George Orwell's relationship to Jews has been a recurring topic in various essays and articles. Texts with an antisemitic slant, as well as texts with a determined rejection of antisemitism, from different periods of his career, are quoted. However, this does not allow for a reliable overall picture because often only well-known passages appear while Orwell's contradictory, less well-known statements are overlooked or simply ignored. This comprehensive and extensively annotated compilation of texts by Orwell, an author who is respected and admired for always defending human rights without restraint, regardless of who exercised power, is intended to give an idea of what he actually wrote on Jews and antisemitism and how it was discussed. It covers his fictional and non-fictional writing from his early works on and presents the obvious antisemitic streak at the beginning, the war-time publications denouncing the atrocities against Jews by Germans, his 1945 essay "Anti-Semitism in Britain", his experiences as a war reporter in Germany when he was confronted with Jews who had survived and defeated Germans, and his comments about the increasing conflict between Jews and Arabs in Palestine under the British Mandate. The chronological order of this compilation facilitates following Orwell's evolving attitudes to Jews and antisemitism.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.04.2023Im Herzen antisemitisch?
Aktuell wichtig: Ein deutscher Kleinverlag versammelt sämtliche Passagen, die Aufschluss über George Orwells Einstellung zu Juden bieten.
Warum eigentlich "Emmanuel Goldstein"? So heißt in Orwells Welterfolg "1984" die beliebte Hassfigur des Erzfeinds und Verräters, deren Auftritte als tägliche Routine in einer Filmvorführung gemeinschaftlich durchlebt werden, um alle Zuschauer in Abscheu zu vereinen. Als der Roman uns dieses Ritual zum ersten Mal vorführt, wird sie (aus Sicht von Winston Smith, der Hauptfigur) wie folgt beschrieben: "He could never see the face of Goldstein without a painful mixture of emotions. It was a lean Jewish face, with a great fuzzy aureole of white hair and a small goatee beard - a clever face, and yet somehow inherently despicable, with a kind of senile silliness in the long thin nose, near the end of which a pair of spectacles was perched. It resembled the face of a sheep, and the voice, too, had a sheep- like quality."
Hier sind in zwei, drei Sätzen zahlreiche antisemitische Klischees versammelt. Wie lassen die sich einordnen und in ihrer Funktion verstehen? Orwell schrieb seinen Roman, nach ersten Ideen und Notizen aus Kriegszeiten, in den Jahren 1946 bis 1948, als sich Ausmaß, Infamie und Schrecken des Holocausts weltweit herauszustellen begannen. Warum sollte ein politischer Autor, der für antifaschistischen Kampf, antikoloniales Engagement und unermüdliches Eintreten für Menschenwürde bekannt ist, just in dieser Zeit die Giftspritzen nationalsozialistischer Propaganda erneut zum Einsatz bringen? Und das auch noch für eine Figur, die in der totalitären Welt des Romans offenbar als einzige das Potential hätte, Big Brother und seiner Zwangseinheitspartei wirksam entgegenzutreten?
Diese Frage stellte Tosco Fyvel, ein Schriftstellerkollege und zionistischer Aktivist, bei Erscheinen des Romans dem Autor. Orwell gab zur Antwort, dass seine Goldstein-Figur nun einmal als Trotzki-Karikatur konzipiert sei und daher dessen Züge trage; außerdem sei Orwell sicher, so berichtet Fyvel weiter, dass ein letzter und vergeblicher Versuch, sich gegen den Totalitarismus aufzulehnen, gewiss von irgendeinem jüdischen Intellektuellen unternommen werde. Man fragt sich, ob daraus eher Respekt oder Zynismus spricht.
Zeitlebens unterhielt Orwell ein vorurteilsbeladenes Verhältnis gegenüber Juden, auch wenn er sich spätestens von Kriegsbeginn an bei zahlreichen Gelegenheiten publizistisch gegen Antisemitismus aussprach. Sein Hauptargument war stets die andauernde Judenverfolgung im Deutschen Reich und den besetzten Gebieten, die er als englischer Berichterstatter schon früh und oft anprangerte und die, wie er mehrfach sagte, Judenwitze künftig strikt verbiete. Als historischen Wendepunkt machte er gern 1934 aus. Das hinderte ihn freilich nicht, noch in Nachkriegsreportagen antisemitischen Sprachgebrauch ebenso selbstverständlich wie auffällig zu pflegen. So berichtet er im November 1945 von seinem Besuch in einem süddeutschen Kriegsgefangenenlager, wo ein ehemaliger SS-Offizier und KZ-Kommandant einsaß. Der befehlshabende amerikanische Offizier, aus Wien stammend und in jungen Jahren emigriert, wird in Orwells Bericht nur als "the Jew" oder, noch irritierender, "the little Jew" bezeichnet und für verbale Attacken gegen den Gefangenen kritisiert. Reichweite und Bedeutung der deutschen Massenvernichtungsmaßnahmen sind dem Autor offenkundig nie zu Bewusstsein gekommen. Das Wort Auschwitz findet sich in seinen Schriften nicht.
