Friedrich Kittlers Vorlesung liefert eine konzise Geschichte der optischen Medien, die von der Camera obscura und Albertis Linearperspektive bis zu neuesten Entwicklungen der Fernsehtechnik und Computergraphik reicht. Es geht um Künste und Techniken als zwei sehr unterschiedlichen Weisen, die Grenzen der Sichtbarkeit zu verschieben; aber auch um die Effekte, die die Entwicklung des Films auf das uralte Speichermonopol der Schrift gehabt hat. Kurz, eine medienhistorische Einführung in die technischen Aprioris der Bildproduktion.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.12.2002Alle vergreifen sich an Heeresgut
Friedrich Kittler sieht dem bewaffneten Blick des Menschen ins Auge / Von Andreas Platthaus
Friedrich Kittler übersetzt das cartesianische Cogito ungewöhnlich, aber auf Heideggersche Art zutreffend: "Ich bin, weil ich vorstellen kann, was auch immer sich mir vorstellt." Dieses "ich" muß man ernst nehmen, denn genauso handelt Kittler. Und als medienversierter Mann weiß er natürlich auch, daß es der Vorstellungen gar nicht genug geben kann - vor allem nicht jener, die wir aus seiner doppeldeutigen Formulierung als "Präsentation" erschließen dürfen. Die Konsequenz wird konsequent verfolgt: Kittler tut alles, um sich im Scheinwerferlicht zu bewähren.
Wer würde denn heute noch eine Vorlesung als wortwörtliche Mitschrift publizieren, inklusive aller der Redesituation geschuldeten rhetorischen Floskeln? Doch im neuesten Buch des Medienästhetikers an der Humboldt-Universität, das selbstbewußt den Untertitel "Berliner Vorlesung 1999" trägt, finden sich vorbereitete Pointen wie "Insofern ist die Geschichte der optischen Medien eine Geschichte des Verschwindens. Was auch mir die Freiheit gibt, für heute zu verschwinden." Sprach's und wird wohl den Hörsaal verlassen haben. Oder so: "Ich beginne das neue Jahr, das letzte dieses Jahrtausends, mit dem Wunsch, daß es für sie alle gut begonnen hat, und auch gut weitergeht." Sprach's und wird wohl die Vorlesung wiederaufgenommen haben. Was ein Lektorat gemeinhin streichen müßte, wird bei Kittler zur Beschwörung des Übergangs vom akustischen ins optische Medium, wie er ihn als einen Grundzug seiner Mediengeschichte begreift. Die Vorlesung selbst, die, wie er sagt, "altmodisch offene Ohren" braucht, wird als Buch zu einem optischen Medium, zu einem Ereignis, bei dem das Schriftbild nachinszeniert, was Kittler im Hörsaal erzählt hat - potenzierte Präsentation. Und so müßte der Untertitel des Bands konsequenterweise heißen "Berliner Vorstellung".
Tat's und versammelte auf gedrängtem Raum die Menschheitsgeschichte als Panoptikum der Sichtbarmachung, als Weg vom Höhlenbild bis zur Moderne. Dabei ist Kittler konservativer, als man meinen sollte, denn seine Mediengeschichte kulminiert im Film (auch wenn Computeroberflächen noch Erwähnung finden, aber sie werden lediglich als Abbilder des eckigen Kamerablicks gedeutet und sind dadurch keiner weiteren Analyse wert; warum, dazu gleich mehr). So läuft denn genau das halbe Buch auf die Entwicklung der Fotografie hinaus, und die andere Hälfte beobachtet dann deren Animation durch Bewegung, Vertonung und Einfärbung. Daß Vertiefung (im räumlichen Sinne) keine Rolle mehr für Kittler spielt, ist angesichts der Experimente mit dreidimensionalen Zeichentrickfilmen oder virtueller Realität irritierend, und es muß überraschen, daß der Autor diesbezüglich feststellt: "Die digitale Bildverarbeitung fällt also, gerade weil sie im Gegensatz zu hergebrachten Künsten gar keine Abbildung sein will, mit dem Reellen zusammen." Natürlich konnte er 1999 noch nicht die Documenta des Jahres 2002 vorausahnen, aber ein bequemerer Ausweg als das Kittlersche Abbildungsverbot für eine ganze Gattung optischer Medien ist kaum vorstellbar.
