Ein originelles Buch voller Geschichten und Anekdoten mit unerwarteten Einsichten - ein echter Sacks!
"Wolfram" heißt der chemische Grundstoff, den man unter anderem zur Herstellung von Glühfäden braucht, und Onkel Wolfram - englisch "Uncle Tungsten" - nannte Oliver Sacks seinen Lieblingsonkel Dave. Denn dieser betrieb im Londoner Stadtteil Farringdon eine Glühbirnenfabrik, und die Besuche bei Onkel Wolfram in seiner Firma Tungstalite wurden zu prägenden Erlebnissen für den kleinen Oliver. Er war sechs Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg begann, und zwölf, als die Völkerschlacht endete - stärker als alle Kriegsereignisse beeindruckten ihn seine Erfahrungen mit Phänomenen der Natur und Technik.
"Wolfram" heißt der chemische Grundstoff, den man unter anderem zur Herstellung von Glühfäden braucht, und Onkel Wolfram - englisch "Uncle Tungsten" - nannte Oliver Sacks seinen Lieblingsonkel Dave. Denn dieser betrieb im Londoner Stadtteil Farringdon eine Glühbirnenfabrik, und die Besuche bei Onkel Wolfram in seiner Firma Tungstalite wurden zu prägenden Erlebnissen für den kleinen Oliver. Er war sechs Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg begann, und zwölf, als die Völkerschlacht endete - stärker als alle Kriegsereignisse beeindruckten ihn seine Erfahrungen mit Phänomenen der Natur und Technik.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2002Der Erfinder der Dunkelbirne
Bei den Jugenderinnerungen von Oliver Sacks stimmt die Chemie
Der Neurologe Oliver Sacks ist mit seinen Fallgeschichten bekannt geworden, in denen er Menschen, die von der sozialen Norm abweichen, einem breiten Publikum nahegebracht hat. Jetzt berichtet uns der 1933 Geborene aus seiner Kindheit. Er wächst in einer großen Familie von naturwissenschaftlich gebildeten Menschen auf. Schon lange vor der Einschulung wird sein Interesse an Phänomenen wie Elektrizität, Magnetismus oder der Härte von Diamanten geweckt. Bereitwillig antworten Eltern, Onkel und Tanten dem Knaben auf seine Fragen. "Onkel Wolfram" - im Englischen "Uncle Tungsten" - nennt der junge Oliver Sacks seinen Lieblingsonkel Dave, denn dieser Onkel ist Inhaber der Firma Tungstalite, die Glühlampen herstellt. In den Labors der Fabrik führt der Onkel dem jungen Oliver die chemischen Reaktionen vor, mit denen das Wolfram für die Glühwendeln aus seinen Erzen gewonnen wird. Hier erhält der kleine Oliver einen ersten Eindruck von jener dunklen Welt, die sich hinter der sichtbaren Welt der Farben und Erscheinungen verbirgt.
In dieser geheimnisvollen Welt der Chemie findet sich der Knabe besser zurecht als im Umgang mit Gleichaltrigen. Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verschlägt ihn aus dem heimatlichen London in ein kleines Dorf in Mittelengland, wo er den Schikanen und Grausamkeiten der Mitschüler und Lehrer ausgesetzt ist. Nur die Beschäftigung mit Zahlen oder mit simplen Experimenten bleibt ihm aus dieser Zeit angenehm in Erinnerung. Einmal pflanzt er im Gemüsegarten der Schule zwei Reihen Radieschen und bittet Gott, die eine Reihe zu verfluchen und die andere zu segnen. Das Gemüse gedeiht jedoch in beiden Reihen gleich, woraus der junge Sacks folgert, daß es keinen Gott gebe. Wiederum vermag einzig die Naturwissenschaft seine Sehnsucht, an etwas zu glauben, zu stillen.
Erst im Sommer 1943 kehrt er in das elterliche Haus, das die Bombardierungen Londons überstanden hat, zurück. Jetzt beginnt für den Zehnjährigen der Lebensabschnitt, in dem er seiner Liebhaberei, der Chemie, frönen kann. Sein Onkel Dave weiht ihn in die Geheimnisse der Metalle ein, besonders jener hochschmelzenden Metalle, aus denen man Glühfäden für Lampen herstellt. Der Knabe beginnt aber auch Bücher zu lesen, die ihm die Grundlagen der Chemie als eine spielerisch zu entdeckende Welt voller mythischer Geheimnisse präsentieren.
