Für Engländer ist Comedy eine sehr ernste Angelegenheit! Wenn wir also vorm Fernseher saßen und eine neue Folge gesehen haben, wurde ununterbrochen geredet und analysiert, ob es funktioniert und auch tatsächlich lustig ist. "The Office" ist nicht bloß spaßig, man muß nicht die ganze Zeit lachen. Eher ist es auf eine Weise komisch und traurig, die dir so sehr das Herz bricht, daß du weinen mußt. Das war schön. Zugleich habe ich mich zu Hause aber auch fremd gefühlt. Haben Sie zufällig Scorseses Bob-Dylan-Film gesehen?
Ja.
Vielleicht erinnern Sie sich an den Anfang. Da erzählt Dylan, wie er in einem Haus, das sein Vater gekauft hatte, zum ersten Mal eine Country-Platte hört. Er hat plötzlich das Gefühl, er wäre jemand anderes, und stellt fest, daß er vielleicht nicht die richtigen Eltern hat. Der unvergleichliche Dylan sitzt da also mitten in Mittelamerika und fühlt sich fremd. Und vielleicht braucht man dieses Gefühl, um den Antrieb zu haben, überhaupt so etwas wie Kunst zu produzieren.
Interview Julia Encke
Zadie Smith: "Von der Schönheit". Verlag Kiepenheuer & Witsch. 518 S., 22,90 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die englische Schriftstellerin Zadie Smith über Condoleezza Rice, Harvard-Studenten und den Unterschied zwischen Literatur und Musik
Eine Doppelhaushälfte im Londoner Stadtteil Kilburn. Zadie Smith, 30, wohnt hier zusammen mit ihrem Ehemann Nick Laird, der auch Schriftsteller ist. Nach ihrem Erfolgsroman "Zähne zeigen" (2000) und ihrem zweiten Buch "Der Autogrammhändler" erscheint jetzt ihr dritter Roman in der deutschen Übersetzung: "Von der Schönheit". Er ist ein Familienroman, der an einem College in der Nähe von Boston spielt, und Zadie Smith bringt einem die Personen dieses Romans so nahe, daß man erstaunlicherweise anfängt, sich beim Lesen mit ihnen zu verwechseln. Immer ist sie dabei auch ironisch, verraten würde sie ihre Protagonisten nie. Wir gehen ins Wohnzimmer, wo alles hellgrün und weiß ist und an den Wänden keine Bilder, sondern viele alte Spiegel hängen. Zadie Smith serviert Tee und dreht sich die dünnsten Zigaretten, die man je gesehen hat. Sie spricht mit dunkler Stimme und sehr schnell.
Ihr neuer Roman "Von der Schönheit" ist in England und Amerika sehr gefeiert worden. Und obwohl man erst mal darauf kommen muß, haben doch alle gleich bemerkt, daß Sie eine alte Geschichte neu erfunden haben: den Familienzwist aus Edward Morgan Forsters "Wiedersehen in Howards End". Warum?
Forster gehört zu den Schriftstellern, die ich sehr, sehr mochte, als ich Anfang Zwanzig war. Ich habe immer viel Dickens und Hardy gelesen und die Bücher von den Brontë-Schwestern. Aber von Forster habe ich alles gelernt: Wie man schreibt, wie man Charaktere anlegt - er ist bei allem ja auch immer sehr lustig. Also war das Ausdruck meiner Dankbarkeit. Wissen Sie, worum es bei Forster geht? Ums Moralisieren. Menschen, die immer meinen, daß sie im Recht sind, werden eindimensional, starrsinnig und flach. Meine Figuren haben dasselbe Problem.
Ihr Roman erzählt die Geschichte von zwei verfeindeten Professoren und ihren Familien. Der eine, Howard Belsey, ist ein linker Weißer, der an einem College in der Nähe von Boston lehrt; der andere, Monty Kipps, ein schwarzer Konservativer von der Uni in London.
Beide sind Rembrandt-Forscher. Sie sind beruflich Rivalen und politische Erzfeinde. Und sie kriegen ein Problem, als Howards Sohn sich in London in Montys Tochter verliebt und Montys ganze Familie kurz darauf für ein Gastsemester nach Boston zieht. Da können sie sich dann nicht mehr aus dem Weg gehen. Es ist das ganz große Familienchaos.