Dass Orwell, der von Linken wie von Rechten ebenso stark verehrt wie oft verachtet wird (denn er war glühender Sozialist, kämpfte im Spanischen Bürgerkrieg für die Republik, während er sich gleichzeitig von Stalin und dem großen Terror abwandte), ein Problem mit Juden hatte, ist bekannt. In den Standardbiographien findet sich dazu zwar wenig, aber in den Kontroversen über seine Lebensbilanz, angefangen mit den Nachrufen, ist schon verschiedentlich darüber diskutiert worden. Jetzt erhalten alle Interessierten endlich die Gelegenheit, in einer Gesamtschau aller einschlägigen Textstellen aus seinem umfangreichen und publizistisch breit gestreuten Werk die Grundlage solcher Diskussionen selbst zu sichten.
Seit kürzlich die Rechte an Orwell gemeinfrei geworden sind, hat der Comino-Verlag bereits mehrfach glänzend die Gelegenheit genutzt, uns mit weniger vertrauten Seiten dieses Schlüsselautors des zwanzigsten Jahrhunderts zu konfrontieren (anstatt, wie andere Verlage, die x-te Ausgabe des Longsellers "1984" auf den Markt zu bringen): beispielsweise mit der ersten zuverlässigen deutschen Fassung von Orwells Debüt "Down and Out in Paris and London" von 1933, übrigens ein Text, dessen antisemitische Züge am krassesten zutage liegen (und der gleichwohl von seinem jüdischen Verleger Victor Gollancz klar verteidigt wurde), außerdem mit einer Zusammenstellung der Reportagen, in denen Orwell 1945 als Korrespondent aus dem deutschen Trümmerfeld berichtete.
Jetzt hat der Herausgeber Paul Seeliger aus der zwanzigbändigen Gesamtausgabe sämtliche Passagen, die Aufschluss über Orwells Einstellung zu Juden und Überlegungen zum Antisemitismus bieten, akribisch herausgefiltert und chronologisch präsentiert. Darunter finden sich Ausschnitte aus allen Genres, zuweilen kurze Schnipsel, die kaum mehr als Einzelnennungen bieten, aber auch längere und gewichtige Texte wie der Aufsatz "Anti-Semitism in Britain", der im Februar 1945 entstand und im "Contemporary Jewish Record" publiziert wurde, dazu zahlreiche Rezensionen (besonders interessant: Orwells Verriss von Jean-Paul Sartres "Portrait of the Antisemite", 1948, der erschütternde Unbedarft- und Unbedachtheit aufseiten Orwells zeigt), Kolumnen, Briefstellen, Tagebuchnotizen. Von besonderem Gewinn sind stets die Annotationen und Kommentare des Herausgebers, der oft zur Kontextualisierung auf Materialien anderer Autoren zurückgreift, um Orwells Äußerungen einzuordnen.
So entsteht eine dichte und facettenreiche Textcollage, das politische Ideogramm eines Intellektuellen, der bei aller Aufgeklärtheit seine eingefleischten Aversionen offenkundig niemals überwand. Dabei zählten Fyvel ebenso wie Arthur Koestler und andere prominente Juden zu Orwells politischem wie persönlichem Freundeskreis. Von seiner Beisetzung 1950 berichtet Malcolm Muggeridge, dass die Trauergemeinde überwiegend jüdisch und fast vollständig ungläubig gewesen sei: "Interesting, I thought, that George should have so attracted Jews because he was at heart strongly anti-Semitic."
Doch der aktuelle Band ist nicht bloß biographisch von Belang. Er zeigt vielmehr gefährliche Verschränkungen, Verquerungen und Widersprüche, die sich auch in unserer Zeit - man denke nur an die Debatten über Mbembe oder Ruangrupa - zwischen antikolonialen, antizionistischen und antisemitischen Diskursen auftun können. Man liest ihn daher echt gebannt, wie Winston Smith dem Hassfilm folgt, "a painful mixture of emotions". TOBIAS DÖRING
George Orwell: "On Jews and Antisemitism".
