"On the Road": Die Urfassung des legendären Romans erstmals auf Deutsch.
Die Urfassung des legendären Beat-Romans, der junge Leute weltweit elektrisierte und zum Nachleben animierte - hier zum ersten Mal auf Deutsch.
«Die einzigen Menschen, die mich interessieren, sind die Verrückten, die verrückt leben, verrückt reden und alles auf einmal wollen, die nie gähnen oder Phrasen dreschen, sondern wie römische Lichter die ganze Nacht lang brennen, brennen, brennen.»
JACK KEROUAC
Die Urfassung des legendären Beat-Romans, der junge Leute weltweit elektrisierte und zum Nachleben animierte - hier zum ersten Mal auf Deutsch.
«Die einzigen Menschen, die mich interessieren, sind die Verrückten, die verrückt leben, verrückt reden und alles auf einmal wollen, die nie gähnen oder Phrasen dreschen, sondern wie römische Lichter die ganze Nacht lang brennen, brennen, brennen.»
JACK KEROUAC
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.11.2010Mit Kerouac total von der Rolle
Das Manuskript war 120 000 Wörter lang - und die Übersetzung der Urfassung lange unterwegs. Jetzt erscheint "On the Road" ungefiltert auf Deutsch.
Von Tobias Döring
Die Begegnung stammt aus jener Zeit, da Literatur noch mit der Schreibmaschine aufs Papier gebracht wurde, und sie gehört zu den mythischen Urszenen, durch deren Weitergabe sich die Nachwelt ein weltschaffendes Ereignis vorzustellen versucht. Im Frühjahr 1951 erschien Jack Kerouac im New Yorker Büro seines Lektors Robert Giroux. Unter dem Arm trug er eine große weiße Rolle, die Giroux zunächst für Küchenpapier hielt. Mit Schwung entrollte Kerouac sie quer durch den gesamten Raum und erklärte, dies sei die Straße, dies sei sein neues Manuskript. "Jack, dir ist doch klar, dass du das auseinanderschneiden musst. Das muss lektoriert werden", gab Giroux, leicht konsterniert, zu bedenken. "An diesem Manuskript wird keine Zeile geändert", soll Kerouac entgegnet haben. "Das hat mir der Heilige Geist diktiert" - sprach's und verschwand wieder mit seiner Rolle. Der Verlag hörte nichts weiter von ihm.
Drei Wochen lang, vom 2. bis zum 22. April 1951, hatte Kerouac tatsächlich ein radikales Schreibexperiment gewagt. Seit zweieinhalb Jahren arbeitete er damals schon an einem Großprojekt, das seine persönlichen Reise-Erfahrungen, als er in den späten 40er Jahren kreuz und quer durch die Vereinigten Staaten getrampt war, mit der gewaltigen Vision vom wahren Leben in Amerika verbinden sollte. Auf Vorschlag seines Freundes Holmes versuchte Kerouac schließlich, den gesamten Fundus an Ideen, Episoden und Erinnerungen, den er als sein "Road Material" zu bezeichnen pflegte, so zu fixieren, dass er alles mit vorsätzlicher Spontaneität und ohne Pause in die Schreibmaschine hackte. Ob mit Hilfe nur von Koffein oder auch von Benzedrin - nach drei schlaflosen Wochen jedenfalls war die Rolle Endlospapier, die er sich zu diesem Zweck gemacht hatte, mit mehr als 120 000 Wörtern vollgetippt. Ein Fließtext ohne einen einzigen Absatz.
Zur Veröffentlichung war er nie bestimmt. Kerouac, damals dreißig Jahre alt und klar bestrebt, sein Schreiben als Beruf zu etablieren, war routiniert genug zu wissen, dass ein Lektorat nun mal zum Verlagsgeschäft gehört. Die kondensierte Fassung "On the Road", die 1957 bei Viking herauskam, war zwar erheblich gestrafft und wegen juristischer Bedenken an etlichen Punkten entschärft, im Ganzen aber nicht etwa gegen den Willen des Autors entstellt worden. Sie wurde, wie man weiß, zum Kultbuch: Offenbarungstext der Beat-Generation, Erweckungsepos der Hippie-Bewegung, die Lebensfibel sämtlicher weiterer Nonkonformisten, die ihren Ausstieg aus der bürgerlich-sesshaften Fortschrittsgesellschaft mit Kerouacs vorgelebtem Straßenfernweh buchstabieren lernten.