Die damaligen Londoner Busfahrkarten mit aufgedruckten Buchstaben-Zahlen-Kombinationen inspirieren Sacks zu einer kuriosen Sammlung. Nachdem er seine Initialen in Form von Karten mit den Aufdrucken O 16 und S 32 erhalten hat, bemerkt er, daß diese beiden Kombinationen auch für die Elemente Sauerstoff und Schwefel mit ihren jeweiligen Atommassen stehen. Damit ist der Grundstein für eine Sammlung sämtlicher Elemente auf Busfahrkarten gelegt. Später begreift er, daß die Ordnungszahlen wichtiger sind als die Atommassen, und erstellt eine Zweitsammlung mit den Elementen von H 1 bis U 92.
Was der Junge über chemische Reaktionen hört und liest, kann er auch im spielerischen Umgang mit den Substanzen nachvollziehen, denn seine Brüder, Onkel und Eltern unterstützen ihn großzügig beim Aufbau eines eigenen Labors. Den Leser des einundzwanzigsten Jahrhunderts verwundert es immer wieder, zu welch exotischen und auch gefährlichen Substanzen der Knabe Zugang erhält. Sacks selbst spricht von der "Romantik der chemischen Versuche" und schildert seinen jungenhaften Stolz, wenn er mit diesen Substanzen hantiert hat. Während nur wenige Entdeckungsreisende von wilden Tieren zerrissen worden sind und kaum ein Physiker beim Betrachten des Himmels sein Augenlicht verloren hat, haben zahllose Chemiker Augen, Gliedmaßen oder sogar ihr Leben bei ihren Experimenten eingebüßt. Der junge Sacks kommt bei seinen Versuchen nicht zu Schaden, aber er darf sinnliche Erfahrungen machen, die nur wenigen offenstehen. Er kennt beispielsweise aus eigenem Erleben die olfaktorischen Unterschiede von Schwefelwasserstoff, Selenwasserstoff und Tellurwasserstoff.
Doch Sacks macht nicht nur Versuche, daß es stinkt und kracht, er interessiert sich auch für die Geschichte der Chemie und vollzieht die Gedankengänge der Begründer der modernen Chemie von Daltons Atomtheorie über Mendelejews Periodensystem der Elemente bis zum Bohrschen Atommodell nach. Die Geschichte der Chemie ist in der Meinung vieler Didaktiker der Schlüssel zu ihrem Verständnis. Oliver Sacks schildert diese Geschichte als ein beinahe siebzigjähriger Wissenschaftler und gleichzeitig auch aus der Perspektive eines staunenden Kindes. Mit dieser Zusammenfügung gelingt es ihm, die erleuchtenden Momente des Verstehens großer Zusammenhänge und die damit verbundenen Freuden dem Leser zu erschließen.
HARTMUT HÄNSEL
Oliver Sacks: "Onkel Wolfram". Erinnerungen. Aus dem Englischen von Hainer Kober. Rowohlt Verlag, Reinbek 2002. 384 S., Abb., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bei den Jugenderinnerungen von Oliver Sacks stimmt die Chemie
Der Neurologe Oliver Sacks ist mit seinen Fallgeschichten bekannt geworden, in denen er Menschen, die von der sozialen Norm abweichen, einem breiten Publikum nahegebracht hat. Jetzt berichtet uns der 1933 Geborene aus seiner Kindheit. Er wächst in einer großen Familie von naturwissenschaftlich gebildeten Menschen auf. Schon lange vor der Einschulung wird sein Interesse an Phänomenen wie Elektrizität, Magnetismus oder der Härte von Diamanten geweckt. Bereitwillig antworten Eltern, Onkel und Tanten dem Knaben auf seine Fragen. "Onkel Wolfram" - im Englischen "Uncle Tungsten" - nennt der junge Oliver Sacks seinen Lieblingsonkel Dave, denn dieser Onkel ist Inhaber der Firma Tungstalite, die Glühlampen herstellt. In den Labors der Fabrik führt der Onkel dem jungen Oliver die chemischen Reaktionen vor, mit denen das Wolfram für die Glühwendeln aus seinen Erzen gewonnen wird. Hier erhält der kleine Oliver einen ersten Eindruck von jener dunklen Welt, die sich hinter der sichtbaren Welt der Farben und Erscheinungen verbirgt.