Daß er mit seinem Starrsinn nicht weiterkommt, merkt allerdings nur Howard. Monty ist bis zum Schluß der konservative Schwarze vom Typ Colin Powell oder Condoleezza Rice, der es geschafft hat und sich permanent vom schwarzen Rest absetzt. Man hat nicht gerade den Eindruck, daß Sie ihn besonders mögen.
Leute wie Colin Powell und Condoleezza Rice finde ich vor allem psychologisch interessant. Sie sorgen in der Black Community für viel Verwirrung und lösen in gewisser Weise auch Angst aus. Wann immer man etwas über Condoleezza Rice liest, tauchen diese seltsamen Vermutungen auf, daß sie lesbisch sei oder psychotisch. Daß sie möglicherweise einfach eine sehr erfolgreiche schwarze Frau ist, die sehr rechte Positionen hat und ihren Job ziemlich gut macht, will keiner so recht glauben. Ich ertappe mich selbst dabei, daß mir das immer wieder komisch vorkommt und ich nach psychologischen Erklärungen suche. Und das ist doch interessant: daß man, sobald die schwarzen Wurzeln für die politische Gesinnung einer Schwarzen keine Rolle spielen, sofort eine Störung vermutet.
Sie meinen also nicht, daß Schwarze ihren schwarzen Wurzeln politisch verpflichtet sind?
Ich teile die Positionen von Condoleezza Rice nicht, und wenn ich Kinder hätte, die in ihr eine Art Vorbild sähen, würde ich mir Sorgen machen. Trotzdem glaube ich nicht, daß sich jemand, nur weil er eine bestimmte Hautfarbe hat oder bestimmter Herkunft ist, für die Menschen, die dieselbe Hautfarbe und dieselben Wurzeln haben, einsetzen muß. Das ist eine Frage der freien Entscheidung. Sie zum Beispiel können sich Deutschland gegenüber verpflichtet fühlen, müssen es aber nicht. Sie könnten auch Engländerin werden und ich Deutsche, wie wäre das?
Das wäre toll. Allerdings finde ich Sie gerade sehr britisch.
Ich mich ja auch. Das hat aber gar nicht soviel damit zu tun, daß ich hier geboren bin. Ich liebe mein Land, weil ich die Bücher und die Kunst liebe, die von hier kommen. Also habe ich meine Gründe. Leute, die mit der Flagge herumlaufen, viel Lärm machen und nicht wissen, wer Henry V. war, sind für mich nicht englisch.
Amerikanerin wären Sie nicht gern?
Das entspricht mir nicht, da bin ich mir sicher. Als ich jetzt aber für acht Monate in Harvard war, hatte ich wirklich eine großartige Zeit dort und habe mich sehr wohl gefühlt. Es hat viele Vor- und Nachteile, wenn man Bücher schreibt und mit einem Mal so sehr in der Öffentlichkeit steht. Für mich gehörte es zu den allergrößten Vorteilen, plötzlich ein amerikanisches Publikum zu haben. Das kam völlig unerwartet, weil man als englische Schriftstellerin natürlich erst mal an eine Leserschaft aus England oder Europa denkt. In gewisser Weise habe ich für mich so Amerika entdeckt und das anti-amerikanische Gerede von zu Hause als sehr seltsam empfunden. Man kann Amerika nicht in einem Satz abhandeln. Es ist ein riesiges, in zwei Hälften gespaltenes Land, und die eine Hälfte ist von der anderen politisch völlig verschieden.
Ihr Roman spielt an einem College in der Nähe von Boston. In einer der lustigsten Szenen treffen sich Howards Kinder, Zora und Levi, zufällig bei einer Poetry-Slam-Session in einem Club. Levi ist mit seinen Rapper-Freunden da, Zora mit den Studenten vom Creative-Writing-Kurs, die alle ein bißchen so reden, als hätten sie zuviel Foucault und Judith Butler gelesen. Sie sitzen da wie kleine Professoren, die sich plötzlich im wahren Leben wiederfinden.
Das komische ist ja, daß, wenn man Student ist - und ich habe wirklich gerne studiert -, man sehr genau weiß, daß einen keiner mag. Niemand mag Studenten. Alle denken, sie seien lächerlich oder verrückt, und tatsächlich ist man das auch, weil man in kurzer Zeit so vieles so schnell lernt und randvoll ist mit diesem neuen Wissen. Das ist ein guter Stoff für Komödien.