Fünfzig Jahre später ist bei Penguin erstmals eine von Howard Cunnell herausgegebene Buchfassung von dem erschienen, was Kerouac damals unter dem Arm trug. "The Original Scroll" - der englische Ausdruck klingt passenderweise archaischer, nachgerade biblisch - musste dazu nicht nur von sämtlichen Korrekturen befreit, sondern zum Ende auch rekonstruiert werden, weil der letzte Meter der Papierrolle offenbar vom Hund eines Freundes zerkaut wurde. Dass diese Version jetzt allerdings vom deutschen Verlag als "Urfassung" verkauft wird, ist eine dreiste Stillstellung und strickt an der Legendenbildung weiter, als ob auf diese Art die Aura des ursprünglichen, unverfälschten Diktats eines Gottesworts nachträglich bestärkt werden solle. Dagegen existieren, wie den Aufsätzen im Anhang zu entnehmen ist, bereits zwei frühere sowie noch etliche weitere Textfassungen, mit denen Kerouac seiner großen Straßenrhapsodie jeweils so unterschiedliche Gestalt zu geben suchte, dass "The Scroll" besser als ein Stadium in einem langen, prinzipiell offenen Schreibprozess zu begreifen wäre, als Durchgangsstation eines unabschließbaren Romans, der immer unterwegs ist.
In eigentümlicher, für den Authentisierungsdruck der Nachkriegsmoderne charakteristischen Weise verquickt der Text Erlebtes und Erfundenes im fortwährenden Reisen, Schreiben und Imaginieren zu einer passagenweise rauschhaften Erzählbewegung. "Ich fuhr durch South Carolina und die ganze Strecke bis nach Macon, Georgia, während Neal, Louanne und Al schliefen. Ganz allein in der Nacht hing ich meinen Gedanken nach und steuerte den Wagen an der weißen Linie der heiligen Straße entlang. Was hatte ich vor? Wohin war ich unterwegs? Ich würde es bald herausfinden." Diese Art der Selbstbefragung, die wie ein Refrain wiederkehrt, gilt dem Fahrer genau wie dem Autor, denn beide können oder wollen immer erst, wenn sie am Steuer oder an der Schreibmaschine sitzen, im Vollzug herausfinden, wohin ihr rastloser Beschleunigungsdrang führt.
Tatsächlich kommen solche Eigentümlichkeiten in der Rollen-Version noch stärker zur Geltung, vor allem weil sie ohne jegliche Kapitel- oder Absatz-Markierung in einem ununterbrochenen Wortschwall durchrauscht. (Allerdings hat es das deutsche Lektorat dann doch nicht gewagt, dem Original restlos zu folgen und auch auf die Einteilung in fünf Bücher zu verzichten.)
Was diese Version sonst am merklichsten von der bekannten unterscheidet, ist die Verwendung der Klarnamen für die Protagonisten: mit Neal Cassady, Allen Ginsberg, Hal Chase oder Ed White treten sämtliche der Beatniks ohne Maske auf. Dies verschärft deutlich das Vexierspiel, das Kerouac mit den Selbstfindungsritualen dieser Gruppe inszeniert, dazu gehört vor allem die fortdauernde Selbsterfindung des zentralen Helden Neal, der im Buch von 1957 Dean Moriarty heißt.
Insgesamt jedoch kann "On the Road" in dieser Rollen-Version kaum größere Wucht oder Wirksamkeit entfalten als zuvor. Man hat die zusätzlichen Ausschweifungen oder Reise-Episoden, wie man feststellt, nicht wirklich vermisst, sie bieten kaum neue Einsichten. Das Spannende sind vielmehr beiläufige Details, die der Geschichte an entscheidenden Stellen stärkeren Biss geben. Wenn beispielsweise Teil fünf mit der Bemerkung einsetzt, dass der Korea-Krieg ausbricht, kommt unvermittelt der zeitpolitische Horizont ins Blickfeld. Wenn der Erzähler, der hier Jack anstatt Sal Paradise heißt, sich in der Wohnung seines Freundes Allen beweisen muss, dass er zum Sex mit der Freundin seines anderen Freundes Neal sehr wohl in der Lage ist, treibt er dies jetzt in einem Bett, das, wie er ausdrücklich vermerkt, das Sterbebett des eigenen Vaters ist. In der anderen Fassung war nur von "einem dicken Mann" die Rede. Oder wenn er zwischen den transkontinentalen Reisen sein Zuhause sucht, kehrt er jetzt wieder zur Mutter, nicht zur Tante, heim. Gerade diese familiären Bindungen schaffen eine Grundierung im Intimen, von der sich das rastlose Unterwegssein umso schärfer absetzt.