Comino-Verlag, Berlin 2022. 304 S., br., 16,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Aktuell wichtig: Ein deutscher Kleinverlag versammelt sämtliche Passagen, die Aufschluss über George Orwells Einstellung zu Juden bieten.
Warum eigentlich "Emmanuel Goldstein"? So heißt in Orwells Welterfolg "1984" die beliebte Hassfigur des Erzfeinds und Verräters, deren Auftritte als tägliche Routine in einer Filmvorführung gemeinschaftlich durchlebt werden, um alle Zuschauer in Abscheu zu vereinen. Als der Roman uns dieses Ritual zum ersten Mal vorführt, wird sie (aus Sicht von Winston Smith, der Hauptfigur) wie folgt beschrieben: "He could never see the face of Goldstein without a painful mixture of emotions. It was a lean Jewish face, with a great fuzzy aureole of white hair and a small goatee beard - a clever face, and yet somehow inherently despicable, with a kind of senile silliness in the long thin nose, near the end of which a pair of spectacles was perched. It resembled the face of a sheep, and the voice, too, had a sheep- like quality."
Hier sind in zwei, drei Sätzen zahlreiche antisemitische Klischees versammelt. Wie lassen die sich einordnen und in ihrer Funktion verstehen? Orwell schrieb seinen Roman, nach ersten Ideen und Notizen aus Kriegszeiten, in den Jahren 1946 bis 1948, als sich Ausmaß, Infamie und Schrecken des Holocausts weltweit herauszustellen begannen. Warum sollte ein politischer Autor, der für antifaschistischen Kampf, antikoloniales Engagement und unermüdliches Eintreten für Menschenwürde bekannt ist, just in dieser Zeit die Giftspritzen nationalsozialistischer Propaganda erneut zum Einsatz bringen? Und das auch noch für eine Figur, die in der totalitären Welt des Romans offenbar als einzige das Potential hätte, Big Brother und seiner Zwangseinheitspartei wirksam entgegenzutreten?
Diese Frage stellte Tosco Fyvel, ein Schriftstellerkollege und zionistischer Aktivist, bei Erscheinen des Romans dem Autor. Orwell gab zur Antwort, dass seine Goldstein-Figur nun einmal als Trotzki-Karikatur konzipiert sei und daher dessen Züge trage; außerdem sei Orwell sicher, so berichtet Fyvel weiter, dass ein letzter und vergeblicher Versuch, sich gegen den Totalitarismus aufzulehnen, gewiss von irgendeinem jüdischen Intellektuellen unternommen werde. Man fragt sich, ob daraus eher Respekt oder Zynismus spricht.
Zeitlebens unterhielt Orwell ein vorurteilsbeladenes Verhältnis gegenüber Juden, auch wenn er sich spätestens von Kriegsbeginn an bei zahlreichen Gelegenheiten publizistisch gegen Antisemitismus aussprach. Sein Hauptargument war stets die andauernde Judenverfolgung im Deutschen Reich und den besetzten Gebieten, die er als englischer Berichterstatter schon früh und oft anprangerte und die, wie er mehrfach sagte, Judenwitze künftig strikt verbiete. Als historischen Wendepunkt machte er gern 1934 aus. Das hinderte ihn freilich nicht, noch in Nachkriegsreportagen antisemitischen Sprachgebrauch ebenso selbstverständlich wie auffällig zu pflegen. So berichtet er im November 1945 von seinem Besuch in einem süddeutschen Kriegsgefangenenlager, wo ein ehemaliger SS-Offizier und KZ-Kommandant einsaß. Der befehlshabende amerikanische Offizier, aus Wien stammend und in jungen Jahren emigriert, wird in Orwells Bericht nur als "the Jew" oder, noch irritierender, "the little Jew" bezeichnet und für verbale Attacken gegen den Gefangenen kritisiert. Reichweite und Bedeutung der deutschen Massenvernichtungsmaßnahmen sind dem Autor offenkundig nie zu Bewusstsein gekommen. Das Wort Auschwitz findet sich in seinen Schriften nicht.
Dass Orwell, der von Linken wie von Rechten ebenso stark verehrt wie oft verachtet wird (denn er war glühender Sozialist, kämpfte im Spanischen Bürgerkrieg für die Republik, während er sich gleichzeitig von Stalin und dem großen Terror abwandte), ein Problem mit Juden hatte, ist bekannt. In den Standardbiographien findet sich dazu zwar wenig, aber in den Kontroversen über seine Lebensbilanz, angefangen mit den Nachrufen, ist schon verschiedentlich darüber diskutiert worden. Jetzt erhalten alle Interessierten endlich die Gelegenheit, in einer Gesamtschau aller einschlägigen Textstellen aus seinem umfangreichen und publizistisch breit gestreuten Werk die Grundlage solcher Diskussionen selbst zu sichten.