Dieser Digitaloklasmus erklärt sich freilich, wenn man die "Berliner Vorlesung" ergänzt: um eine weitere Vorstellung Kittlers, die in der "Short Cuts"-Reihe des Verlags Zweitausendeins zeitgleich erschienen ist. Diese Buchreihe versammelt verstreute Texte von Theoretikern (Kittler steht als sechster Autor, dem ein solcher Band gewidmet wird, in der ihm sicher äußerst angenehmen Nachfolge von Gilles Deleuze, Heinz von Foerster, Michel Foucault, Niklas Luhmann und Clément Rosset), die zu "Werkzeugkisten", wie der Verlag das nennt, zusammengestellt werden sollen, aus denen die Leser dann das ihnen Genehme zum Einstieg ins große Werk der klugen Herren wählen mögen. Tatsache ist, daß die Werkzeuge, die Kittler hier zur Verfügung stellt, tatsächlich manche Schraube der "Berliner Vorlesung" wieder fester anziehen.
So wird im bereits 1992 mit Peter Weibel geführten Gespräch deutlich, daß sich Kittlers theoretische Vernachlässigung des Computerbildschirms seinem Abscheu vor der Banalisierung verdankt, die der Personal-Computer durchlaufen hat, indem er "anwenderorientiert" wurde. Kittler sieht in all den Desktop-Oberflächen eine Strategie am Werk, die immer mehr von den Quellprogrammen wegführt und somit ein neues Arkanwissen schafft. Das Bild, das der Computer zeigt, ist Lüge, weil es all das verdeckt, was das Gerät tatsächlich kann. Wer, so fragt Kittler wiederholt, beherrscht denn heute noch die Programmiersprachen - und damit die Maschinen? Im Zweifelsfalle nur noch die Institution, die dafür sorgte, daß es überhaupt Computer gibt, die aber nicht verhindern konnte, daß diese Technik sich ausbreitete: das Militär.
Damit wird schlüssig, warum Kittler auf die Einbeziehung der Computertechnik in seine Geschichte der optischen Medien verzichtet, warum der Film für ihn ein Endpunkt ist: weil nun die große Täuschung ansetzt. Doch leider täuscht er selbst hinter der schönen Oberfläche seiner Vorlesung kaum weniger. Dieser Eindruck speist sich zunächst nur aus dem sorglosen Umgang mit Fakten: Da wird der erste Tonfilm "The Jazz Singer" (der das natürlich gar nicht war; es war der erste erfolgreiche Film seiner Art) zwei Jahre zu spät auf 1929 datiert. Es wird behauptet, daß die Vereinigten Staaten im Zweiten Weltkrieg keine Luftangriffe gefürchtet hätten - ausgerechnet der Staat, der nach einem Luftangriff auf das eigene Territorium in den Krieg eintrat und bevor er noch einen einzigen Soldaten nach Übersee entsandte, die ganze Westküste mit Frühwarnstationen überzog. Die Wehrmacht soll auf erbeuteten Schiffen Filme in amerikanischem Technicolor "entdeckt" haben, also in einem Verfahren, das seit 1932 in Anwendung und längst regulär auch nach Deutschland exportiert worden war. Der Pointe halber strapaziert Kittler die Geschichte ganz enorm.
