Ein originelles Buch voller Geschichten und Anekdoten mit unerwarteten Einsichten - ein echter Sacks!
"Wolfram" heißt der chemische Grundstoff, den man unter anderem zur Herstellung von Glühfäden braucht, und Onkel Wolfram - englisch "Uncle Tungsten" - nannte Oliver Sacks seinen Lieblingsonkel Dave. Denn dieser betrieb im Londoner Stadtteil Farringdon eine Glühbirnenfabrik, und die Besuche bei Onkel Wolfram in seiner Firma Tungstalite wurden zu prägenden Erlebnissen für den kleinen Oliver. Er war sechs Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg begann, und zwölf, als die Völkerschlacht endete - stärker als alle Kriegsereignisse beeindruckten ihn seine Erfahrungen mit Phänomenen der Natur und Technik.
"Wolfram" heißt der chemische Grundstoff, den man unter anderem zur Herstellung von Glühfäden braucht, und Onkel Wolfram - englisch "Uncle Tungsten" - nannte Oliver Sacks seinen Lieblingsonkel Dave. Denn dieser betrieb im Londoner Stadtteil Farringdon eine Glühbirnenfabrik, und die Besuche bei Onkel Wolfram in seiner Firma Tungstalite wurden zu prägenden Erlebnissen für den kleinen Oliver. Er war sechs Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg begann, und zwölf, als die Völkerschlacht endete - stärker als alle Kriegsereignisse beeindruckten ihn seine Erfahrungen mit Phänomenen der Natur und Technik.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.01.2002Oh, wie garstig ist dies Silber
Oliver Sacks erinnert sich an eine metallhaltige Kindheit und erweist sich als ein Genie auch der Chemie
Damit das Kind im Erwachsenen nicht abstirbt, entstanden um 1800 märchenhafte Komödien und melancholische Gedichte. Geheimnislos fanden viele Dichter ihr vernünftiges Dasein. Beim Kind, das sie einst waren, wollten sie noch einmal in die Schule des Staunens gehen. Novalis widmete dem ein Jahr jüngeren Freund Tieck einen Hymnus auf das Kind als Leser und Entdecker: „Ein altes Buch mit Gold verschlossen” entdeckt das Kind in einem kahlen Garten. Sobald es die „niegehörten Worte” entziffert hat, wächst in ihm „ein innrer Sinn”. Das Kind blickt durch das Buch hindurch „in den Krystall der neuen Welt. ”
Kristalle rosten nicht
Ein zwölfjähriger Junge eilt durch die Gänge des Geologischen Museums von London. Im oberen Stockwerk kommt er zur Ruhe. Vor zwei Meter hohen Erzen bleibt er stehen. Die glänzenden Kristalle aus Antimonit werden ihm zu „einer Art Totem oder Fetisch”. Der Junge betet sie geradezu an. Da die atemraubend schönen Kristalle von der japanischen Insel Shikoku stammen, nimmt er sich fest vor, dorthin zu reisen und „diesem Gott meine Achtung zu bezeugen”. Noch am gleichen Tag kauft sich der kleine Oliver ein Beutelchen mit gemischten Mineralien. Im täglichen Umgang will er seine neuen Freunde kennen lernen, den Quarz, den Zinnober und all die andern.
Statt nach Shikoku fuhr Oliver Sacks Mitte der neunziger Jahre in die Südsee, nach Pohnpei. Er besuchte die „Insel der Farbenblinden”. Neue Welten locken Sacks bis heute. Entgegen den kindlichen Interessen ist kein Geologe oder Chemiker aus ihm geworden, stattdessen bricht er als Neurologe zu den Kontinenten der Seele auf. Seine Bücher handeln von Autisten und Epileptikern. Er schildert deren Leiden ebenso behutsam wie poetisch und legt den Kern einer jeden Krankheitsgeschichte frei: das unbedingte Verlangen, trotz aller Normabweichung ernst genommen zu werden.
