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Produktdetails
  • Verlag: Rowohlt, Berlin
  • Seitenzahl: 320
  • Gewicht: 615g
  • ISBN-13: 9783871340826
  • Artikelnr.: 25033340
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.07.2023

Was wussten sie?

Nach dem Zweiten Weltkrieg internierten die Alliierten zehn deutsche Atomforscher auf einem Anwesen in der Nähe von Cambridge. Sechs Monate lang wurden sie abgehört. Die Protokolle der Lauschaktion liegen nun in einer erweiterten Neuauflage vor.

Kurz vor dem Abendessen am 6. August informierte ich Prof. Hahn über eine Meldung der BBC, dass eine Atombombe abgeworfen worden war. Hahn war von dieser Nachricht wie vernichtet (...) Mit Hilfe einer nicht unbeträchtlichen Menge Alkohol beruhigte er sich, und wir gingen hinunter zum Abendessen, wo er die Nachricht den versammelten Gästen bekanntgab." So beginnt Major T. H. Rittner, Offizier im Geheimdienst seiner Majestät des Königs von England, seinen Bericht über Gespräche zwischen zehn deutschen Atomforschern am Tag der Zerstörung Hiroshimas durch die amerikanische Uranbombe "Little Boy". Diese war ein Produkt des Manhattan-Projektes, dessen Leiter J. Robert Oppenheimer der Regisseur Christopher Nolan zum Thema seines gerade angelaufenen neuen Kinofilms gemacht hat (F.A.Z. vom 20. Juli).

"Wir sind in einem Wettlauf gegen die Nazis", lautet in dem Film eine Dialogzeile Cillian Murphys, der Oppenheimer spielt. Tatsächlich war auch im nationalsozialistischen Deutschland Nuklearforschung betrieben worden. Schließlich wurde die Kernspaltung dort Ende 1938 entdeckt - maßgeblich von dem erwähnten Otto Hahn. Doch es war kein Wettlauf. Man wusste nichts von dem Vorhaben der Amerikaner, und die deutsche Kerntechnik war bei Kriegsende auf einem Stand, den das Manhattan-Projekt bereits 1942 erreicht hatte. Die Frage, warum sie nicht weiter war, ist seit Langem Gegenstand einer umfangreichen publizistischen, historiographischen und auch erzählerischen Debatte, etwa im April 1991 in dem Fernsehfilm "Ende der Unschuld".

Zehn Monate nach der Ausstrahlung dieses Zweiteilers wurden Major Rittners Geheimberichte freigegeben und konnten damit mehr Licht in das Atomprogramm des Dritten Reiches bringen als alles, was bis dahin an Primärquellen veröffentlicht worden war. 1993 legte der Berliner Wissenschaftshistoriker Dieter Hoffmann den größten Teil dieser sogenannten Farm-Hall-Protokolle in einer sorgfältig kommentierten deutschen Übersetzung vor.

Es handelt sich dabei um Auszüge der abgehörten Gespräche zwischen den zehn Wissenschaftlern während ihrer Internierung vom 3. Juli 1945 bis 3. Januar 1946 in Farm Hall, einem Anwesen des britischen Geheimdienstes in der Nähe von Cambridge. Zu den Festgehaltenen gehörten neben Otto Hahn auch Werner Heisenberg, der herausragendste unter den im Reich verbliebenen deutschen Physikern, dessen enger Mitarbeiter Carl Friedrich von Weizsäcker, der Nobelpreisträger Max von Laue sowie Kurt Diebner und Walther Gerlach, die den Nuklearaktivitäten des Heereswaffenamtes respektive des Reichsforschungsrats administrativ vorstanden. Die übrigen vier waren zumeist jüngere Wissenschaftler aus Spezialgebieten wie der Isotopentrennung.