Seine Hauptpointe aber, und das schon seit Jahren, ist der bereits erwähnte Zusammenhang von Krieg und der Entwicklung optischer Medien. Aller Fortschritt auf diesem Feld verdanke sich seit der Renaissance, als die Universalgenies revolutionäre Festungen planten und ebensolche Bilder malten, dem militärischen Interesse an Beobachtung und Planung. Für beides sind optische Medien, die Bewaffnung des Blicks, entscheidend. Kittler beschreibt äußerst kurzweilig, wie alle Androhung von Strafen für den, der sich an Heeresgerät vergreift - eine Formulierung, die er bereits 1988 zum Mittelpunkt eines Aufsatzes machte und die elf Jahre danach die ganze Vorlesung akzentuiert -, nicht verhindern konnte, daß gerade im zwanzigsten Jahrhundert das Potential militärischer Forschung immer wieder nutzbar gemacht werden konnte für Zivilprodukte (der Computer ist dafür nur ein aktuelles Beispiel). In den deutschen Wirren nach dem Ersten Weltkrieg hatten die Kasernen praktisch permanent ihren offenen Tag, und so entwickelte sich gerade in Deutschland eine avancierte Filmindustrie, die sich der abgerüsteten militärischen Geräte bediente. Gleiches galt nach Kittler einen Weltkrieg später für die Vereinigten Staaten, die dann die Fernsehtechnik perfektionieren konnten, weil sie nicht wie die Europäer gezwungen waren, alle entsprechende Forschung auf die Radartechnik zu konzentrieren. In dem Aufsatz "Krieg im Schaltkreis" von 2000 ist diese Behauptung übrigens wesentlich schlüssiger belegt als in der Vorlesung.
Einen Nachteil jedoch haben all diese geistvollen Überlegungen: ihren Fokus. Daß Kittler den europäischen Blick, der tatsächlich der einer konsequenten Abbildung von Wahrnehmung ist, als alleinige Maxime seiner Technikgeschichtsschreibung einsetzt, kann man angesichts seiner Gleichsetzung von künstlerischen mit militärischen Interessen verstehen. Es wäre indes auch interessant zu wissen, wie Kulturen, die sich bis in die Moderne gar nicht darum bemüht haben, perspektivengerecht zu zeichnen, und trotzdem nicht eben als friedlich galten, zeitweise reüssieren konnten (man denke an Mongolen, Japaner, Araber). Doch das ist eine Frage, die an Kittlers epistemologisches Selbstverständnis rührt.
Wie denn das? Kittler hat zweifellos zur Popularisierung des Zusammenhangs von Krieg und Optik so viel beigetragen wie sonst bestenfalls noch Paul Virilio. Daß sich diese beiden Theoretiker dafür wechselseitig bewundern, ist nur zu verständlich und tritt auf schöne Weise in einem Gespräch zutage, für das der Kultursender Arte Virilio und Kittler 1995 zusammenbrachte und dessen Mitschrift jetzt in die "Short Cuts" eingegangen ist. Dort wurden, vier Jahre vor der "Berliner Vorlesung", fast alle deren Themen bereits angesprochen, und wie sich Virilio und Kittler dabei die Bälle zuspielen, ist faszinierend. Doch Virilios Pässe erhalten regelmäßig Effet, weil der Franzose weniger Tordrang verspürt als vielmehr der Schönheit des Spiels erlegen ist, während Kittler grundsätzlich den geraden Weg sucht. Das ist auch der Nachteil seiner Vorlesung zur Mediengeschichte. Die eingestandene Bewunderung für Hegel (dessen Berliner Vorlesungen, die nach dem Tod des Philosophen als Mitschriften erschienen, Kittler zu seinem Titel angeregt haben dürften) läßt bei Kittler eine Teleologie entstehen, die etwas rührend Altmodisches hat - als sei die Geschichte der optischen Medien mit Film und Fernsehen tatsächlich an ihren Abschluß gelangt. Den Mut zu solcher Vorstellung hat in der Tat seit 170 Jahren kaum ein Denker mehr gehabt.
