In 'Weltbürger und Pilger' bietet Imre Kertész eine moderne Interpretation der Geschichte aus dem Alten Testament; es geht um die Konkurrenz von Lebenskunst und Apathie, von melancholischer Eleganz und gewalttätigem Neid, eine Konkurrenz, die im Mord gipfelt, den Täter aber nicht erlöst, sondern sein Elend nur verlängert. 'Ich, der Henker' enthält den ersten Prosatext, den Kertész schrieb, bevor er 1960 die Arbeit an seinem großen 'Roman eines Schicksallosen' aufnahm. Wir werden mit zwei Männern konfrontiert, die ihrer Sache, ihrer Geschichte, ihrer Schuld bzw. Unschuld absolut sicher sind. Der überraschende Schluß beweist die Fragwürdigkeit moralischer Überlegenheit: die biographisch schlüssigen Rechtfertigungen des Henkers provozieren die Erkenntnis seines Gegenübers, dessen 'besseres' Leben sei nichts anderes als die Summe zufälliger Umstände. In den beiden Texten über Berlin und Budapest wird die existentielle Frage, wo will ich leben, auf biographisch erhellende und faszinierende Weise gelöst - auch hier der Kontrast zwischen den Zwängen eines diktierten Lebens und dem ersehnten Genuß von Freiheit. In diesen vier Texten (entstanden zwischen 1958 und 2001) beweist sich Kertész als genauer Erzähler existentieller Konflikte und verblüffender Einsichten.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.05.2007Das Wort „Vielleicht”
Da Dostojewski tot ist: Imre Kertész’ „Opfer und Henker”
Für gewöhnlich sind einzelne nachgedruckte Artikel aus dem Œuvre eines großen Autors bestenfalls bibliophile Schmuckstücke, unwesentliche Ergänzungen des Werks. Für die Texte des Nobelpreisträgers Imre Kertész, die der Transit Verlag unter dem Titel „Opfer und Henker” publiziert, gilt das nicht: Die Auswahl ist nicht bloß schön aufgemacht, sie hat überdies einen Sinn.
Imre Kertész hat das KZ nicht überlebt, um hinterher davon zu künden, wie schlimm das KZ gewesen sei. Er hat seine Niedermachung im Lager sowie die Gleichschaltung des Denkens und des Seins, die er nach 1945 in Ungarn erlebte, mit allem abgeglichen, was die Religion, die Philosophie und die Literatur dazu zu sagen hatten. Wie denkt das Opfer? Wie denkt der Henker? Davon handeln die Texte dieses Buches.
Es beginnt mit einer Kurzgeschichte, die Kertész für die Zeitschrift Du verfasst hat: Darin erzählt er – ganz nah an der Bibel – von Kains Auseinandersetzung mit Gott, nachdem jener den Bruder erschlagen hat. Es ist eine sehr witzige Geschichte, in der Gott am Ende unterliegt, weil er seinen eigenen Prinzipien ja treu bleiben muss (und weil Kertész an einer Stelle des Dialogs theologisch schummelt). Der Henker ist immer der Sieger, und irgendwie bleibt er es, ob er auch gleich nach vollbrachter Tat selbst gehenkt werden mag. Das ist das eine Thema, um das die fünf hier versammelten Texte sich drehen. Die notwendige Podiumsdiskussion zwischen Imre Kertész und Fjodor Dostojewski wird bedauerlicherweise nicht stattfinden.
Das zweite Thema handelt vom Überleben: Was macht das Opfer? Wie erträgt man es, der Hinterbliebene, die Nachgeburt der eigenen Henker zu sein? Gegenüber dem Budapest seiner Jugend hegt Kertész keine Nostalgie, „nicht einmal einen Hauch”. In Berlin hingegen fühlt er sich recht wohl. Warum? Da befindet er sich in einer fremden, ihm kulturell aber nahen Stadt. Und er fügt an: „Vielleicht kann ich sagen, dass ich das Grauen, das Deutschland über die Welt gebracht hat, fünfzig Jahre später teilweise mit den Mitteln der deutschen Kultur verarbeitet und den Deutschen in der Form von Kunst zurückgegeben habe.” Das entscheidende Wort in diesem Satz ist das Wort „vielleicht”. Keinesfalls würde es Imre Kertész einfallen, etwas zu behaupten. FRANZISKA AUGSTEIN
IMRE KERTÉSZ: Opfer und Henker. Aus dem Ungarischen von Christian Polzin, Ilma Rakusa, Agnes Relle und Kristin Schwamm. Transit Buchverlag, Berlin 2007. 86 Seiten, 14, 80 Euro.