Mußten Sie in Harvard Creative-Writing-Kurse geben?
Einen ja, das war Bedingung. Ich habe wirklich großen Respekt vor Leuten, die das können. Eine Menge großer amerikanischer Autoren macht das, aber wenn man ein guter Schriftsteller ist, ist man eben noch lange kein guter Lehrer. Ein guter Lehrer muß mit jungen Menschen umgehen können, was ich nicht besonders gut kann. Ich fand es schwierig, mit ihnen zu reden und mich daran zu erinnern, wie es ist, wenn man achtzehn ist. Außerdem muß man so vorsichtig sein. Sie sitzen da und zeigen dir all die Sachen, die sie geschrieben haben, was ja auch intim ist. Also dachte ich, es reicht, einen guten Geschmack zu haben und ganz gut lektorieren zu können. Aber darum geht es gar nicht. Man muß sie öffnen und ihr Selbstvertrauen stärken. Das ist eine Fähigkeit, die ich bewundere. Immerhin kommen viele meiner Freunde in Amerika aus solchen Programmen: Jonathan Safran Foer hat solche Kurse besucht, Jeffrey Eugenides, Franzen, ich meine, alle waren da mal.
Sie schreiben Ihren Familienroman als Dreißigjährige nicht aus der Perspektive einer Dreißigjährigen, sondern versetzen sich in Figuren jeden Alters hinein. Fällt Ihnen das leicht?
Ich habe mich selbst nie als klar umrissene Person empfunden und könnte wirklich nicht sagen, wer ich eigentlich bin. In meiner eigenen Wahrnehmung bin ich eher vieles auf einmal - vielleicht daher meine Vorliebe für viele verschiedene Charaktere. Mich befremdet das ja, daß so viele junge Autoren ständig glauben, einem über ein Alter ego mitteilen zu müssen, wer sie sind. Ich könnte das gar nicht. Man muß sich schon für ein besonders großes Wunder halten oder es selbst gar nicht fassen können, was man zum Beispiel alles für sexuelle Gewohnheiten hat, um so schreiben zu können. Mich interessiert diese Literatur überhaupt nicht. Es ist Literatur von Schauspielern: Sie sind die Stars, die anderen die Co-Stars in ihrem persönlichen Film. Worauf es mir ankommt, ist, zu verstehen zu geben, daß andere in derselben Weise lebendig sind wie man selbst; daß sie ihre Lieben haben und ihr Leid - und daß sie sterben werden.
Schicken Sie Howards Familie im Roman deshalb in ein Konzert von Mozarts "Requiem"?
Wenn Sie so wollen, ja. Konzertbesuche gehören doch zu diesen gemeinsamen Familienunternehmungen, zu denen allerhöchstens die Hälfte der Familie Lust hat. Aber von Mozarts "Requiem" sind alle berührt, sogar Howard, der sich für einen unerbittlichen Atheisten und Rationalisten hält.
Sie haben selber mal gesungen. Was ist für Sie der Hauptunterschied zwischen Musik und Literatur in der Möglichkeit, sich auszudrücken?
Wenn man mit Schriftstellern spricht, ist es eigentlich immer so, daß sie Musiker beneiden, weil Musikhören eine so unmittelbare Erfahrung ist: Du hörst ein Stück oder ein Lied - und das ist es! Sie kennen doch sicher das "Pulp"-Album "Different Class" von 1995. Auf diesem Album wird so unglaublich viel über England, über die Menschen und die Klassen gesagt - ich brauchte zwölf Bücher und könnte nicht annähernd dasselbe sagen. Das ist der Unterschied: Dylan schreibt einen Song, Christopher Ricks fünfzig Bücher. Musik ist intensiver und berührt direkter, was man auf Hochzeiten oder Beerdigungen beobachten kann. Jeder wünscht sich ein Lied und fände es nicht unbedingt passend, wenn auf seiner Beerdigung eine Seite aus, sagen wir, "Middlesex" vorgelesen würde. Ich wäre damit auch nicht einverstanden! Bei Rap-Musik, die in meinem Roman eine Rolle spielt, ist das etwas anderes, weil sie so textlastig ist. Ich verdanke da viele Anregungen meinem Bruder, der in der britischen Hip-Hop-Szene aktiv ist.
Man hat ja den Eindruck, daß Sie, so wie Sie Familienszenen beschreiben, in Ihrer Familie viel Spaß gehabt haben müssen.