In dieser geheimnisvollen Welt der Chemie findet sich der Knabe besser zurecht als im Umgang mit Gleichaltrigen. Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verschlägt ihn aus dem heimatlichen London in ein kleines Dorf in Mittelengland, wo er den Schikanen und Grausamkeiten der Mitschüler und Lehrer ausgesetzt ist. Nur die Beschäftigung mit Zahlen oder mit simplen Experimenten bleibt ihm aus dieser Zeit angenehm in Erinnerung. Einmal pflanzt er im Gemüsegarten der Schule zwei Reihen Radieschen und bittet Gott, die eine Reihe zu verfluchen und die andere zu segnen. Das Gemüse gedeiht jedoch in beiden Reihen gleich, woraus der junge Sacks folgert, daß es keinen Gott gebe. Wiederum vermag einzig die Naturwissenschaft seine Sehnsucht, an etwas zu glauben, zu stillen.
Erst im Sommer 1943 kehrt er in das elterliche Haus, das die Bombardierungen Londons überstanden hat, zurück. Jetzt beginnt für den Zehnjährigen der Lebensabschnitt, in dem er seiner Liebhaberei, der Chemie, frönen kann. Sein Onkel Dave weiht ihn in die Geheimnisse der Metalle ein, besonders jener hochschmelzenden Metalle, aus denen man Glühfäden für Lampen herstellt. Der Knabe beginnt aber auch Bücher zu lesen, die ihm die Grundlagen der Chemie als eine spielerisch zu entdeckende Welt voller mythischer Geheimnisse präsentieren.
Die damaligen Londoner Busfahrkarten mit aufgedruckten Buchstaben-Zahlen-Kombinationen inspirieren Sacks zu einer kuriosen Sammlung. Nachdem er seine Initialen in Form von Karten mit den Aufdrucken O 16 und S 32 erhalten hat, bemerkt er, daß diese beiden Kombinationen auch für die Elemente Sauerstoff und Schwefel mit ihren jeweiligen Atommassen stehen. Damit ist der Grundstein für eine Sammlung sämtlicher Elemente auf Busfahrkarten gelegt. Später begreift er, daß die Ordnungszahlen wichtiger sind als die Atommassen, und erstellt eine Zweitsammlung mit den Elementen von H 1 bis U 92.
Was der Junge über chemische Reaktionen hört und liest, kann er auch im spielerischen Umgang mit den Substanzen nachvollziehen, denn seine Brüder, Onkel und Eltern unterstützen ihn großzügig beim Aufbau eines eigenen Labors. Den Leser des einundzwanzigsten Jahrhunderts verwundert es immer wieder, zu welch exotischen und auch gefährlichen Substanzen der Knabe Zugang erhält. Sacks selbst spricht von der "Romantik der chemischen Versuche" und schildert seinen jungenhaften Stolz, wenn er mit diesen Substanzen hantiert hat. Während nur wenige Entdeckungsreisende von wilden Tieren zerrissen worden sind und kaum ein Physiker beim Betrachten des Himmels sein Augenlicht verloren hat, haben zahllose Chemiker Augen, Gliedmaßen oder sogar ihr Leben bei ihren Experimenten eingebüßt. Der junge Sacks kommt bei seinen Versuchen nicht zu Schaden, aber er darf sinnliche Erfahrungen machen, die nur wenigen offenstehen. Er kennt beispielsweise aus eigenem Erleben die olfaktorischen Unterschiede von Schwefelwasserstoff, Selenwasserstoff und Tellurwasserstoff.
Doch Sacks macht nicht nur Versuche, daß es stinkt und kracht, er interessiert sich auch für die Geschichte der Chemie und vollzieht die Gedankengänge der Begründer der modernen Chemie von Daltons Atomtheorie über Mendelejews Periodensystem der Elemente bis zum Bohrschen Atommodell nach. Die Geschichte der Chemie ist in der Meinung vieler Didaktiker der Schlüssel zu ihrem Verständnis. Oliver Sacks schildert diese Geschichte als ein beinahe siebzigjähriger Wissenschaftler und gleichzeitig auch aus der Perspektive eines staunenden Kindes. Mit dieser Zusammenfügung gelingt es ihm, die erleuchtenden Momente des Verstehens großer Zusammenhänge und die damit verbundenen Freuden dem Leser zu erschließen.
HARTMUT HÄNSEL
Oliver Sacks: "Onkel Wolfram". Erinnerungen. Aus dem Englischen von Hainer Kober. Rowohlt Verlag, Reinbek 2002. 384 S., Abb., geb., 24,90 [Euro].
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Oliver Sacks erzählt, wie er wurde, was er ist - ein Genie. Die Zeit