Seit kürzlich die Rechte an Orwell gemeinfrei geworden sind, hat der Comino-Verlag bereits mehrfach glänzend die Gelegenheit genutzt, uns mit weniger vertrauten Seiten dieses Schlüsselautors des zwanzigsten Jahrhunderts zu konfrontieren (anstatt, wie andere Verlage, die x-te Ausgabe des Longsellers "1984" auf den Markt zu bringen): beispielsweise mit der ersten zuverlässigen deutschen Fassung von Orwells Debüt "Down and Out in Paris and London" von 1933, übrigens ein Text, dessen antisemitische Züge am krassesten zutage liegen (und der gleichwohl von seinem jüdischen Verleger Victor Gollancz klar verteidigt wurde), außerdem mit einer Zusammenstellung der Reportagen, in denen Orwell 1945 als Korrespondent aus dem deutschen Trümmerfeld berichtete.
Jetzt hat der Herausgeber Paul Seeliger aus der zwanzigbändigen Gesamtausgabe sämtliche Passagen, die Aufschluss über Orwells Einstellung zu Juden und Überlegungen zum Antisemitismus bieten, akribisch herausgefiltert und chronologisch präsentiert. Darunter finden sich Ausschnitte aus allen Genres, zuweilen kurze Schnipsel, die kaum mehr als Einzelnennungen bieten, aber auch längere und gewichtige Texte wie der Aufsatz "Anti-Semitism in Britain", der im Februar 1945 entstand und im "Contemporary Jewish Record" publiziert wurde, dazu zahlreiche Rezensionen (besonders interessant: Orwells Verriss von Jean-Paul Sartres "Portrait of the Antisemite", 1948, der erschütternde Unbedarft- und Unbedachtheit aufseiten Orwells zeigt), Kolumnen, Briefstellen, Tagebuchnotizen. Von besonderem Gewinn sind stets die Annotationen und Kommentare des Herausgebers, der oft zur Kontextualisierung auf Materialien anderer Autoren zurückgreift, um Orwells Äußerungen einzuordnen.
So entsteht eine dichte und facettenreiche Textcollage, das politische Ideogramm eines Intellektuellen, der bei aller Aufgeklärtheit seine eingefleischten Aversionen offenkundig niemals überwand. Dabei zählten Fyvel ebenso wie Arthur Koestler und andere prominente Juden zu Orwells politischem wie persönlichem Freundeskreis. Von seiner Beisetzung 1950 berichtet Malcolm Muggeridge, dass die Trauergemeinde überwiegend jüdisch und fast vollständig ungläubig gewesen sei: "Interesting, I thought, that George should have so attracted Jews because he was at heart strongly anti-Semitic."
Doch der aktuelle Band ist nicht bloß biographisch von Belang. Er zeigt vielmehr gefährliche Verschränkungen, Verquerungen und Widersprüche, die sich auch in unserer Zeit - man denke nur an die Debatten über Mbembe oder Ruangrupa - zwischen antikolonialen, antizionistischen und antisemitischen Diskursen auftun können. Man liest ihn daher echt gebannt, wie Winston Smith dem Hassfilm folgt, "a painful mixture of emotions". TOBIAS DÖRING
George Orwell: "On Jews and Antisemitism".
Comino-Verlag, Berlin 2022. 304 S., br., 16,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Dass George Orwell in seinen Klassikern wie "1984" oder "Down and Out in Paris and London" ein ums andere Mal antisemitische Stereotype verbreitet hat, ist dem Rezensenten Tobias Döring nicht neu. Das, so Döring, gibt besonders im Hinblick auf Orwells sonstige, eher linke und oft kontrovers beurteilte politische Ausrichtung Anlass, sich beispielsweise über die Figur Emmanuel Goldstein Gedanken zu machen und antijüdische Kommentare und Schriften einzuordnen. Umso besser, findet er, dass sich der Comino-Verlag mit dem Herausgeber Paul Seeliger der Aufgabe angenommen hat, alle entsprechenden Passagen zu sammeln und so gewinnbringend und aufschlussreich zu kontextualisieren. Der Kritiker ist von der Lektüre völlig eingenommen, auch, weil er einige Gedankenanstöße zu aktuellen Debatten mitnehmen kann.
© Perlentaucher Medien GmbH
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