Oben die helle Welt, unten das Dunkel: Schon auf dem Weg durch die Stadt gibt es überall Höhleneingänge, auf dem Weg der Liebe, auf dem Weg der Gerechtigkeit, auf dem Weg des Spiels. Wer lebt, der lebt mit Bildern, mit Geschichten, die sich wieder aus Bildern zusammensetzen. Mann und Frau ein Leben lang auf der Suche nach sich selbst. Die Bilder, die Botho Strauß entwirft, die Szenen die er erzählt, sind Graffiti aus der Tiefe des Traums. Und wie im Traum erkennt der Leser in dem, was so rätselhaft erscheint, ganz plötzlich sein eigenes Gesicht. Botho Strauß erkundet unsere gegenwärtige und alte Bilderwelt, entziffert die Schrift auf den Höhlenwänden der Nacht.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.11.2016Das andere Höhlengleichnis, die andere Traumdeutung
Botho Strauß nennt sein neues Buch "Oniritti", und das ist zugleich auch die Gattungsbezeichnung. In den Geschichten imaginärer Welten hält er der Gegenwart den Spiegel vor - durch ein immenses historisches Wissen und eine stilistische Brillanz, die ihresgleichen sucht.
Von Lorenz Jäger
Die "Carceri" von Piranesi, Architekturphantasien riesiger Gefängnisse, in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts entworfen, sind nicht leicht zu deuten. Ein erster Schlüssel ergibt sich aus Piranesis Veduten von Rom: Kaum eine Ansicht, in der nicht eine Kirche, ein antiker Tempel zu sehen wäre. Hier wohnten Götter, und hier wohnt Gott, scheinen die Veduten zu sagen. Die Kerkerwelt aber kennt die Altäre nicht. Sie ist das Anti-Rom, passend in die Epoche der Aufklärung.
Botho Strauß, der in seinem neuen Buch Geschichten imaginärer Welten aufruft, geht in seiner Deutung von den unendlich vielen Treppen der Gefängnisse aus: "Das Gefängnis ist eigentlich das Modell eines wirren, vielstufigen Himmelsgerüsts. Ein unübersichtliches Gefüge aus vielen Perspektiven - doch ohne Ausgang . . . Ein Raum der vielfältigen Überbrückungen und voller Bewegungsfreiheit ist die Gefangenschaft." Also die paradoxe Erfüllung des Versprechens einer offenen Gesellschaft als Albtraum. Und so ist die Akzentuierung der Vertikale ein erstes Kompositionsprinzip des Buches, aus der Tiefe der Höhlen führt sie den Leser zu Himmelsleitern.
Ein längeres Gedankenspiel mit den Piranesi-Kerkern projiziert in diese Architekturen eine Welt, die wir als unsere Gegenwart erkennen. "Dafür gab es in den Carceri seit kurzem die nützlichen Vermeidungsapps. Dir wird auf dem Smartphone angezeigt, wenn einer deiner ,sauberen Freunde', Facebookbruder, in leibhaftiger Gestalt in der Menge auftaucht, treppauf treppab, und deinen Weg zu kreuzen droht. Niemals ihm begegnen! Einer unter Hunderten soll immer einer unter Hunderten bleiben!"
Das ist die eigentümliche Kunst von Strauß: Seine Figuren sind völlig gegenwärtig, jedenfalls möglicherweise, im Stil, in der Art ihrer Kleidung, in ihren Gesten und Floskeln, und doch wie durch ein Fernrohr angeschaut; sie gehören zu uns, wenn man sich ein paar minimale Veränderungen dazudenkt. Strauß sieht wie ein guter Schütze, für den Nah und Fern keinen großen Unterschied mehr machen. Einmal schildert er diese Schützen-Augen einer Frau: "Sie blickte nur häufig sehr ernst in die Ferne, und das tat sie auch, wenn sie mich ansah." Solche fremd-vertrauten Atmosphären kann dieses ungemein tiefe und nicht leicht verständliche Buch hervorzaubern: "Eike Pohl (Name der Nacht), ein Fluidum-Forscher, zog umher und erbat Einlass bei unbekannten Menschen, setzte sich still in eine Ecke und begann mit seinen Messungen."