Umso stärker tritt beim Wiederlesen auch Widersprüchliches hervor. Sein Freiheitsdrang zur Straße, die Lust auf schnelle Autos, scharfe Mädchen wie die Suche nach dem unbegrenzbaren Amerika führt Jack immer wieder in die Klemme, aus der ihn regelmäßig Geld der Mutter, telegraphisch angefordert, erst befreit. Überhaupt fällt jetzt seine Ambivalenz zwischen den pubertären Phantasien, in jeder Frau ein williges Objekt zu finden, und der bürgerlichen Idee, das Idealweib in ein Eigenheim zu führen, erst richtig auf. Es ist zugleich die Ambivalenz des amerikanischen Traums, die darin liegt, das großartige Land, als Paradies von Gott empfangen, dennoch in Eigenarbeit zu verbessern.
Das eigentliche Ereignis der deutschen Neuausgabe ist aber die Sprache. Der kongeniale Übersetzer Ulrich Blumenbach legt alle Nuancen in diesen einen atemlosen Monolog eines unendlich Mitteilsamen, der - und das ist die Kunst - hier wirklich nach gesprochener Sprache klingt, nach echtem Männerkneipen-Talk. Tatsächlich ist Kerouacs Maschinentext ganz deutlich von der Mündlichkeit seiner Muttersprache durchgeformt, dem Französischen, das in der frankokanadischen Enklave von Massachusetts, wo er aufwuchs, wie in der Familie gesprochen wurde. Das Englische dagegen war für ihn von Anfang an vor allem Schriftsprache großer Literatur, insbesondere der amerikanischen, deren Helden- und Fluchtgeschichten von "Moby Dick" über "Huckleberry Finn" bis zu "Der große Gatsby" er als halber Außenseiter mit seinem Selbstbildungsroman fortschrieb. Daraus erklärt sich auch sein Wahlname "Salvatore Paradise" in der bekannteren Buchfassung, ein heilsgewisser Jedermann, der wie sämtliche Amerikaner ins Paradies als Immigrant gelangt ist.
Wenn wir dagegen in der aktuellen Rollenfassung statt seiner einem "Jack" begegnen, erscheint diese Mythenwelt ein Stück entzaubert. So gespannt man auf "The Scroll" auch war, man liest den Text daher bald mit Ernüchterung. Die wahren Paradiese, das zeigt "On the Road" erneut, sind letztlich doch die lektorierten.
Jack Kerouac: "On the Road". Die Urfassung. Deutsch von Ulrich Blumenbach. Rowohlt Verlag, Reinbek 2010. 575 S., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Manuskript war 120 000 Wörter lang - und die Übersetzung der Urfassung lange unterwegs. Jetzt erscheint "On the Road" ungefiltert auf Deutsch.
Von Tobias Döring
Die Begegnung stammt aus jener Zeit, da Literatur noch mit der Schreibmaschine aufs Papier gebracht wurde, und sie gehört zu den mythischen Urszenen, durch deren Weitergabe sich die Nachwelt ein weltschaffendes Ereignis vorzustellen versucht. Im Frühjahr 1951 erschien Jack Kerouac im New Yorker Büro seines Lektors Robert Giroux. Unter dem Arm trug er eine große weiße Rolle, die Giroux zunächst für Küchenpapier hielt. Mit Schwung entrollte Kerouac sie quer durch den gesamten Raum und erklärte, dies sei die Straße, dies sei sein neues Manuskript. "Jack, dir ist doch klar, dass du das auseinanderschneiden musst. Das muss lektoriert werden", gab Giroux, leicht konsterniert, zu bedenken. "An diesem Manuskript wird keine Zeile geändert", soll Kerouac entgegnet haben. "Das hat mir der Heilige Geist diktiert" - sprach's und verschwand wieder mit seiner Rolle. Der Verlag hörte nichts weiter von ihm.