Die eigensinnigen Helden der vom fünften zum vierzehnten Lebensjahr reichenden Erinnerungen sind keine Patienten, sondern Ärzte und Metalle, Atome und Fotografen, kurz: die ganze Familie Sachs. Deren Ahnherr, Rabbi Lazar Weiskopf aus Lübeck, gab sich im zwölften Jahrhundert der Alchemie hin. Die Nachkommen verkehren mit der angeblich unbelebten Materie auf Du und Du. Früh beobachtet Oliver chemische Experimente. Er sieht zu, wie Quecksilber einen Aluminiumklumpen aufzehrt: „Quecksilber wurde für mich zum bösen Prinzip, zum Metallvernichter.” Da aber die Metalle, die er zärtlich betastet, die er ins Licht hält und an denen er riecht, seine liebsten Gefährten sind, beruhigt es den traurigen Jungen ungemein, dass die Macht des Vernichters schnell an ihre Grenzen stößt. Dem Wolfram kann das Quecksilber nichts anhaben.
Den schockierenden Versuch und die tröstliche Einsicht verdankt Oliver seinem Lieblingsonkel. Da in dessen Firma Glühbirnen mit Wolframfäden hergestellt werden, ist Onkel Dave nur Onkel Wolfram. Wenn er seinem Neffen ein Stück des Elements mit der Ordnungszahl 74 in die Hand gibt und von dem „idealen Metall Wolfram” schwärmt, vom höchsten Schmelzpunkt und der unzerstörbaren Härte, spürt Oliver das Glück in sich aufsteigen. Sein Puls schlägt schneller, die Augen leuchten, er fühlt sich geborgen. Bald darauf wandert er nach Hampstead, wo er Natrium von einer Brücke ins Wasser wirft. Es fängt sofort Feuer, rast wie ein Meteor flussabwärts, und als Oliver den Flammen nachschaut, weiß er, wie abenteuerlich ein Forscherleben sein kann.
Romantische Verpuppung
Ohne die vielseitig interessierten Eltern – beide Ärzte – , ohne den engen Zusammenhalt einer Großfamilie wäre Olivers Neugier versandet oder hätte sich am untauglichen Objekt ausgetobt. Lebendige Vorbilder sind es, die auf spielerische, aber keineswegs unernste Weise den Jungen fördern, indem sie ihn fordern – „Onkel Wolfram” ist insofern ein Plädoyer für die Familie und für den frühestmöglichen Lernbeginn.
Noch vor seinem dreizehnten Geburtstag kennt Oliver die Fibonacci- Reihe, die Tante Len ihm anhand der Sonnenblumen in ihrem Garten erklärt, er hat auf dem Dachboden mit Onkel Abes Elektromagnet experimentiert, hat bei Cousin Walter Fotos entwickelt, er hat von Faradays Kraftlinien gehört und sich berauscht an der Schönheit des Periodensystems: „Die Tafel war so tief und einfach wie die Natur selbst. Diese Erkenntnis löste in mir eine Art von Ekstase aus.” Oliver sammelt Briefmarken, Busfahrkarten und Münzen, weil auch durch sie die Welt gewissermaßen kristallin wird. Das Chaos droht überall, erst die Ordnung des denkenden und klassifizierenden Betrachters vertreibt das diabolische Quecksilber, vertreibt die Gewalt und die Feinde der Schöpfung. Das Studium der Natur vermag zwar nicht ihre destruktiven Kräfte zu bannen, doch es schärft die Sinne immer wieder neu und vertreibt die Angst vor dem Morgen.