Lässt man sich einmal darauf ein, dann merkt man bald, dass der Tiefsinn nicht der alleinige Gewinner in diesem Spiel ist. Es gibt Passagen von abgründiger Heiterkeit. Da ist die Szene von der Party zu nennen, zu der keine Gäste erschienen sind: "Die schöne Nervöse, die Gastgeberin, sagte: ,Es hatte sich für heute Lea angesagt, auch Martin wollte kommen.' Ich fiel ihr ins Wort: ,Und dann bin nur ich erschienen.' Da sah sie mich aufmerksam an, einen Unbekannten, den sie gar nicht eingeladen hatte. , Ha!' rief sie. ,Sieh mal. Er wird rot. Das sieht man selten.'" Die Schwester der Nervösen (sie hat ein Baby auf dem Arm) näherte sich, "griff ein Smartphone aus der Strickjacke und versuchte meine gerötete Wange von nahem zu fotografieren". Man stellt sich einen Kafka vor, der einen Instagram-Account eingerichtet hat.
Dazu treten die Geschichten von der Erdtiefe, aus den Höhlen der faustischen Mütter: "Manches kommt jetzt herauf in der Sprache des Bergmanns; nach Absterben seines Berufs steigt die Sprache der unterirdischen Reiche empor und durchsetzt unser Tagebaugewäsch." Strauß scheut sich nicht (so wenig, wie sich Jorge Luis Borges gescheut hatte), an die Edel-Fantasy von Lord Dunsany zu erinnern, der das unterirdische Reich Agharti entworfen hatte. "Idle City" (die brachliegende, träge, beschäftigungslose, unproduktive Stadt), eine andere Erfindung Dunsanys, wird von Strauß zu einem Posthistoire weitergedichtet: "Die Menschen lebten dort angekommen in erfüllter Zeit. Es war ein Äon, in dem alle Neuerungen sich erschöpft hatten, und der Mensch der gierigen Entwicklungen stand nun in allen Dingen vor einer fertig gewordenen Welt, einer restlos gegebenen Gegebenheit."
Aber selbst hier ist nicht alles ruhig. Der Architekt von Idle City hängt der Idee der klassischen Moderne an - "heute bedrängt von lauter Remix-Arrangeuren der Baukunst" -, er will das Vermächtnis von Giuseppe Terragni erfüllen, des "großen Terragni", der unter Mussolini baute, und so muss sein Nachfahr es hinnehmen, "dass ihn die Schar der Plundergeister schmäht, den Stil der ,Casa del fascio' ihm vorhaltend".
Alle kennen das Bild eines Ur-Paares, des Paares schlechthin; des Paares mit dem langen Blick der Isolde. Und dann zerstiebt es, wir sehen bei Strauß seine Splitter, wir ahnen aus ihnen, was vorher gewesen sein muss, wenn er eine Frau aus der Perspektive der anderen schildert: "Die Männer, die hereintreten, sie schmähen und wieder gehen, heißen Ress, Cill, Flack und Tann. Stets beginnt einer mit dem Satz: Ich nehm dir deine Vergangenheit nicht übel. Was ich dir aber übelnehme usf."
"Oniritti" heißt das Buch, gebildet aus griechisch oneiros, der Traum, und Graffiti. Der Titel umreißt die Poetik sehr gut, es ist schwer, einen besseren Begriff für diese Sammlung zu finden, deren Logik sich nicht sofort erschließt. Am Ende sind es Bewusstseinsfragmente und physische Haltungen (wie sie dem Dramatiker Strauß als Gegenstand der Aufmerksamkeit naheliegen müssen), die in Konstellationen treten. Zum Traum gehört das große Theater, und ein Träumer, der Prinz von Homburg, wird von Strauß auf den Brettern der Berliner "Schaubühne" vergegenwärtigt. So treten autobiographische Momente hinein. Ein Weltbuch haben wir, eine Wunderkammer der schieren Intelligenz.
Botho Strauß: "Oniritti". Höhlenbilder.
Hanser Verlag, München 2016. 288 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Botho Strauß nennt sein neues Buch "Oniritti", und das ist zugleich auch die Gattungsbezeichnung. In den Geschichten imaginärer Welten hält er der Gegenwart den Spiegel vor - durch ein immenses historisches Wissen und eine stilistische Brillanz, die ihresgleichen sucht.
Von Lorenz Jäger
Die "Carceri" von Piranesi, Architekturphantasien riesiger Gefängnisse, in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts entworfen, sind nicht leicht zu deuten. Ein erster Schlüssel ergibt sich aus Piranesis Veduten von Rom: Kaum eine Ansicht, in der nicht eine Kirche, ein antiker Tempel zu sehen wäre. Hier wohnten Götter, und hier wohnt Gott, scheinen die Veduten zu sagen. Die Kerkerwelt aber kennt die Altäre nicht. Sie ist das Anti-Rom, passend in die Epoche der Aufklärung.