Das hatten wir sicher. Meine Brüder und ich sind mit Monty Python groß geworden und mit der Fernsehserie "The Office". Für Engländer ist Comedy eine sehr ernste Angelegenheit! Wenn wir also vorm Fernseher saßen und eine neue Folge gesehen haben, wurde ununterbrochen geredet und analysiert, ob es funktioniert und auch tatsächlich lustig ist. "The Office" ist nicht bloß spaßig, man muß nicht die ganze Zeit lachen. Eher ist es auf eine Weise komisch und traurig, die dir so sehr das Herz bricht, daß du weinen mußt. Das war schön. Zugleich habe ich mich zu Hause aber auch fremd gefühlt. Haben Sie zufällig Scorseses Bob-Dylan-Film gesehen?
Ja.
Vielleicht erinnern Sie sich an den Anfang. Da erzählt Dylan, wie er in einem Haus, das sein Vater gekauft hatte, zum ersten Mal eine Country-Platte hört. Er hat plötzlich das Gefühl, er wäre jemand anderes, und stellt fest, daß er vielleicht nicht die richtigen Eltern hat. Der unvergleichliche Dylan sitzt da also mitten in Mittelamerika und fühlt sich fremd. Und vielleicht braucht man dieses Gefühl, um den Antrieb zu haben, überhaupt so etwas wie Kunst zu produzieren.
Interview Julia Encke
Zadie Smith: "Von der Schönheit". Verlag Kiepenheuer & Witsch. 518 S., 22,90 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.10.2006Das Gelb der Menschen
Zadie Smith dekonstruiert Schönheit / Von Tobias Heyl
Howard Belsey, gescheitert in so ziemlich allen Rollen, in denen ein Mann scheitern kann, starrt auf eine Powerpoint-Präsentation. Sie zeigt ein Stück Haut, gemalt von Rembrandt, Detail eines Gemäldes seiner geliebten Hendrickje. Immer stärker vergrößert der Computer den Bildausschnitt, bis nur noch die einzelnen Pinselstriche zu erkennen sind. „Kalkiges Weiß, lebendiges Rosa, darunter venöses Blau und dieses allgegenwärtige, zutiefst menschliche Gelb, ein Hinweis auf das, was kommen würde.” Kann ein liebeskranker Kunsthistoriker einsamer sein?
So traurig und so zart endet Zadie Smiths dritter Roman „Von der Schönheit”, ein süffiger, wunderbar komischer Gesellschaftsroman. Ort der Handlung ist die kleine und sehr weiße Universitätsstadt Wellington, die man sich irgendwo in der Gegend von Boston vorstellen muss. Seit zehn Jahren ist Howard Belsey dort ohne greifbares Ergebnis damit beschäftigt, das Genie Rembrandts zu dekonstruieren – ein Job, der nicht eben fröhlich macht. Und seine Stimmung sinkt noch tiefer, als sein größter Konkurrent Monty Kipps an seine Universität berufen wird: Ein konservativer Gelehrter, der sich in den besten Traditionen seines Fachs geborgen fühlt und dafür mit einer mustergültigen Karriere belohnt wird.
Nun ist Belsey ein Weißer, (noch) verheiratet mit der dunkelhäutigen Kiki und vielleicht auch deshalb tief durchdrungen von allen Prinzipien liberalen Denkens und politischer Korrektheit. Kipps wiederum ist ein Schwarzer, und er verdächtigt jeden Versuch, gegen rassistische Diskriminierung mit politischen Mitteln vorzugehen, als besonders subtile Form der Diskriminierung. Passen also schon die Kollegen Belsey und Kipps nicht in die übliche politische Ordnung, dann macht ein Blick auf ihre Familien die Sache noch komplizierter. Die Belsey-Kinder sind das Resultat jenes pädagogischen Laissez-Faire, das in den letzten zwanzig Jahren in den Kinderzimmern der westlichen Welt praktiziert wurde. Tochter Zora studiert und steht politisch links. Jerome muss seinen Eltern als glatter Reinfall erscheinen, denn er fühlt sich zu pietistischer Frömmigkeit berufen. Levi schließlich jobbt mal hier, mal da, und daran wird sich wohl auch nichts mehr ändern. Bei den Kipps hat es immerhin Michael in der Finanzwelt zu etwas gebracht. Seine Schwester Victoria studiert noch. Was einmal aus ihr wird, ist noch nicht abzusehen. Sie als rattenscharf zu bezeichnen ist politisch vielleicht nicht korrekt, entspricht aber den Tatsachen.