Jetzt hat Dieter Hoffmann die Farm-Hall-Protokolle in einer substanziell ergänzten Neuauflage herausgebracht. Dabei wurde der Fußnotenapparat auf den Stand der Forschung gebracht. Wichtiger aber sind gut achtzig neu hinzugekommenen Seiten mit weiteren Dokumenten. Es handelt sich dabei um Tagebucheintragungen und persönliche Korrespondenz von sechs der zehn Wissenschaftler, die - abgesehen von zwei Briefen Laues aus dem Jahr 1959 - alle im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit der Internierung entstanden sind.

Denn die archivierten Originalprotokolle des englischen Geheimdienstes haben einen Umfang von kaum dreihundert Schreibmaschinenseiten. Das entspricht gerade einmal dem, was an einem Tag hätte aufgezeichnet werden können, die Internierung dauerte aber ein halbes Jahr. Die Engländer hatten also von den auf Metallplatten mitgeschnittenen Tonaufnahmen, die leider nicht erhalten sind, nur einen kleinen Teil transkribiert und übersetzt. Die Überlieferung ist also äußerst selektiv und bildet ganz das Interesse der britischen Geheimdienststellen und ihrer amerikanischen Partner ab.

Die aber wollten keine historischen Quellen sichern, sondern die ihnen damals wichtigen Fragen klären: Was waren diese deutschen Atomforscher für Leute? Waren sie an Kriegsverbrechen beteiligt gewesen? Hatten sie in den Verhören, die dem Aufenthalt in Farm Hall vorausgingen, etwas verschwiegen? Welchen Stand hatte ihr kerntechnisches Wissen? Auch war die Abhöraktion kaum das einzige Motiv für die Internierung. Bis zum Abwurf der Bombe über Hiroshima am 6. August 1945 ging es den Amerikanern vor allem darum, das Thema Kernwaffe strikt von der Öffentlichkeit fernzuhalten, weswegen die deutschen Forscher abgeschirmt werden mussten. Nach Hiroshima galt es wiederum, einer Abwerbung oder Entführung der Leute durch die Sowjets vorzubeugen.

Die in der Neuauflage ergänzten Dokumente fügen nun der Perspektive der alliierten Geheimdienste eine ihrer deutschen "Gäste" hinzu. Das macht die Situation, in der sich die zehn Forscher befanden, für den Leser noch einmal plastischer. Oft steht dort ihre Sorge um die Familien in Deutschland im Vordergrund, zu denen sie bis zum 6. August gar keinen Kontakt hatten und danach nur sporadisch und mit langen Verzögerungen. So ist es anrührend zu lesen, wie Walther Gerlach im Juni 1945, als er noch in Frankreich festgehalten wurde, seiner Frau auf Englisch schreibt, vielleicht in der Hoffnung auf eine schnellere Abfertigung der Briefe durch die Zensur.

Ein anderes Thema ist die Ungewissheit der Festgehaltenen über ihre Zukunft. Bereits die Erstauflage des vorliegenden Buches enthielt ein 1992 geführtes Interview mit Carl Friedrich von Weizsäcker und einen Limerick, den dieser im Herbst 1945 verfasste: "Es waren zehn Forscher in Farm Hall / Die galten für fürchterlich harmvoll. / Beim Jüngsten Gericht / Erschienen sie nicht, / denn sie saßen noch immer in Farm Hall."

Für viele historische Fragen sind die Abhörprotokolle selbst natürlich nach wie vor die wichtigere Quelle, geben sie doch Auskunft über das Verhältnis der Forscher zum NS-Regime und die Kompromisse, die man eingegangen war. "Die Argumentationslinien, oder besser gesagt, die Rechtfertigungen, die in diesem Zusammenhang von einzelnen verfolgt wurden, erinnern in vielem an die Diskussionen, die in der einstigen DDR während der neunziger Jahre u. a. im Zusammenhang mit der ,Abwicklung' von Wissenschaftlern und anderen Personengruppen geführt wurden", schreibt Dieter Hoffmann, selbst ehemaliger DDR-Bürger.