Und so steht Kittler denn in einer idealistischen Tradition deutscher Geistesgeschichte, die längst für ausgestorben galt. Er denkt die Geschichte zu Ende. Jenseits von ihr, das wissen wir von Heidegger, kann uns nur noch ein Gott retten. Das hat mit Medien wenig, mit Metaphysik alles gemein. Doch siehe da: Kittler hat Götter parat. Sie stecken im Computer - ghosts in the machines. Es sind die Programme: "Sie tun immer etwas für einen, wie die Engel des Mittelalters", so erzählt er Virilio. Zwei Zukunftsszenarien kennt er: "eines, das mit Lévi-Strauss gesprochen die Menschen ausspuckt, das wäre die Computertechnologie, und das andere, das die Menschen auffrißt, das wäre die Gentechnologie. Und erstere ist mir lieber, weil es dann Götter gibt auf der einen Seite, oder Dämonen, und auf der anderen Seite Menschen, die es immer schon gab." Die neuen Götter, sie stecken also im Rechner. Alexander Kluge fragt den Propheten deshalb, gleichfalls in "Short Cuts", einigermaßen entgeistert: "Und Sie sagen als Heide, Herr Kittler, die sind heute noch genau so tätig?" Und der Heide antwortet einfach: "Ja." Man ist fast versucht, es diesem Gläubigen zu glauben. Deshalb könnte sein Buch "Optische Medien" auch einen anderen Untertitel tragen, der dem Phänomen wie den etymologischen Finessen des Autors gerecht würde: "Berliner Vorsehung".
Friedrich Kittler: "Optische Medien". Berliner Vorlesung 1999. Merve Verlag, Berlin 2002. 331 S., br., 16,70 [Euro].
Friedrich Kittler: "Short Cuts". Verlag Zweitausendeins, Frankfurt am Main 2002. 292 S., 3 Abb., geb., 13,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Friedrich Kittler sieht dem bewaffneten Blick des Menschen ins Auge / Von Andreas Platthaus
Friedrich Kittler übersetzt das cartesianische Cogito ungewöhnlich, aber auf Heideggersche Art zutreffend: "Ich bin, weil ich vorstellen kann, was auch immer sich mir vorstellt." Dieses "ich" muß man ernst nehmen, denn genauso handelt Kittler. Und als medienversierter Mann weiß er natürlich auch, daß es der Vorstellungen gar nicht genug geben kann - vor allem nicht jener, die wir aus seiner doppeldeutigen Formulierung als "Präsentation" erschließen dürfen. Die Konsequenz wird konsequent verfolgt: Kittler tut alles, um sich im Scheinwerferlicht zu bewähren.
Wer würde denn heute noch eine Vorlesung als wortwörtliche Mitschrift publizieren, inklusive aller der Redesituation geschuldeten rhetorischen Floskeln? Doch im neuesten Buch des Medienästhetikers an der Humboldt-Universität, das selbstbewußt den Untertitel "Berliner Vorlesung 1999" trägt, finden sich vorbereitete Pointen wie "Insofern ist die Geschichte der optischen Medien eine Geschichte des Verschwindens. Was auch mir die Freiheit gibt, für heute zu verschwinden." Sprach's und wird wohl den Hörsaal verlassen haben. Oder so: "Ich beginne das neue Jahr, das letzte dieses Jahrtausends, mit dem Wunsch, daß es für sie alle gut begonnen hat, und auch gut weitergeht." Sprach's und wird wohl die Vorlesung wiederaufgenommen haben. Was ein Lektorat gemeinhin streichen müßte, wird bei Kittler zur Beschwörung des Übergangs vom akustischen ins optische Medium, wie er ihn als einen Grundzug seiner Mediengeschichte begreift. Die Vorlesung selbst, die, wie er sagt, "altmodisch offene Ohren" braucht, wird als Buch zu einem optischen Medium, zu einem Ereignis, bei dem das Schriftbild nachinszeniert, was Kittler im Hörsaal erzählt hat - potenzierte Präsentation. Und so müßte der Untertitel des Bands konsequenterweise heißen "Berliner Vorstellung".