Man sieht an dieser Aufzählung der Hauptfiguren, dass in Wellington die scheinbar unumstößlichen Regeln, nach denen Erfolg und Scheitern, Weltanschauungen und Religiosität in einer Gesellschaft verteilt sind, außer Kraft gesetzt sind. Die aufgeklärt-liberalen Belseys müssen sich mit einem streng religiösen Sohn herumschlagen, die strengen Eltern Kipps ahnen schlimmstenfalls, wie und wie oft es ihre Tochter mit den Männern treibt. Es gibt keine gemeinsamen Ideen und keine gemeinsamen Werte, die diese Menschen zusammenhalten, alles ist ein großes Chaos.
Victoria sorgt dafür, dass dieses Chaos nicht zur Ruhe kommt. Ihre Lust und ihre unwiderstehliche Wirkung auf Männer lässt die Herren Belsey – zuerst den zögernden Sohn, dann den höchst bereitwilligen Vater – vergessen, dass sie zum verhassten Kipps-Clan gehört. Später lässt sie sich mit einem Rapper ein, um den es an der Fakultät großen Streit gab, weil ihm dann die Stelle eines Hip-Hop-Archivars zugeschanzt wurde. Vater Kipps sieht so etwas natürlich gar nicht gern. Wo Victoria gerade nicht zur Stelle ist, durchbrechen die Damen Kipps und Belsey die Fronten und treffen sich im Geheimen, zu Tee und Apfelkuchen. Warum sollten die kleinlichen Streitereien ihrer Männer sie daran hindern?
Je weiter man in diesem Roman vorankommt, desto mehr staunt man über die Virtuosität, mit der Zadie Smith um den Konflikt der Belseys und Kipps weitere Erzählstränge wickelt, bis am Ende ein ungemein plastisches und detailfreudiges Bild des Planeten Wellington entstanden ist, bis in den Jargon kleiner Nebenfiguren präzise und liebevoll gezeichnet. Das Betriebsklima in einem großen Elektronikmarkt interessiert sie genauso wie die ermüdenden Gremiensitzungen an der Universität, die steifen Dinners ebenso wie eine lange Nacht im Kreise pubertierender Dichter. Das sind eben die Bühnen, auf denen sie sich ihre Figuren durch Familien-, Liebes- und Berufsintrigen kämpfen müssen. Aber am Ende erwartet alle ein ähnliches Schicksal: Ihre tapfer verteidigten Prinzipien und Ideale, ja, auch ihre großen Gefühle erweisen sich als wenig haltbar. Bis zur Durchschnittlichkeit blamiert, verlassen sie den Schauplatz.
In sehr komischen Szenen zeigt dieser Roman, dass, wenn es sie denn jemals gab, die Zeiten vorbei sind, in denen uns unsere politischen, moralischen und sonstigen Präferenzen in die Wiege gelegt wurden. Für die neokonservative Position kann sich auch ein Schwarzer entscheiden, der seine Herkunft bewusst verleugnet und kein Problem damit hat, ein Verhältnis mit einer Studentin einzugehen, die er nachträglich aus seinem Seminar feuert. Dabei hätte es seiner eigenen Tochter genauso ergehen können. Denn Victoria holt sich die Männer, die sie braucht, um sich nach Gebrauch wieder von ihnen zu verabschieden.
In diesem Chaos der nunmehr zweifelhaften Überzeugungen und Gefühle findet Smith das Material für einen Gesellschaftsroman, der, wörtlich verstanden, einer der letzten seiner Gattung sein müsste. Die einst sicher geglaubten Ordnungen existieren nicht mehr, vielleicht weil sie auf dem Irrtum basierten, die Gesellschaft bewege sich, wie langsam und umständlich auch immer, von Generation zu Generation auf bessere Zeiten zu. Stattdessen aber schlägt sie Haken oder bewegt sich im Kreis oder legt auch einmal den Rückwärtsgang ein. Diese Bewegungen zeichnet der Roman nach. Ihr Werk, schreibt Zadie Smith zu Beginn, sei E.M. Forsters Roman „Wiedersehen in Howard’s End” verpflichtet, dessen Grundkonstruktion sie fast hundert Jahre später nach Wellington verlegt habe.