Botho Strauß, der in seinem neuen Buch Geschichten imaginärer Welten aufruft, geht in seiner Deutung von den unendlich vielen Treppen der Gefängnisse aus: "Das Gefängnis ist eigentlich das Modell eines wirren, vielstufigen Himmelsgerüsts. Ein unübersichtliches Gefüge aus vielen Perspektiven - doch ohne Ausgang . . . Ein Raum der vielfältigen Überbrückungen und voller Bewegungsfreiheit ist die Gefangenschaft." Also die paradoxe Erfüllung des Versprechens einer offenen Gesellschaft als Albtraum. Und so ist die Akzentuierung der Vertikale ein erstes Kompositionsprinzip des Buches, aus der Tiefe der Höhlen führt sie den Leser zu Himmelsleitern.
Ein längeres Gedankenspiel mit den Piranesi-Kerkern projiziert in diese Architekturen eine Welt, die wir als unsere Gegenwart erkennen. "Dafür gab es in den Carceri seit kurzem die nützlichen Vermeidungsapps. Dir wird auf dem Smartphone angezeigt, wenn einer deiner ,sauberen Freunde', Facebookbruder, in leibhaftiger Gestalt in der Menge auftaucht, treppauf treppab, und deinen Weg zu kreuzen droht. Niemals ihm begegnen! Einer unter Hunderten soll immer einer unter Hunderten bleiben!"
Das ist die eigentümliche Kunst von Strauß: Seine Figuren sind völlig gegenwärtig, jedenfalls möglicherweise, im Stil, in der Art ihrer Kleidung, in ihren Gesten und Floskeln, und doch wie durch ein Fernrohr angeschaut; sie gehören zu uns, wenn man sich ein paar minimale Veränderungen dazudenkt. Strauß sieht wie ein guter Schütze, für den Nah und Fern keinen großen Unterschied mehr machen. Einmal schildert er diese Schützen-Augen einer Frau: "Sie blickte nur häufig sehr ernst in die Ferne, und das tat sie auch, wenn sie mich ansah." Solche fremd-vertrauten Atmosphären kann dieses ungemein tiefe und nicht leicht verständliche Buch hervorzaubern: "Eike Pohl (Name der Nacht), ein Fluidum-Forscher, zog umher und erbat Einlass bei unbekannten Menschen, setzte sich still in eine Ecke und begann mit seinen Messungen."
Lässt man sich einmal darauf ein, dann merkt man bald, dass der Tiefsinn nicht der alleinige Gewinner in diesem Spiel ist. Es gibt Passagen von abgründiger Heiterkeit. Da ist die Szene von der Party zu nennen, zu der keine Gäste erschienen sind: "Die schöne Nervöse, die Gastgeberin, sagte: ,Es hatte sich für heute Lea angesagt, auch Martin wollte kommen.' Ich fiel ihr ins Wort: ,Und dann bin nur ich erschienen.' Da sah sie mich aufmerksam an, einen Unbekannten, den sie gar nicht eingeladen hatte. , Ha!' rief sie. ,Sieh mal. Er wird rot. Das sieht man selten.'" Die Schwester der Nervösen (sie hat ein Baby auf dem Arm) näherte sich, "griff ein Smartphone aus der Strickjacke und versuchte meine gerötete Wange von nahem zu fotografieren". Man stellt sich einen Kafka vor, der einen Instagram-Account eingerichtet hat.
Dazu treten die Geschichten von der Erdtiefe, aus den Höhlen der faustischen Mütter: "Manches kommt jetzt herauf in der Sprache des Bergmanns; nach Absterben seines Berufs steigt die Sprache der unterirdischen Reiche empor und durchsetzt unser Tagebaugewäsch." Strauß scheut sich nicht (so wenig, wie sich Jorge Luis Borges gescheut hatte), an die Edel-Fantasy von Lord Dunsany zu erinnern, der das unterirdische Reich Agharti entworfen hatte. "Idle City" (die brachliegende, träge, beschäftigungslose, unproduktive Stadt), eine andere Erfindung Dunsanys, wird von Strauß zu einem Posthistoire weitergedichtet: "Die Menschen lebten dort angekommen in erfüllter Zeit. Es war ein Äon, in dem alle Neuerungen sich erschöpft hatten, und der Mensch der gierigen Entwicklungen stand nun in allen Dingen vor einer fertig gewordenen Welt, einer restlos gegebenen Gegebenheit."
Aber selbst hier ist nicht alles ruhig. Der Architekt von Idle City hängt der Idee der klassischen Moderne an - "heute bedrängt von lauter Remix-Arrangeuren der Baukunst" -, er will das Vermächtnis von Giuseppe Terragni erfüllen, des "großen Terragni", der unter Mussolini baute, und so muss sein Nachfahr es hinnehmen, "dass ihn die Schar der Plundergeister schmäht, den Stil der ,Casa del fascio' ihm vorhaltend".