Tat's und versammelte auf gedrängtem Raum die Menschheitsgeschichte als Panoptikum der Sichtbarmachung, als Weg vom Höhlenbild bis zur Moderne. Dabei ist Kittler konservativer, als man meinen sollte, denn seine Mediengeschichte kulminiert im Film (auch wenn Computeroberflächen noch Erwähnung finden, aber sie werden lediglich als Abbilder des eckigen Kamerablicks gedeutet und sind dadurch keiner weiteren Analyse wert; warum, dazu gleich mehr). So läuft denn genau das halbe Buch auf die Entwicklung der Fotografie hinaus, und die andere Hälfte beobachtet dann deren Animation durch Bewegung, Vertonung und Einfärbung. Daß Vertiefung (im räumlichen Sinne) keine Rolle mehr für Kittler spielt, ist angesichts der Experimente mit dreidimensionalen Zeichentrickfilmen oder virtueller Realität irritierend, und es muß überraschen, daß der Autor diesbezüglich feststellt: "Die digitale Bildverarbeitung fällt also, gerade weil sie im Gegensatz zu hergebrachten Künsten gar keine Abbildung sein will, mit dem Reellen zusammen." Natürlich konnte er 1999 noch nicht die Documenta des Jahres 2002 vorausahnen, aber ein bequemerer Ausweg als das Kittlersche Abbildungsverbot für eine ganze Gattung optischer Medien ist kaum vorstellbar.
Dieser Digitaloklasmus erklärt sich freilich, wenn man die "Berliner Vorlesung" ergänzt: um eine weitere Vorstellung Kittlers, die in der "Short Cuts"-Reihe des Verlags Zweitausendeins zeitgleich erschienen ist. Diese Buchreihe versammelt verstreute Texte von Theoretikern (Kittler steht als sechster Autor, dem ein solcher Band gewidmet wird, in der ihm sicher äußerst angenehmen Nachfolge von Gilles Deleuze, Heinz von Foerster, Michel Foucault, Niklas Luhmann und Clément Rosset), die zu "Werkzeugkisten", wie der Verlag das nennt, zusammengestellt werden sollen, aus denen die Leser dann das ihnen Genehme zum Einstieg ins große Werk der klugen Herren wählen mögen. Tatsache ist, daß die Werkzeuge, die Kittler hier zur Verfügung stellt, tatsächlich manche Schraube der "Berliner Vorlesung" wieder fester anziehen.
So wird im bereits 1992 mit Peter Weibel geführten Gespräch deutlich, daß sich Kittlers theoretische Vernachlässigung des Computerbildschirms seinem Abscheu vor der Banalisierung verdankt, die der Personal-Computer durchlaufen hat, indem er "anwenderorientiert" wurde. Kittler sieht in all den Desktop-Oberflächen eine Strategie am Werk, die immer mehr von den Quellprogrammen wegführt und somit ein neues Arkanwissen schafft. Das Bild, das der Computer zeigt, ist Lüge, weil es all das verdeckt, was das Gerät tatsächlich kann. Wer, so fragt Kittler wiederholt, beherrscht denn heute noch die Programmiersprachen - und damit die Maschinen? Im Zweifelsfalle nur noch die Institution, die dafür sorgte, daß es überhaupt Computer gibt, die aber nicht verhindern konnte, daß diese Technik sich ausbreitete: das Militär.