Drei Wochen lang, vom 2. bis zum 22. April 1951, hatte Kerouac tatsächlich ein radikales Schreibexperiment gewagt. Seit zweieinhalb Jahren arbeitete er damals schon an einem Großprojekt, das seine persönlichen Reise-Erfahrungen, als er in den späten 40er Jahren kreuz und quer durch die Vereinigten Staaten getrampt war, mit der gewaltigen Vision vom wahren Leben in Amerika verbinden sollte. Auf Vorschlag seines Freundes Holmes versuchte Kerouac schließlich, den gesamten Fundus an Ideen, Episoden und Erinnerungen, den er als sein "Road Material" zu bezeichnen pflegte, so zu fixieren, dass er alles mit vorsätzlicher Spontaneität und ohne Pause in die Schreibmaschine hackte. Ob mit Hilfe nur von Koffein oder auch von Benzedrin - nach drei schlaflosen Wochen jedenfalls war die Rolle Endlospapier, die er sich zu diesem Zweck gemacht hatte, mit mehr als 120 000 Wörtern vollgetippt. Ein Fließtext ohne einen einzigen Absatz.
Zur Veröffentlichung war er nie bestimmt. Kerouac, damals dreißig Jahre alt und klar bestrebt, sein Schreiben als Beruf zu etablieren, war routiniert genug zu wissen, dass ein Lektorat nun mal zum Verlagsgeschäft gehört. Die kondensierte Fassung "On the Road", die 1957 bei Viking herauskam, war zwar erheblich gestrafft und wegen juristischer Bedenken an etlichen Punkten entschärft, im Ganzen aber nicht etwa gegen den Willen des Autors entstellt worden. Sie wurde, wie man weiß, zum Kultbuch: Offenbarungstext der Beat-Generation, Erweckungsepos der Hippie-Bewegung, die Lebensfibel sämtlicher weiterer Nonkonformisten, die ihren Ausstieg aus der bürgerlich-sesshaften Fortschrittsgesellschaft mit Kerouacs vorgelebtem Straßenfernweh buchstabieren lernten.
Fünfzig Jahre später ist bei Penguin erstmals eine von Howard Cunnell herausgegebene Buchfassung von dem erschienen, was Kerouac damals unter dem Arm trug. "The Original Scroll" - der englische Ausdruck klingt passenderweise archaischer, nachgerade biblisch - musste dazu nicht nur von sämtlichen Korrekturen befreit, sondern zum Ende auch rekonstruiert werden, weil der letzte Meter der Papierrolle offenbar vom Hund eines Freundes zerkaut wurde. Dass diese Version jetzt allerdings vom deutschen Verlag als "Urfassung" verkauft wird, ist eine dreiste Stillstellung und strickt an der Legendenbildung weiter, als ob auf diese Art die Aura des ursprünglichen, unverfälschten Diktats eines Gottesworts nachträglich bestärkt werden solle. Dagegen existieren, wie den Aufsätzen im Anhang zu entnehmen ist, bereits zwei frühere sowie noch etliche weitere Textfassungen, mit denen Kerouac seiner großen Straßenrhapsodie jeweils so unterschiedliche Gestalt zu geben suchte, dass "The Scroll" besser als ein Stadium in einem langen, prinzipiell offenen Schreibprozess zu begreifen wäre, als Durchgangsstation eines unabschließbaren Romans, der immer unterwegs ist.
In eigentümlicher, für den Authentisierungsdruck der Nachkriegsmoderne charakteristischen Weise verquickt der Text Erlebtes und Erfundenes im fortwährenden Reisen, Schreiben und Imaginieren zu einer passagenweise rauschhaften Erzählbewegung. "Ich fuhr durch South Carolina und die ganze Strecke bis nach Macon, Georgia, während Neal, Louanne und Al schliefen. Ganz allein in der Nacht hing ich meinen Gedanken nach und steuerte den Wagen an der weißen Linie der heiligen Straße entlang. Was hatte ich vor? Wohin war ich unterwegs? Ich würde es bald herausfinden." Diese Art der Selbstbefragung, die wie ein Refrain wiederkehrt, gilt dem Fahrer genau wie dem Autor, denn beide können oder wollen immer erst, wenn sie am Steuer oder an der Schreibmaschine sitzen, im Vollzug herausfinden, wohin ihr rastloser Beschleunigungsdrang führt.
Tatsächlich kommen solche Eigentümlichkeiten in der Rollen-Version noch stärker zur Geltung, vor allem weil sie ohne jegliche Kapitel- oder Absatz-Markierung in einem ununterbrochenen Wortschwall durchrauscht. (Allerdings hat es das deutsche Lektorat dann doch nicht gewagt, dem Original restlos zu folgen und auch auf die Einteilung in fünf Bücher zu verzichten.)