Der Abschied von der Hoffnung auf immer bessere Zeiten macht vielleicht nicht glücklicher, wirkt aber ungemein befreiend. Davon vermitteln Smiths Figuren schon einmal eine Ahnung. Mal mehr, mal weniger freiwillig üben sie sich in der Kunst der Desillusionierung. Sie werfen immer mehr Ballast ab, werden immer leichter. Und wenn man den Titel dieses Romans nicht ganz falsch versteht, werden sie dabei irgendwie auch ein bisschen schöner. Soviel Pathos sollte noch erlaubt sein.
Zadie Smith
Von der Schönheit
Roman. Aus dem Englischen von Marcus Ingendaay. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006. 512 S., 22,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Zadie Smith dekonstruiert Schönheit / Von Tobias Heyl
Howard Belsey, gescheitert in so ziemlich allen Rollen, in denen ein Mann scheitern kann, starrt auf eine Powerpoint-Präsentation. Sie zeigt ein Stück Haut, gemalt von Rembrandt, Detail eines Gemäldes seiner geliebten Hendrickje. Immer stärker vergrößert der Computer den Bildausschnitt, bis nur noch die einzelnen Pinselstriche zu erkennen sind. „Kalkiges Weiß, lebendiges Rosa, darunter venöses Blau und dieses allgegenwärtige, zutiefst menschliche Gelb, ein Hinweis auf das, was kommen würde.” Kann ein liebeskranker Kunsthistoriker einsamer sein?
So traurig und so zart endet Zadie Smiths dritter Roman „Von der Schönheit”, ein süffiger, wunderbar komischer Gesellschaftsroman. Ort der Handlung ist die kleine und sehr weiße Universitätsstadt Wellington, die man sich irgendwo in der Gegend von Boston vorstellen muss. Seit zehn Jahren ist Howard Belsey dort ohne greifbares Ergebnis damit beschäftigt, das Genie Rembrandts zu dekonstruieren – ein Job, der nicht eben fröhlich macht. Und seine Stimmung sinkt noch tiefer, als sein größter Konkurrent Monty Kipps an seine Universität berufen wird: Ein konservativer Gelehrter, der sich in den besten Traditionen seines Fachs geborgen fühlt und dafür mit einer mustergültigen Karriere belohnt wird.
Nun ist Belsey ein Weißer, (noch) verheiratet mit der dunkelhäutigen Kiki und vielleicht auch deshalb tief durchdrungen von allen Prinzipien liberalen Denkens und politischer Korrektheit. Kipps wiederum ist ein Schwarzer, und er verdächtigt jeden Versuch, gegen rassistische Diskriminierung mit politischen Mitteln vorzugehen, als besonders subtile Form der Diskriminierung. Passen also schon die Kollegen Belsey und Kipps nicht in die übliche politische Ordnung, dann macht ein Blick auf ihre Familien die Sache noch komplizierter. Die Belsey-Kinder sind das Resultat jenes pädagogischen Laissez-Faire, das in den letzten zwanzig Jahren in den Kinderzimmern der westlichen Welt praktiziert wurde. Tochter Zora studiert und steht politisch links. Jerome muss seinen Eltern als glatter Reinfall erscheinen, denn er fühlt sich zu pietistischer Frömmigkeit berufen. Levi schließlich jobbt mal hier, mal da, und daran wird sich wohl auch nichts mehr ändern. Bei den Kipps hat es immerhin Michael in der Finanzwelt zu etwas gebracht. Seine Schwester Victoria studiert noch. Was einmal aus ihr wird, ist noch nicht abzusehen. Sie als rattenscharf zu bezeichnen ist politisch vielleicht nicht korrekt, entspricht aber den Tatsachen.
Man sieht an dieser Aufzählung der Hauptfiguren, dass in Wellington die scheinbar unumstößlichen Regeln, nach denen Erfolg und Scheitern, Weltanschauungen und Religiosität in einer Gesellschaft verteilt sind, außer Kraft gesetzt sind. Die aufgeklärt-liberalen Belseys müssen sich mit einem streng religiösen Sohn herumschlagen, die strengen Eltern Kipps ahnen schlimmstenfalls, wie und wie oft es ihre Tochter mit den Männern treibt. Es gibt keine gemeinsamen Ideen und keine gemeinsamen Werte, die diese Menschen zusammenhalten, alles ist ein großes Chaos.