Ein Bildungsroman ist Oliver Sacks’ fragmentarische Autobiographie doch nicht geworden – zu ermüdend ist manches physikalische Referat, zu lang sind die Fußnoten, zu knapp die Darstellungen der durchweg unverwechselbaren Familienmitglieder. Die zentralen Chiffren der im zweiten Teil eher interessanten als spannenden Darstellung, Romantik und Magie, hätten eine elegantere Auflösung verdient. Oliver Sacks bricht das Buch mit dem Hinweis ab, er habe das Interesse an der Chemie verloren, weil die Quantenmechanik mit ihrer Theorie von den Elektronen als Wellen ihn verwirrte: „Ich hatte mich der Naturwissenschaft zugewandt, um Ordnung und Gewissheit zu finden, und plötzlich waren diese nicht mehr vorhanden.” Der Zauberer der Dingwelt aber und Romantiker des Wissens, der er bis zu seinem vierzehnten Lebensjahr sein wollte, verpuppte sich bloß. Der Neurologe hält dem Kind die Treue. ALEXANDER KISSLER
OLIVER SACKS: Onkel Wolfram. Erinnerungen. Aus dem Englischen von Hainer Kober. Rowohlt Verlag, Reinbek 2002. 384 Seiten, 24,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Oliver Sacks erinnert sich an eine metallhaltige Kindheit und erweist sich als ein Genie auch der Chemie
Damit das Kind im Erwachsenen nicht abstirbt, entstanden um 1800 märchenhafte Komödien und melancholische Gedichte. Geheimnislos fanden viele Dichter ihr vernünftiges Dasein. Beim Kind, das sie einst waren, wollten sie noch einmal in die Schule des Staunens gehen. Novalis widmete dem ein Jahr jüngeren Freund Tieck einen Hymnus auf das Kind als Leser und Entdecker: „Ein altes Buch mit Gold verschlossen” entdeckt das Kind in einem kahlen Garten. Sobald es die „niegehörten Worte” entziffert hat, wächst in ihm „ein innrer Sinn”. Das Kind blickt durch das Buch hindurch „in den Krystall der neuen Welt. ”
Kristalle rosten nicht
Ein zwölfjähriger Junge eilt durch die Gänge des Geologischen Museums von London. Im oberen Stockwerk kommt er zur Ruhe. Vor zwei Meter hohen Erzen bleibt er stehen. Die glänzenden Kristalle aus Antimonit werden ihm zu „einer Art Totem oder Fetisch”. Der Junge betet sie geradezu an. Da die atemraubend schönen Kristalle von der japanischen Insel Shikoku stammen, nimmt er sich fest vor, dorthin zu reisen und „diesem Gott meine Achtung zu bezeugen”. Noch am gleichen Tag kauft sich der kleine Oliver ein Beutelchen mit gemischten Mineralien. Im täglichen Umgang will er seine neuen Freunde kennen lernen, den Quarz, den Zinnober und all die andern.
Statt nach Shikoku fuhr Oliver Sacks Mitte der neunziger Jahre in die Südsee, nach Pohnpei. Er besuchte die „Insel der Farbenblinden”. Neue Welten locken Sacks bis heute. Entgegen den kindlichen Interessen ist kein Geologe oder Chemiker aus ihm geworden, stattdessen bricht er als Neurologe zu den Kontinenten der Seele auf. Seine Bücher handeln von Autisten und Epileptikern. Er schildert deren Leiden ebenso behutsam wie poetisch und legt den Kern einer jeden Krankheitsgeschichte frei: das unbedingte Verlangen, trotz aller Normabweichung ernst genommen zu werden.
Die eigensinnigen Helden der vom fünften zum vierzehnten Lebensjahr reichenden Erinnerungen sind keine Patienten, sondern Ärzte und Metalle, Atome und Fotografen, kurz: die ganze Familie Sachs. Deren Ahnherr, Rabbi Lazar Weiskopf aus Lübeck, gab sich im zwölften Jahrhundert der Alchemie hin. Die Nachkommen verkehren mit der angeblich unbelebten Materie auf Du und Du. Früh beobachtet Oliver chemische Experimente. Er sieht zu, wie Quecksilber einen Aluminiumklumpen aufzehrt: „Quecksilber wurde für mich zum bösen Prinzip, zum Metallvernichter.” Da aber die Metalle, die er zärtlich betastet, die er ins Licht hält und an denen er riecht, seine liebsten Gefährten sind, beruhigt es den traurigen Jungen ungemein, dass die Macht des Vernichters schnell an ihre Grenzen stößt. Dem Wolfram kann das Quecksilber nichts anhaben.