Damit wird schlüssig, warum Kittler auf die Einbeziehung der Computertechnik in seine Geschichte der optischen Medien verzichtet, warum der Film für ihn ein Endpunkt ist: weil nun die große Täuschung ansetzt. Doch leider täuscht er selbst hinter der schönen Oberfläche seiner Vorlesung kaum weniger. Dieser Eindruck speist sich zunächst nur aus dem sorglosen Umgang mit Fakten: Da wird der erste Tonfilm "The Jazz Singer" (der das natürlich gar nicht war; es war der erste erfolgreiche Film seiner Art) zwei Jahre zu spät auf 1929 datiert. Es wird behauptet, daß die Vereinigten Staaten im Zweiten Weltkrieg keine Luftangriffe gefürchtet hätten - ausgerechnet der Staat, der nach einem Luftangriff auf das eigene Territorium in den Krieg eintrat und bevor er noch einen einzigen Soldaten nach Übersee entsandte, die ganze Westküste mit Frühwarnstationen überzog. Die Wehrmacht soll auf erbeuteten Schiffen Filme in amerikanischem Technicolor "entdeckt" haben, also in einem Verfahren, das seit 1932 in Anwendung und längst regulär auch nach Deutschland exportiert worden war. Der Pointe halber strapaziert Kittler die Geschichte ganz enorm.
Seine Hauptpointe aber, und das schon seit Jahren, ist der bereits erwähnte Zusammenhang von Krieg und der Entwicklung optischer Medien. Aller Fortschritt auf diesem Feld verdanke sich seit der Renaissance, als die Universalgenies revolutionäre Festungen planten und ebensolche Bilder malten, dem militärischen Interesse an Beobachtung und Planung. Für beides sind optische Medien, die Bewaffnung des Blicks, entscheidend. Kittler beschreibt äußerst kurzweilig, wie alle Androhung von Strafen für den, der sich an Heeresgerät vergreift - eine Formulierung, die er bereits 1988 zum Mittelpunkt eines Aufsatzes machte und die elf Jahre danach die ganze Vorlesung akzentuiert -, nicht verhindern konnte, daß gerade im zwanzigsten Jahrhundert das Potential militärischer Forschung immer wieder nutzbar gemacht werden konnte für Zivilprodukte (der Computer ist dafür nur ein aktuelles Beispiel). In den deutschen Wirren nach dem Ersten Weltkrieg hatten die Kasernen praktisch permanent ihren offenen Tag, und so entwickelte sich gerade in Deutschland eine avancierte Filmindustrie, die sich der abgerüsteten militärischen Geräte bediente. Gleiches galt nach Kittler einen Weltkrieg später für die Vereinigten Staaten, die dann die Fernsehtechnik perfektionieren konnten, weil sie nicht wie die Europäer gezwungen waren, alle entsprechende Forschung auf die Radartechnik zu konzentrieren. In dem Aufsatz "Krieg im Schaltkreis" von 2000 ist diese Behauptung übrigens wesentlich schlüssiger belegt als in der Vorlesung.
Einen Nachteil jedoch haben all diese geistvollen Überlegungen: ihren Fokus. Daß Kittler den europäischen Blick, der tatsächlich der einer konsequenten Abbildung von Wahrnehmung ist, als alleinige Maxime seiner Technikgeschichtsschreibung einsetzt, kann man angesichts seiner Gleichsetzung von künstlerischen mit militärischen Interessen verstehen. Es wäre indes auch interessant zu wissen, wie Kulturen, die sich bis in die Moderne gar nicht darum bemüht haben, perspektivengerecht zu zeichnen, und trotzdem nicht eben als friedlich galten, zeitweise reüssieren konnten (man denke an Mongolen, Japaner, Araber). Doch das ist eine Frage, die an Kittlers epistemologisches Selbstverständnis rührt.