Victoria sorgt dafür, dass dieses Chaos nicht zur Ruhe kommt. Ihre Lust und ihre unwiderstehliche Wirkung auf Männer lässt die Herren Belsey – zuerst den zögernden Sohn, dann den höchst bereitwilligen Vater – vergessen, dass sie zum verhassten Kipps-Clan gehört. Später lässt sie sich mit einem Rapper ein, um den es an der Fakultät großen Streit gab, weil ihm dann die Stelle eines Hip-Hop-Archivars zugeschanzt wurde. Vater Kipps sieht so etwas natürlich gar nicht gern. Wo Victoria gerade nicht zur Stelle ist, durchbrechen die Damen Kipps und Belsey die Fronten und treffen sich im Geheimen, zu Tee und Apfelkuchen. Warum sollten die kleinlichen Streitereien ihrer Männer sie daran hindern?
Je weiter man in diesem Roman vorankommt, desto mehr staunt man über die Virtuosität, mit der Zadie Smith um den Konflikt der Belseys und Kipps weitere Erzählstränge wickelt, bis am Ende ein ungemein plastisches und detailfreudiges Bild des Planeten Wellington entstanden ist, bis in den Jargon kleiner Nebenfiguren präzise und liebevoll gezeichnet. Das Betriebsklima in einem großen Elektronikmarkt interessiert sie genauso wie die ermüdenden Gremiensitzungen an der Universität, die steifen Dinners ebenso wie eine lange Nacht im Kreise pubertierender Dichter. Das sind eben die Bühnen, auf denen sie sich ihre Figuren durch Familien-, Liebes- und Berufsintrigen kämpfen müssen. Aber am Ende erwartet alle ein ähnliches Schicksal: Ihre tapfer verteidigten Prinzipien und Ideale, ja, auch ihre großen Gefühle erweisen sich als wenig haltbar. Bis zur Durchschnittlichkeit blamiert, verlassen sie den Schauplatz.
In sehr komischen Szenen zeigt dieser Roman, dass, wenn es sie denn jemals gab, die Zeiten vorbei sind, in denen uns unsere politischen, moralischen und sonstigen Präferenzen in die Wiege gelegt wurden. Für die neokonservative Position kann sich auch ein Schwarzer entscheiden, der seine Herkunft bewusst verleugnet und kein Problem damit hat, ein Verhältnis mit einer Studentin einzugehen, die er nachträglich aus seinem Seminar feuert. Dabei hätte es seiner eigenen Tochter genauso ergehen können. Denn Victoria holt sich die Männer, die sie braucht, um sich nach Gebrauch wieder von ihnen zu verabschieden.
In diesem Chaos der nunmehr zweifelhaften Überzeugungen und Gefühle findet Smith das Material für einen Gesellschaftsroman, der, wörtlich verstanden, einer der letzten seiner Gattung sein müsste. Die einst sicher geglaubten Ordnungen existieren nicht mehr, vielleicht weil sie auf dem Irrtum basierten, die Gesellschaft bewege sich, wie langsam und umständlich auch immer, von Generation zu Generation auf bessere Zeiten zu. Stattdessen aber schlägt sie Haken oder bewegt sich im Kreis oder legt auch einmal den Rückwärtsgang ein. Diese Bewegungen zeichnet der Roman nach. Ihr Werk, schreibt Zadie Smith zu Beginn, sei E.M. Forsters Roman „Wiedersehen in Howard’s End” verpflichtet, dessen Grundkonstruktion sie fast hundert Jahre später nach Wellington verlegt habe.
Der Abschied von der Hoffnung auf immer bessere Zeiten macht vielleicht nicht glücklicher, wirkt aber ungemein befreiend. Davon vermitteln Smiths Figuren schon einmal eine Ahnung. Mal mehr, mal weniger freiwillig üben sie sich in der Kunst der Desillusionierung. Sie werfen immer mehr Ballast ab, werden immer leichter. Und wenn man den Titel dieses Romans nicht ganz falsch versteht, werden sie dabei irgendwie auch ein bisschen schöner. Soviel Pathos sollte noch erlaubt sein.
Zadie Smith
Von der Schönheit
Roman. Aus dem Englischen von Marcus Ingendaay. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006. 512 S., 22,90 Euro.
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