Alle kennen das Bild eines Ur-Paares, des Paares schlechthin; des Paares mit dem langen Blick der Isolde. Und dann zerstiebt es, wir sehen bei Strauß seine Splitter, wir ahnen aus ihnen, was vorher gewesen sein muss, wenn er eine Frau aus der Perspektive der anderen schildert: "Die Männer, die hereintreten, sie schmähen und wieder gehen, heißen Ress, Cill, Flack und Tann. Stets beginnt einer mit dem Satz: Ich nehm dir deine Vergangenheit nicht übel. Was ich dir aber übelnehme usf."
"Oniritti" heißt das Buch, gebildet aus griechisch oneiros, der Traum, und Graffiti. Der Titel umreißt die Poetik sehr gut, es ist schwer, einen besseren Begriff für diese Sammlung zu finden, deren Logik sich nicht sofort erschließt. Am Ende sind es Bewusstseinsfragmente und physische Haltungen (wie sie dem Dramatiker Strauß als Gegenstand der Aufmerksamkeit naheliegen müssen), die in Konstellationen treten. Zum Traum gehört das große Theater, und ein Träumer, der Prinz von Homburg, wird von Strauß auf den Brettern der Berliner "Schaubühne" vergegenwärtigt. So treten autobiographische Momente hinein. Ein Weltbuch haben wir, eine Wunderkammer der schieren Intelligenz.
Botho Strauß: "Oniritti". Höhlenbilder.
Hanser Verlag, München 2016. 288 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Hier ist (...) einer der interessantesten, klügsten und herausforderndsten deutschen Schriftsteller zu vernehmen, dessen polemische Essays, etwa die kulturkonservative Selbststilisierung zum 'letzten Deutschen', nicht als Überzeugungstaten, sondern als 'Versuche' und Versuchungen im Sinn der experimentellen literarischen Gattung zu verstehen sind." Wolfgang Schneider, Der Tagesspiegel, 22.01.17
"In seinem jüngsten Buch (...) zeigt Botho Strauß die ganze abgedrehte Brillanz seiner großen Kunst". Ijoma Mangold, Die Zeit, 05.01.17
"Eine souveräne Expedition auf Dantes Spuren. Ein 'kugelrundes' Buch eben." Stefan Meetschen, Tagespost, 26.11.16
"Botho Strauß ist mit " Oniritti", diesen so hermetischen wie augenöffnenden Notizen, jenseits des literarischen Realitätsprinzips etwas Großes gelungen." Christoph Bartmann, Süddeutsche Zeitung, 29.11.16
"In den Geschichten imaginärer Welten hält er der Gegenwart den Spiegel vor - durch ein immenses historisches Wissen und eine stilistische Brillanz, die ihresgleichen sucht (...). Ein Weltbuch haben wir, eine Wunderkammer der schieren Intelligenz." Lorenz Jäger, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.11.16
" 'Oniritti Höhlenbilder' des Grandseigneurs der deutschen Literatur ist ein mit junggebliebener Bilderfreude ersonnener Ritt durch die Wahrnehmungskanäle unserer Spätmoderne. Oder anders gesagt: eine Verzückung zum Lesen." Björn Hayer, Spiegel Online, 12.10.16
"In seinem jüngsten Buch (...) zeigt Botho Strauß die ganze abgedrehte Brillanz seiner großen Kunst". Ijoma Mangold, Die Zeit, 05.01.17
"Eine souveräne Expedition auf Dantes Spuren. Ein 'kugelrundes' Buch eben." Stefan Meetschen, Tagespost, 26.11.16
"Botho Strauß ist mit " Oniritti", diesen so hermetischen wie augenöffnenden Notizen, jenseits des literarischen Realitätsprinzips etwas Großes gelungen." Christoph Bartmann, Süddeutsche Zeitung, 29.11.16
"In den Geschichten imaginärer Welten hält er der Gegenwart den Spiegel vor - durch ein immenses historisches Wissen und eine stilistische Brillanz, die ihresgleichen sucht (...). Ein Weltbuch haben wir, eine Wunderkammer der schieren Intelligenz." Lorenz Jäger, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.11.16
" 'Oniritti Höhlenbilder' des Grandseigneurs der deutschen Literatur ist ein mit junggebliebener Bilderfreude ersonnener Ritt durch die Wahrnehmungskanäle unserer Spätmoderne. Oder anders gesagt: eine Verzückung zum Lesen." Björn Hayer, Spiegel Online, 12.10.16