Wie denn das? Kittler hat zweifellos zur Popularisierung des Zusammenhangs von Krieg und Optik so viel beigetragen wie sonst bestenfalls noch Paul Virilio. Daß sich diese beiden Theoretiker dafür wechselseitig bewundern, ist nur zu verständlich und tritt auf schöne Weise in einem Gespräch zutage, für das der Kultursender Arte Virilio und Kittler 1995 zusammenbrachte und dessen Mitschrift jetzt in die "Short Cuts" eingegangen ist. Dort wurden, vier Jahre vor der "Berliner Vorlesung", fast alle deren Themen bereits angesprochen, und wie sich Virilio und Kittler dabei die Bälle zuspielen, ist faszinierend. Doch Virilios Pässe erhalten regelmäßig Effet, weil der Franzose weniger Tordrang verspürt als vielmehr der Schönheit des Spiels erlegen ist, während Kittler grundsätzlich den geraden Weg sucht. Das ist auch der Nachteil seiner Vorlesung zur Mediengeschichte. Die eingestandene Bewunderung für Hegel (dessen Berliner Vorlesungen, die nach dem Tod des Philosophen als Mitschriften erschienen, Kittler zu seinem Titel angeregt haben dürften) läßt bei Kittler eine Teleologie entstehen, die etwas rührend Altmodisches hat - als sei die Geschichte der optischen Medien mit Film und Fernsehen tatsächlich an ihren Abschluß gelangt. Den Mut zu solcher Vorstellung hat in der Tat seit 170 Jahren kaum ein Denker mehr gehabt.
Und so steht Kittler denn in einer idealistischen Tradition deutscher Geistesgeschichte, die längst für ausgestorben galt. Er denkt die Geschichte zu Ende. Jenseits von ihr, das wissen wir von Heidegger, kann uns nur noch ein Gott retten. Das hat mit Medien wenig, mit Metaphysik alles gemein. Doch siehe da: Kittler hat Götter parat. Sie stecken im Computer - ghosts in the machines. Es sind die Programme: "Sie tun immer etwas für einen, wie die Engel des Mittelalters", so erzählt er Virilio. Zwei Zukunftsszenarien kennt er: "eines, das mit Lévi-Strauss gesprochen die Menschen ausspuckt, das wäre die Computertechnologie, und das andere, das die Menschen auffrißt, das wäre die Gentechnologie. Und erstere ist mir lieber, weil es dann Götter gibt auf der einen Seite, oder Dämonen, und auf der anderen Seite Menschen, die es immer schon gab." Die neuen Götter, sie stecken also im Rechner. Alexander Kluge fragt den Propheten deshalb, gleichfalls in "Short Cuts", einigermaßen entgeistert: "Und Sie sagen als Heide, Herr Kittler, die sind heute noch genau so tätig?" Und der Heide antwortet einfach: "Ja." Man ist fast versucht, es diesem Gläubigen zu glauben. Deshalb könnte sein Buch "Optische Medien" auch einen anderen Untertitel tragen, der dem Phänomen wie den etymologischen Finessen des Autors gerecht würde: "Berliner Vorsehung".
Friedrich Kittler: "Optische Medien". Berliner Vorlesung 1999. Merve Verlag, Berlin 2002. 331 S., br., 16,70 [Euro].
Friedrich Kittler: "Short Cuts". Verlag Zweitausendeins, Frankfurt am Main 2002. 292 S., 3 Abb., geb., 13,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Die Vorlesung von Friedrich A. Kittler über "Optische Medien" ist ganz und gar einer "Koexistenz" der wissenschaftlichen Disziplinen Medien- und Kunstgeschichte und Musik- und Theaterwissenschaften verpflichtet, meint Bernd Stiegler. Dabei beginne der Autor, berichtet der Rezensent, mit der Renaissance und setze seine Betrachtung "in schneller und konziser Folge" mit der Fotografie, dem Film und dem Fernsehen fort und behandle eine große Zahl von Themen und Theorien wie die von McLuhan, Shannon und Foucault. Die gesamte Untersuchung beeindrucke weniger, so Stiegler, durch die Präsentation bisher nicht bekannter Quellen als durch eine "pointierte Rekombination" und manchmal auch "polemische Neubewertung" der Forschung in unterschiedlichen Disziplinen. Das mache Kittler zwar "angreifbar", gestalte die Lektüre seines Buches aber spannend, lobt der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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