Was diese Version sonst am merklichsten von der bekannten unterscheidet, ist die Verwendung der Klarnamen für die Protagonisten: mit Neal Cassady, Allen Ginsberg, Hal Chase oder Ed White treten sämtliche der Beatniks ohne Maske auf. Dies verschärft deutlich das Vexierspiel, das Kerouac mit den Selbstfindungsritualen dieser Gruppe inszeniert, dazu gehört vor allem die fortdauernde Selbsterfindung des zentralen Helden Neal, der im Buch von 1957 Dean Moriarty heißt.
Insgesamt jedoch kann "On the Road" in dieser Rollen-Version kaum größere Wucht oder Wirksamkeit entfalten als zuvor. Man hat die zusätzlichen Ausschweifungen oder Reise-Episoden, wie man feststellt, nicht wirklich vermisst, sie bieten kaum neue Einsichten. Das Spannende sind vielmehr beiläufige Details, die der Geschichte an entscheidenden Stellen stärkeren Biss geben. Wenn beispielsweise Teil fünf mit der Bemerkung einsetzt, dass der Korea-Krieg ausbricht, kommt unvermittelt der zeitpolitische Horizont ins Blickfeld. Wenn der Erzähler, der hier Jack anstatt Sal Paradise heißt, sich in der Wohnung seines Freundes Allen beweisen muss, dass er zum Sex mit der Freundin seines anderen Freundes Neal sehr wohl in der Lage ist, treibt er dies jetzt in einem Bett, das, wie er ausdrücklich vermerkt, das Sterbebett des eigenen Vaters ist. In der anderen Fassung war nur von "einem dicken Mann" die Rede. Oder wenn er zwischen den transkontinentalen Reisen sein Zuhause sucht, kehrt er jetzt wieder zur Mutter, nicht zur Tante, heim. Gerade diese familiären Bindungen schaffen eine Grundierung im Intimen, von der sich das rastlose Unterwegssein umso schärfer absetzt.
Umso stärker tritt beim Wiederlesen auch Widersprüchliches hervor. Sein Freiheitsdrang zur Straße, die Lust auf schnelle Autos, scharfe Mädchen wie die Suche nach dem unbegrenzbaren Amerika führt Jack immer wieder in die Klemme, aus der ihn regelmäßig Geld der Mutter, telegraphisch angefordert, erst befreit. Überhaupt fällt jetzt seine Ambivalenz zwischen den pubertären Phantasien, in jeder Frau ein williges Objekt zu finden, und der bürgerlichen Idee, das Idealweib in ein Eigenheim zu führen, erst richtig auf. Es ist zugleich die Ambivalenz des amerikanischen Traums, die darin liegt, das großartige Land, als Paradies von Gott empfangen, dennoch in Eigenarbeit zu verbessern.
Das eigentliche Ereignis der deutschen Neuausgabe ist aber die Sprache. Der kongeniale Übersetzer Ulrich Blumenbach legt alle Nuancen in diesen einen atemlosen Monolog eines unendlich Mitteilsamen, der - und das ist die Kunst - hier wirklich nach gesprochener Sprache klingt, nach echtem Männerkneipen-Talk. Tatsächlich ist Kerouacs Maschinentext ganz deutlich von der Mündlichkeit seiner Muttersprache durchgeformt, dem Französischen, das in der frankokanadischen Enklave von Massachusetts, wo er aufwuchs, wie in der Familie gesprochen wurde. Das Englische dagegen war für ihn von Anfang an vor allem Schriftsprache großer Literatur, insbesondere der amerikanischen, deren Helden- und Fluchtgeschichten von "Moby Dick" über "Huckleberry Finn" bis zu "Der große Gatsby" er als halber Außenseiter mit seinem Selbstbildungsroman fortschrieb. Daraus erklärt sich auch sein Wahlname "Salvatore Paradise" in der bekannteren Buchfassung, ein heilsgewisser Jedermann, der wie sämtliche Amerikaner ins Paradies als Immigrant gelangt ist.
Wenn wir dagegen in der aktuellen Rollenfassung statt seiner einem "Jack" begegnen, erscheint diese Mythenwelt ein Stück entzaubert. So gespannt man auf "The Scroll" auch war, man liest den Text daher bald mit Ernüchterung. Die wahren Paradiese, das zeigt "On the Road" erneut, sind letztlich doch die lektorierten.