Den schockierenden Versuch und die tröstliche Einsicht verdankt Oliver seinem Lieblingsonkel. Da in dessen Firma Glühbirnen mit Wolframfäden hergestellt werden, ist Onkel Dave nur Onkel Wolfram. Wenn er seinem Neffen ein Stück des Elements mit der Ordnungszahl 74 in die Hand gibt und von dem „idealen Metall Wolfram” schwärmt, vom höchsten Schmelzpunkt und der unzerstörbaren Härte, spürt Oliver das Glück in sich aufsteigen. Sein Puls schlägt schneller, die Augen leuchten, er fühlt sich geborgen. Bald darauf wandert er nach Hampstead, wo er Natrium von einer Brücke ins Wasser wirft. Es fängt sofort Feuer, rast wie ein Meteor flussabwärts, und als Oliver den Flammen nachschaut, weiß er, wie abenteuerlich ein Forscherleben sein kann.
Romantische Verpuppung
Ohne die vielseitig interessierten Eltern – beide Ärzte – , ohne den engen Zusammenhalt einer Großfamilie wäre Olivers Neugier versandet oder hätte sich am untauglichen Objekt ausgetobt. Lebendige Vorbilder sind es, die auf spielerische, aber keineswegs unernste Weise den Jungen fördern, indem sie ihn fordern – „Onkel Wolfram” ist insofern ein Plädoyer für die Familie und für den frühestmöglichen Lernbeginn.
Noch vor seinem dreizehnten Geburtstag kennt Oliver die Fibonacci- Reihe, die Tante Len ihm anhand der Sonnenblumen in ihrem Garten erklärt, er hat auf dem Dachboden mit Onkel Abes Elektromagnet experimentiert, hat bei Cousin Walter Fotos entwickelt, er hat von Faradays Kraftlinien gehört und sich berauscht an der Schönheit des Periodensystems: „Die Tafel war so tief und einfach wie die Natur selbst. Diese Erkenntnis löste in mir eine Art von Ekstase aus.” Oliver sammelt Briefmarken, Busfahrkarten und Münzen, weil auch durch sie die Welt gewissermaßen kristallin wird. Das Chaos droht überall, erst die Ordnung des denkenden und klassifizierenden Betrachters vertreibt das diabolische Quecksilber, vertreibt die Gewalt und die Feinde der Schöpfung. Das Studium der Natur vermag zwar nicht ihre destruktiven Kräfte zu bannen, doch es schärft die Sinne immer wieder neu und vertreibt die Angst vor dem Morgen.
Ein Bildungsroman ist Oliver Sacks’ fragmentarische Autobiographie doch nicht geworden – zu ermüdend ist manches physikalische Referat, zu lang sind die Fußnoten, zu knapp die Darstellungen der durchweg unverwechselbaren Familienmitglieder. Die zentralen Chiffren der im zweiten Teil eher interessanten als spannenden Darstellung, Romantik und Magie, hätten eine elegantere Auflösung verdient. Oliver Sacks bricht das Buch mit dem Hinweis ab, er habe das Interesse an der Chemie verloren, weil die Quantenmechanik mit ihrer Theorie von den Elektronen als Wellen ihn verwirrte: „Ich hatte mich der Naturwissenschaft zugewandt, um Ordnung und Gewissheit zu finden, und plötzlich waren diese nicht mehr vorhanden.” Der Zauberer der Dingwelt aber und Romantiker des Wissens, der er bis zu seinem vierzehnten Lebensjahr sein wollte, verpuppte sich bloß. Der Neurologe hält dem Kind die Treue. ALEXANDER KISSLER
OLIVER SACKS: Onkel Wolfram. Erinnerungen. Aus dem Englischen von Hainer Kober. Rowohlt Verlag, Reinbek 2002. 384 Seiten, 24,90 Euro.