Auch bleiben die Lauschprotokolle einschlägig für die ganz große Frage: Warum war das deutsche Atomprogramm nicht weitergekommen? Konnten Heisenberg und die anderen keine Bombe bauen oder wollten sie es nicht? Und wenn sie es nicht konnten, lag das nur an den widrigen Umständen - den alliierten Bombardements oder dem mangelnden Interesse der Naziführung, die ihre seit 1943 schwindenden Ressourcen lieber Projekten wie Wernher von Brauns Raketen zuführte - oder auch daran, dass sie nicht clever genug waren?

Hier ist einer von zwei Abschnitten abgehörter Gespräche von Bedeutung, die in der Edition von 1993 noch nicht enthalten waren, in der Neuauflage aber aufgenommen sind, sodass die Protokolle nun vollständig in einer Ausgabe auf Deutsch vorliegen. Es handelt sich um einen Vortrag, in dem Heisenberg am 14. August 1945 seinen Mitinternierten in erstaunlichem, um nicht zu sagen erschreckendem Detail erläutert, wie die amerikanische Uranbombe funktioniert haben muss. Der Vortrag steht in frappierendem Kontrast zu Heisenbergs Reaktion auf die Nachricht vom Abwurf über Hiroshima acht Tage zuvor. Die hatte er mit nichts als Unglauben aufgenommen, einen neuartigen chemischen Sprengstoff dahinter vermutet oder einen Bluff der Amerikaner.

Gekonnt hätten die deutschen Kernphysiker es also wohl, wären ihnen die Mittel gegeben worden - aber wollten sie es auch? Dass sie es eigentlich nicht wollten, sondern nur an einer Uranmaschine zur Energiegewinnung arbeiteten, einem Kernreaktor also, und sei es am Ende nur, um sich und ihre Mitarbeiter vor dem Frontdienst zu bewahren oder um etwas in der Hand zu haben, mit dem sich die deutsche Wissenschaft über den Untergang des nationalsozialistischen Regimes hinwegretten ließ - diese Erzählung wurde zu einem Gründungsmythos der deutschen Nachkriegsphysik.

Zurückverfolgen lässt sie sich bis nach Farm Hall am Tag von Hiroshima. "Wenn wir die Sache rechtzeitig genug angefangen hätten, hätten wir es irgendwie schaffen können", sagte Carl Friedrich von Weizsäcker da. "Ich meine, wir sollten uns jetzt nicht in Rechtfertigungen ergehen, weil es uns nicht gelungen ist, vielmehr müssen wir zugeben, dass wir gar nicht wollten, daß die Sache gelingt."

Damit zeigen die Farm-Hall-Protokolle auch, wie hier eine wissenschaftlich-technische Niederlage moralisch vergoldet werden sollte. Nicht zuletzt der Vortrag Heisenbergs belegt, dass diese Niederlage weniger mit Inkompetenz zu tun hatte als damit, dass man unter den Nationalsozialisten nicht das Budget von zwei Milliarden Dollar (32 Milliarden nach heutiger Kaufkraft) und die vielen Tausend Mitarbeiter zur Verfügung hatte, die dem Manhattan-Projekt zu Gebote standen.

Doch dass man an eine Bombe gar nicht dachte, das stimmt auch nicht. Noch am Abend von Hiroshima diskutieren die Internierten über ihre früheren Abschätzungen der kritischen Masse und die von ihnen eindeutig nicht zum ersten Mal erwogene Möglichkeit, in einem Reaktor ein waffenfähiges Transuran zu erbrüten, um das schwierige Problem der Trennung der Uranisotope zu umgehen. Auf diesem Weg hatten Oppenheimers Leute die zweite, auf Nagasaki abgeworfene Atombombe gebaut. ULF VON RAUCHHAUPT

Dieter Hoffmann (Hrsg.): "Operation Epsilon". Die Farm-Hall-Protokolle erstmals vollständig, ergänzt um zeitgenössische Briefe und weitere Dokumente der 1945 in England internierten deutschen Atomforscher.

GNT-Verlag, Berlin 2023. 588 S., Abb., geb., 44,80 Euro.

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