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Da Dostojewski tot ist: Imre Kertész’ „Opfer und Henker”
Für gewöhnlich sind einzelne nachgedruckte Artikel aus dem Œuvre eines großen Autors bestenfalls bibliophile Schmuckstücke, unwesentliche Ergänzungen des Werks. Für die Texte des Nobelpreisträgers Imre Kertész, die der Transit Verlag unter dem Titel „Opfer und Henker” publiziert, gilt das nicht: Die Auswahl ist nicht bloß schön aufgemacht, sie hat überdies einen Sinn.
Imre Kertész hat das KZ nicht überlebt, um hinterher davon zu künden, wie schlimm das KZ gewesen sei. Er hat seine Niedermachung im Lager sowie die Gleichschaltung des Denkens und des Seins, die er nach 1945 in Ungarn erlebte, mit allem abgeglichen, was die Religion, die Philosophie und die Literatur dazu zu sagen hatten. Wie denkt das Opfer? Wie denkt der Henker? Davon handeln die Texte dieses Buches.
Es beginnt mit einer Kurzgeschichte, die Kertész für die Zeitschrift Du verfasst hat: Darin erzählt er – ganz nah an der Bibel – von Kains Auseinandersetzung mit Gott, nachdem jener den Bruder erschlagen hat. Es ist eine sehr witzige Geschichte, in der Gott am Ende unterliegt, weil er seinen eigenen Prinzipien ja treu bleiben muss (und weil Kertész an einer Stelle des Dialogs theologisch schummelt). Der Henker ist immer der Sieger, und irgendwie bleibt er es, ob er auch gleich nach vollbrachter Tat selbst gehenkt werden mag. Das ist das eine Thema, um das die fünf hier versammelten Texte sich drehen. Die notwendige Podiumsdiskussion zwischen Imre Kertész und Fjodor Dostojewski wird bedauerlicherweise nicht stattfinden.
Das zweite Thema handelt vom Überleben: Was macht das Opfer? Wie erträgt man es, der Hinterbliebene, die Nachgeburt der eigenen Henker zu sein? Gegenüber dem Budapest seiner Jugend hegt Kertész keine Nostalgie, „nicht einmal einen Hauch”. In Berlin hingegen fühlt er sich recht wohl. Warum? Da befindet er sich in einer fremden, ihm kulturell aber nahen Stadt. Und er fügt an: „Vielleicht kann ich sagen, dass ich das Grauen, das Deutschland über die Welt gebracht hat, fünfzig Jahre später teilweise mit den Mitteln der deutschen Kultur verarbeitet und den Deutschen in der Form von Kunst zurückgegeben habe.” Das entscheidende Wort in diesem Satz ist das Wort „vielleicht”. Keinesfalls würde es Imre Kertész einfallen, etwas zu behaupten. FRANZISKA AUGSTEIN
IMRE KERTÉSZ: Opfer und Henker. Aus dem Ungarischen von Christian Polzin, Ilma Rakusa, Agnes Relle und Kristin Schwamm. Transit Buchverlag, Berlin 2007. 86 Seiten, 14, 80 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Neu, schickt Jörg Platz seiner kurzen Besprechung dieses Bandes vorweg, sind diese Essays des ungarischen Nobelpreiträgers Imre Kertesz nicht. Der älteste, im Stil einer Selbstrechtfertigung verfasste Text stammt aus den fünfziger Jahren, der jüngste aus dem Jahr 1998. Und doch hat den Rezensenten verwundert, wie ausschließlich sie alle "um die gleiche Frage kreisen": Immer geht es, so Plath berührt, um die Selbsterforschung, den Verlust der Persönlichkeit im Nationalsozialismus und ihre ästhetische Bearbeitung.
© Perlentaucher Medien GmbH
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