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Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2002Der Erfinder der Dunkelbirne
Bei den Jugenderinnerungen von Oliver Sacks stimmt die Chemie
Der Neurologe Oliver Sacks ist mit seinen Fallgeschichten bekannt geworden, in denen er Menschen, die von der sozialen Norm abweichen, einem breiten Publikum nahegebracht hat. Jetzt berichtet uns der 1933 Geborene aus seiner Kindheit. Er wächst in einer großen Familie von naturwissenschaftlich gebildeten Menschen auf. Schon lange vor der Einschulung wird sein Interesse an Phänomenen wie Elektrizität, Magnetismus oder der Härte von Diamanten geweckt. Bereitwillig antworten Eltern, Onkel und Tanten dem Knaben auf seine Fragen. "Onkel Wolfram" - im Englischen "Uncle Tungsten" - nennt der junge Oliver Sacks seinen Lieblingsonkel Dave, denn dieser Onkel ist Inhaber der Firma Tungstalite, die Glühlampen herstellt. In den Labors der Fabrik führt der Onkel dem jungen Oliver die chemischen Reaktionen vor, mit denen das Wolfram für die Glühwendeln aus seinen Erzen gewonnen wird. Hier erhält der kleine Oliver einen ersten Eindruck von jener dunklen Welt, die sich hinter der sichtbaren Welt der Farben und Erscheinungen verbirgt.
In dieser geheimnisvollen Welt der Chemie findet sich der Knabe besser zurecht als im Umgang mit Gleichaltrigen. Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verschlägt ihn aus dem heimatlichen London in ein kleines Dorf in Mittelengland, wo er den Schikanen und Grausamkeiten der Mitschüler und Lehrer ausgesetzt ist. Nur die Beschäftigung mit Zahlen oder mit simplen Experimenten bleibt ihm aus dieser Zeit angenehm in Erinnerung. Einmal pflanzt er im Gemüsegarten der Schule zwei Reihen Radieschen und bittet Gott, die eine Reihe zu verfluchen und die andere zu segnen. Das Gemüse gedeiht jedoch in beiden Reihen gleich, woraus der junge Sacks folgert, daß es keinen Gott gebe. Wiederum vermag einzig die Naturwissenschaft seine Sehnsucht, an etwas zu glauben, zu stillen.
Erst im Sommer 1943 kehrt er in das elterliche Haus, das die Bombardierungen Londons überstanden hat, zurück. Jetzt beginnt für den Zehnjährigen der Lebensabschnitt, in dem er seiner Liebhaberei, der Chemie, frönen kann. Sein Onkel Dave weiht ihn in die Geheimnisse der Metalle ein, besonders jener hochschmelzenden Metalle, aus denen man Glühfäden für Lampen herstellt. Der Knabe beginnt aber auch Bücher zu lesen, die ihm die Grundlagen der Chemie als eine spielerisch zu entdeckende Welt voller mythischer Geheimnisse präsentieren.
Die damaligen Londoner Busfahrkarten mit aufgedruckten Buchstaben-Zahlen-Kombinationen inspirieren Sacks zu einer kuriosen Sammlung. Nachdem er seine Initialen in Form von Karten mit den Aufdrucken O 16 und S 32 erhalten hat, bemerkt er, daß diese beiden Kombinationen auch für die Elemente Sauerstoff und Schwefel mit ihren jeweiligen Atommassen stehen. Damit ist der Grundstein für eine Sammlung sämtlicher Elemente auf Busfahrkarten gelegt. Später begreift er, daß die Ordnungszahlen wichtiger sind als die Atommassen, und erstellt eine Zweitsammlung mit den Elementen von H 1 bis U 92.