Jack Kerouac: "On the Road". Die Urfassung. Deutsch von Ulrich Blumenbach. Rowohlt Verlag, Reinbek 2010. 575 S., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.07.2012Auf den Stromschnellen
des Schreibens
Wer „On The Road“ von Jack Kerouac mit zum Strand nimmt, hat hinterher das Gefühl, im Laufen gelesen zu haben. So ruhelos wie der Inhalt ist – die irrwitzigen Reisen des Autors durch Amerika –, so atemlos entstand das Buch. In drei Wochen tippte Kerouac 1951 das Manuskript auf eine Rolle aneinandergeklebter Seiten in Tag- und Nachtarbeit herunter. Er wollte den Strom des ekstatischen Schreibens nicht unterbrechen. Diese nach Sinn und Glück jagenden Reisen fanden in einer stakkatohaften Sprache ihren Niederschlag, die aber, aufgemerkt: in ihren wildesten Ausschlägen vom Verleger für die Veröffentlichung 1957 gestutzt und abgefedert wurde. Deshalb fehlte Kerouacs Buch die letzte Härte und brutale Konsequenz. In der Urfassung werden nun Alkohol und Drogen explizit beim Namen genannt, genau wie seine nicht länger anonymisierten Freunde William S. Burroughs und Allen Ginsberg, allen voran sein Reisebegleiter, der sich im manischen Lebens- und Rederausch verlierende Neal Cassady. Ein Buch wie ein Blitzschlag in den Liegestuhl. HARALD HORDYCH
Jack Kerouac:
On the Road. Die Urfassung. Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach. Rowohlt Verlag, Reinbek bei
Hamburg 2010. 576 Seiten, 24,95 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
des Schreibens
Wer „On The Road“ von Jack Kerouac mit zum Strand nimmt, hat hinterher das Gefühl, im Laufen gelesen zu haben. So ruhelos wie der Inhalt ist – die irrwitzigen Reisen des Autors durch Amerika –, so atemlos entstand das Buch. In drei Wochen tippte Kerouac 1951 das Manuskript auf eine Rolle aneinandergeklebter Seiten in Tag- und Nachtarbeit herunter. Er wollte den Strom des ekstatischen Schreibens nicht unterbrechen. Diese nach Sinn und Glück jagenden Reisen fanden in einer stakkatohaften Sprache ihren Niederschlag, die aber, aufgemerkt: in ihren wildesten Ausschlägen vom Verleger für die Veröffentlichung 1957 gestutzt und abgefedert wurde. Deshalb fehlte Kerouacs Buch die letzte Härte und brutale Konsequenz. In der Urfassung werden nun Alkohol und Drogen explizit beim Namen genannt, genau wie seine nicht länger anonymisierten Freunde William S. Burroughs und Allen Ginsberg, allen voran sein Reisebegleiter, der sich im manischen Lebens- und Rederausch verlierende Neal Cassady. Ein Buch wie ein Blitzschlag in den Liegestuhl. HARALD HORDYCH
Jack Kerouac:
On the Road. Die Urfassung. Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach. Rowohlt Verlag, Reinbek bei
Hamburg 2010. 576 Seiten, 24,95 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Freudig begrüßt Rezensent Frank Schäfer die Urfassung von Jack Kerouacs Roman "On the Road". Dieser Subkulturklassiker konnte nach seinen Angaben in den fünfziger Jahren nur in einer von Kerouacs Lektorin überarbeiteten und geglätteten Version erscheinen. Dass die nun vorliegende Urfassung aus dem Nachlass des Autors wesentlich ungeschliffener, rauer und auch redundanter ist, wundert Schäfer keineswegs. Sie scheint ihm zudem provokativer, tauchen hier doch einige offen homosexuelle Passagen auf, die das Buch damals sicher auf den Index gebracht hätten. Die Urfassung bezeugt in seinen Augen Kerouacs "Geistesgegenwart" und souveränes Können im Blick auf die Methode des spontanen Schreibens. Mit Lob bedenkt Schäfer nicht zuletzt die Übersetzung von Ulrich Blumenbach, der den "hektischen Drive", die Intensität und die Authentizität des Originals hervorragend ins Deutsche übertrage. Fazit des Rezensenten: ein "wunderbar schwermütiges, sehnsuchtsvolles Buch".
© Perlentaucher Medien GmbH
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