Produktdetails
  • Verlag: HarperCollins UK / Import
  • Seitenzahl: 307
  • Englisch
  • Abmessung: 200mm
  • Gewicht: 218g
  • ISBN-13: 9780006499978
  • Artikelnr.: 21970716
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.11.1999

Tücken der Erinnerung
Michael M. Smith stößt mit der Nase auf Unsichtbares

Im Jahr 2015 werden Träume nicht gedeutet, sondern entsorgt. Meist sind es Albträume, die der Protagonist Hap Thompson im Auftrag einer Firma während des Schlafes in das Unterbewusstsein übertragen lässt. Diese R.E.M.-Jobs gewähren dem Kunden eine ruhige Nacht. Dass die Kunden ihre Träume nur deshalb als Last empfinden, weil sie das Unsichtbare nicht sehen wollen, das ihr Wesen ausmacht, kümmert Hap nicht. Als er sich auf das Angebot seines Arbeitgebers Stratten einlässt, nicht nur Träume, sondern auch Erinnerungen - vorübergehend - zu entsorgen, nimmt das Verhängnis seinen Lauf. War die Traumentsorgung ein halblegales Geschäft, ist die Übertragung von Erinnerungen gefährlich. Erst neulich ist ein freischaffender Erinnerungsverwahrer zu lebenslänglicher Haftstrafe verurteilt worden, weil er die Erinnerung an einen Mord übernommen hatte, der daraufhin dem Täter nicht mehr nachgewiesen werden konnte.

Nun sieht sich Hap selbst mit der Erinnerung an einen Mord behaftet, den er nicht begangen hat. Und was ihn vor allem beunruhigt: Er wird die Erinnerung nicht mehr los. Denn die Frau, von der er sie für eine kurze Zeitspanne übernehmen sollte, ist verschwunden. Mag es Hap anfangs nur darum gehen, seine eigene Haut zu retten, so stellt er sich im Verlauf der Verwicklungen als guter Kerl heraus. Während er sich in einer futuristischen Umgebung auf die Suche nach der Frau begibt, spinnen im Hintergrund Mächte ihre Fäden, über die er im Verlauf seiner Suche Schauerliches herausfindet. Hap wurde gewaltig getäuscht. Der Mann, dem er am meisten vertraute, hat ihn übers Ohr gehauen, ihn nicht nur bei der Polizei angeschwärzt, sondern auch mit der Erinnerungsübertragung betrogen, seine virtuellen Konten aufgelöst und seine Kunden erpresst.

Michael M. Smith, der 1997 für seine Sciencefictiongeschichte "Geklont" den britischen August Derleth Fantasy Award erhielt, legt in seinem neuen Roman ein Rätselwerk vor, das sich vordergründig als Thriller und Zukunftsroman liest. Aber das Offensichtliche birgt metaphysische Tiefen. Stellt doch Michael M. Smith seinem Roman einen Satz von Merleau-Ponty als Motto voran: "Das Unsichtbare ist das geheime Gesicht des Sichtbaren". Er widmet sein Buch jenen, die unsichtbar geworden sind, und gibt damit seinen Lesern einen Schlüssel in die Hand, um seine kryptographischen Mitteilungen zu entziffern.

Das geheime Gesicht, das sich hinter Smith' Sciencefictionkrimi verbirgt, ist das eines spiritualistischen Fortschrittskritikers. Smith erzählt angesichts der neuesten Informationstechnologien die Geschichte Orwells weiter. Im Jahr 2015 beherrschen Spezialisten die Technik, Bewusstseinsinhalte in Echtzeit aus dem menschlichen Gehirn zu lösen. Doch die verdrängten Träume erfüllen wie Gewitterstürme aus Emotionen den Raum. Später verdichten sie sich und machen ein Betreten des Zimmers unmöglich. Deswegen müssen die Träume in die Gehirne professioneller Traumarbeiter übertragen werden, denen die Verarbeitung der fremden Albträume nichts ausmacht, weil es nicht die ihren sind.

Die als Selbstreflexionen Haps getarnten philosophischen Einsprengsel machen deutlich, dass "R.E.M." mehr sein will als nur ein Sciencefictionkrimi. Mit manipulierten Erinnerungen lassen sich geniale Verbrecher züchten: "Wenn man jemandem die Kindheitserlebnisse wegnimmt, durch die er den Unterschied zwischen richtig und falsch kennen gelernt hat, kommt ein ziemlich unerträglicher Kerl dabei heraus. Ohne Moral. So jemand versteht nicht, warum er nicht stehlen, niemanden vergewaltigen oder gar umbringen darf - und das macht ihn zum besseren Verbrecher." Auch Identitäten lassen sich manipulieren. Denn die Erinnerung verwahrt Geheimnisse, die das Diskretum einer Persönlichkeit ausmachen. Die Technokraten haben einen Weg gefunden, diese Geheimnisse zu erforschen. Eine Perspektive des Grauens eröffnet sich. Während Drogen wie "Fresh" Erinnerungen nur vorübergehend auslöschen, kann die menschliche Persönlichkeit über Onlineterminals verändert werden. Der Weg in die virtuelle Welt, drahtlos und jederzeit gangbar, ist keine Einbahnstraße, der Surfer taucht nicht nur in Homepagelandschaften ein, sondern aus jener virtuellen Realität kann sich auch ein verborgener Wille seines Bewusstseins bemächtigen. Ähnlich wie Tad Williams oder William Gibson artikuliert Smith Bedrohungen, die ihm von der Weiterentwicklung der Informationstechnologie auszugehen scheinen.

Glücklicherweise aber besitzt nicht nur die menschliche Persönlichkeit eine unsichtbare Seite, sondern auch das Universum: Hardware ist nicht alles. Auf der anderen Seite, in einer Zwischenwelt hinter dem Spiegel des Sichtbaren, leben die "Aliens", die "Fremden", die eingreifen in das Spiel der Menschen. Der gnostische Mythos, den Smith als Rahmen um seinen Krimi spinnt, handelt von diesen wahren Unsichtbaren. Früher wurden sie Götter, später Engel genannt, und heute rauschen sie als Aliens in Ufos daher und beeinflussen die Geschicke der Menschen. Die Menschen selbst sind ursprünglich Bürger jener anderen Welt gewesen, haben jedoch die Erinnerung an ihren Ursprung verloren. "Wir, die wir sichtbar wurden, eroberten die Welt", erzählt der Mann im dunklen Anzug, eine Epiphanie aus der Schattenwelt. "Unser Pakt mit der Körperlichkeit machte das möglich, wie eine Art metaphysischer opponierbarer Daumen . . . Wir verdichteten uns nach und nach hin zu größerer Sterblichkeit . . . Wir konnten jetzt sterben, und wenn wir erst einmal tot waren, gab es kein Zurück, außer wenn diejenigen, die uns einst geliebt hatten, uns durch den Schleier der Erinnerung kurz erblickten."

Smith bietet in seinem Roman nicht nur spannende Unterhaltung, sondern auch Stoff zu metaphysischen Streifzügen durch eine Welt vergessener oder verdrängter kollektiver Erinnerungen.

LORENZO RAVAGLI.

Michael Marshall Smith: "R.E.M.". Roman. Deutsch von Thomas Stegers und Claus Varrelmann. Rowohlt Verlag, Reinbek 1999. 431 Seiten, geb., 42,- DM.

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