Was der Junge über chemische Reaktionen hört und liest, kann er auch im spielerischen Umgang mit den Substanzen nachvollziehen, denn seine Brüder, Onkel und Eltern unterstützen ihn großzügig beim Aufbau eines eigenen Labors. Den Leser des einundzwanzigsten Jahrhunderts verwundert es immer wieder, zu welch exotischen und auch gefährlichen Substanzen der Knabe Zugang erhält. Sacks selbst spricht von der "Romantik der chemischen Versuche" und schildert seinen jungenhaften Stolz, wenn er mit diesen Substanzen hantiert hat. Während nur wenige Entdeckungsreisende von wilden Tieren zerrissen worden sind und kaum ein Physiker beim Betrachten des Himmels sein Augenlicht verloren hat, haben zahllose Chemiker Augen, Gliedmaßen oder sogar ihr Leben bei ihren Experimenten eingebüßt. Der junge Sacks kommt bei seinen Versuchen nicht zu Schaden, aber er darf sinnliche Erfahrungen machen, die nur wenigen offenstehen. Er kennt beispielsweise aus eigenem Erleben die olfaktorischen Unterschiede von Schwefelwasserstoff, Selenwasserstoff und Tellurwasserstoff.
Doch Sacks macht nicht nur Versuche, daß es stinkt und kracht, er interessiert sich auch für die Geschichte der Chemie und vollzieht die Gedankengänge der Begründer der modernen Chemie von Daltons Atomtheorie über Mendelejews Periodensystem der Elemente bis zum Bohrschen Atommodell nach. Die Geschichte der Chemie ist in der Meinung vieler Didaktiker der Schlüssel zu ihrem Verständnis. Oliver Sacks schildert diese Geschichte als ein beinahe siebzigjähriger Wissenschaftler und gleichzeitig auch aus der Perspektive eines staunenden Kindes. Mit dieser Zusammenfügung gelingt es ihm, die erleuchtenden Momente des Verstehens großer Zusammenhänge und die damit verbundenen Freuden dem Leser zu erschließen.
HARTMUT HÄNSEL
Oliver Sacks: "Onkel Wolfram". Erinnerungen. Aus dem Englischen von Hainer Kober. Rowohlt Verlag, Reinbek 2002. 384 S., Abb., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bei den Jugenderinnerungen von Oliver Sacks stimmt die Chemie
Der Neurologe Oliver Sacks ist mit seinen Fallgeschichten bekannt geworden, in denen er Menschen, die von der sozialen Norm abweichen, einem breiten Publikum nahegebracht hat. Jetzt berichtet uns der 1933 Geborene aus seiner Kindheit. Er wächst in einer großen Familie von naturwissenschaftlich gebildeten Menschen auf. Schon lange vor der Einschulung wird sein Interesse an Phänomenen wie Elektrizität, Magnetismus oder der Härte von Diamanten geweckt. Bereitwillig antworten Eltern, Onkel und Tanten dem Knaben auf seine Fragen. "Onkel Wolfram" - im Englischen "Uncle Tungsten" - nennt der junge Oliver Sacks seinen Lieblingsonkel Dave, denn dieser Onkel ist Inhaber der Firma Tungstalite, die Glühlampen herstellt. In den Labors der Fabrik führt der Onkel dem jungen Oliver die chemischen Reaktionen vor, mit denen das Wolfram für die Glühwendeln aus seinen Erzen gewonnen wird. Hier erhält der kleine Oliver einen ersten Eindruck von jener dunklen Welt, die sich hinter der sichtbaren Welt der Farben und Erscheinungen verbirgt.
In dieser geheimnisvollen Welt der Chemie findet sich der Knabe besser zurecht als im Umgang mit Gleichaltrigen. Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verschlägt ihn aus dem heimatlichen London in ein kleines Dorf in Mittelengland, wo er den Schikanen und Grausamkeiten der Mitschüler und Lehrer ausgesetzt ist. Nur die Beschäftigung mit Zahlen oder mit simplen Experimenten bleibt ihm aus dieser Zeit angenehm in Erinnerung. Einmal pflanzt er im Gemüsegarten der Schule zwei Reihen Radieschen und bittet Gott, die eine Reihe zu verfluchen und die andere zu segnen. Das Gemüse gedeiht jedoch in beiden Reihen gleich, woraus der junge Sacks folgert, daß es keinen Gott gebe. Wiederum vermag einzig die Naturwissenschaft seine Sehnsucht, an etwas zu glauben, zu stillen.
Erst im Sommer 1943 kehrt er in das elterliche Haus, das die Bombardierungen Londons überstanden hat, zurück. Jetzt beginnt für den Zehnjährigen der Lebensabschnitt, in dem er seiner Liebhaberei, der Chemie, frönen kann. Sein Onkel Dave weiht ihn in die Geheimnisse der Metalle ein, besonders jener hochschmelzenden Metalle, aus denen man Glühfäden für Lampen herstellt. Der Knabe beginnt aber auch Bücher zu lesen, die ihm die Grundlagen der Chemie als eine spielerisch zu entdeckende Welt voller mythischer Geheimnisse präsentieren.
Die damaligen Londoner Busfahrkarten mit aufgedruckten Buchstaben-Zahlen-Kombinationen inspirieren Sacks zu einer kuriosen Sammlung. Nachdem er seine Initialen in Form von Karten mit den Aufdrucken O 16 und S 32 erhalten hat, bemerkt er, daß diese beiden Kombinationen auch für die Elemente Sauerstoff und Schwefel mit ihren jeweiligen Atommassen stehen. Damit ist der Grundstein für eine Sammlung sämtlicher Elemente auf Busfahrkarten gelegt. Später begreift er, daß die Ordnungszahlen wichtiger sind als die Atommassen, und erstellt eine Zweitsammlung mit den Elementen von H 1 bis U 92.
Was der Junge über chemische Reaktionen hört und liest, kann er auch im spielerischen Umgang mit den Substanzen nachvollziehen, denn seine Brüder, Onkel und Eltern unterstützen ihn großzügig beim Aufbau eines eigenen Labors. Den Leser des einundzwanzigsten Jahrhunderts verwundert es immer wieder, zu welch exotischen und auch gefährlichen Substanzen der Knabe Zugang erhält. Sacks selbst spricht von der "Romantik der chemischen Versuche" und schildert seinen jungenhaften Stolz, wenn er mit diesen Substanzen hantiert hat. Während nur wenige Entdeckungsreisende von wilden Tieren zerrissen worden sind und kaum ein Physiker beim Betrachten des Himmels sein Augenlicht verloren hat, haben zahllose Chemiker Augen, Gliedmaßen oder sogar ihr Leben bei ihren Experimenten eingebüßt. Der junge Sacks kommt bei seinen Versuchen nicht zu Schaden, aber er darf sinnliche Erfahrungen machen, die nur wenigen offenstehen. Er kennt beispielsweise aus eigenem Erleben die olfaktorischen Unterschiede von Schwefelwasserstoff, Selenwasserstoff und Tellurwasserstoff.
Doch Sacks macht nicht nur Versuche, daß es stinkt und kracht, er interessiert sich auch für die Geschichte der Chemie und vollzieht die Gedankengänge der Begründer der modernen Chemie von Daltons Atomtheorie über Mendelejews Periodensystem der Elemente bis zum Bohrschen Atommodell nach. Die Geschichte der Chemie ist in der Meinung vieler Didaktiker der Schlüssel zu ihrem Verständnis. Oliver Sacks schildert diese Geschichte als ein beinahe siebzigjähriger Wissenschaftler und gleichzeitig auch aus der Perspektive eines staunenden Kindes. Mit dieser Zusammenfügung gelingt es ihm, die erleuchtenden Momente des Verstehens großer Zusammenhänge und die damit verbundenen Freuden dem Leser zu erschließen.
HARTMUT HÄNSEL
Oliver Sacks: "Onkel Wolfram". Erinnerungen. Aus dem Englischen von Hainer Kober. Rowohlt Verlag, Reinbek 2002. 384 S., Abb., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Oliver Sacks erzählt, wie er wurde, was er ist - ein Genie. Die Zeit