Bruchstücke des Lebens, die die Frauen beim Kommen und Gehen, als Reisende, als Passagiere weitergeben, erzählen. In einer Zwischenstation, einer Unterkunft, wenn sie Atem holen, sich erinnern können. Es sind Etappen, doch nicht einer Flucht, sondern der Bewegungsfreiheit. Gespräche, die unter Algerierinnen von hier und von drüben ausgetauscht werden. Mit einem Schlag werden Stücke des Lebens beleuchtet und stürzen in sich zusammen. Bilder von Verfolgungsjagd, Flucht und Tod. Auch von Hoffnung in dieser langen Nacht.
Episoden reihen sich ein wie graue oder schwarze Perlen. Die Worte sind der Tropfen Licht, den man im tintenschwarzen Entsetzen noch empfangen kann.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2001Kopfstimme, klagend
Assia Djebar literarisiert die algerische Gewalt bis zum blutigen Ende / Von Stefan Weidner
Assia Djebar schreibt mit Anspruch, aber einfach. Die Schlichtheit ist die große Leistung und das Manko ihrer Literatur zugleich. Einerseits schafft sie es dadurch, ihre beiden großen, meist miteinander verschränkten Themen, Algerien und Frauen, dem Schweigen zu entreißen; andererseits läuft sie Gefahr, ihre Anliegen zu schnell und unter Wert an das Wort zu verkaufen, sie im schlimmsten Fall zu verniedlichen. In ihrer neusten Sammlung von Erzählungen, die 1997 in Frankreich erschien, kommen beide Tendenzen oft in derselben Geschichte zum Tragen, so daß man am Ende gar nicht weiß, wie man das finden soll, obgleich es sich immer nett und flott liest. Die Erzählungen spielen, mit gelegentlichen Abstechern in die Zeit des Befreiungskrieges, im Algerien der Jahre 1995 und 1996, als der islamistische Terror gegen die algerischen Intellektuellen seine grausamsten Blüten trieb.
Eine der Geschichten oder ein "Märchen", wie es heißt, handelt von einer Gymnasiallehrerin, die mit ihrer Klasse ein Stück aus Tausendundeiner Nacht durchnimmt. Sie wählt dafür die "Geschichte von den drei Äpfeln". Diese ist unterhaltsam genug, daß Djebar sie mit den Worten ihrer Lehrerin über etliche Seiten nacherzählen kann, ohne den Leser zu langweilen. Da die Klasse aufgeweckt ist, entspinnt sich am Ende jeder Stunde eine Diskussion, nicht zuletzt über die Bedingung des Erzählens in Lebensgefahr. Der Einfall ist hübsch, und der Vergleich der engagierten Lehrerin oder Djebars selbst mit der ebenfalls vom Tod bedrohten Scheherazade, der Erzählerin von Tausendundeiner Nacht, liegt nah - ohne wirklich ganz aufzugehen. Dann geschieht folgendes: Eine Gruppe finster blickender Uniformierter dringt in das Klassenzimmer ein und erschießt die Lehrerin. Bevor sie verschwinden, zückt einer von ihnen ein Messer, schneidet den Kopf der Lehrerin ab und setzt ihn aufs Pult. Und nun erzählt dieser Kopf die Geschichte zu Ende, bis die Luft ausgeht "als würden auch ihre Worte vom Blut, das tropft und auf das Holz des Tisches rinnt, ertränkt".
Effekthascherisches Schauermärchen oder einfach nur drastische Literarisierung der schaurigen algerischen Wirklichkeit? Jedenfalls scheint Djebar, anders als in ihren eher dokumentarischen Werken wie "Weißes Algerien", nicht mehr darauf zu vertrauen, daß die bloße Erwähnung von Grausamkeiten ausreichend erschütternd wirkt. Statt dessen wird die Gewalt literarisiert, offensichtlich um den Effekt auf den Leser zu steigern. Doch der Schuß geht nach hinten los, denn nun empört man sich ebensowenig darüber wie über Gewalt in fiktionalen Texten ganz allgemein. Und der Sache ist ein um so schlechterer Dienst geleistet, als die Erzählung literarisch nur sehr bedingt überzeugt.
Zum Glück enden nicht alle Stücke des Bandes so schrill. Wo man einen authentischen Kern verspürt oder der Bogen vom algerischen Unabhängigkeitskrieg bis in die Gegenwart und von Algerien nach Frankreich geschlagen wird, vermögen die Erzählungen bisweilen zu überzeugen. Mehrfach treten gemischte Paare auf: Sie Französin, er Algerier, die jeweils "ein gespenstisches Stück aufführen, in dem es um Liebe geht, gewiß, das aber zugleich die Vergangenheit wieder aufleben läßt, und die beiden Unglücklichen wissen nicht einmal, daß sie Doppelgänger der doppelgesichtigen Vergangenheit sind!"
Da heiratet die unschuldige Annie den algerischen Bauarbeiter Idir. Idirs Eifersucht vergiftet die Ehe, Annie trennt sich. Er entführt die einjährige Tochter und flieht nach Algerien. Erst neun Jahre später kann Annie sie wiedersehen. Um sich auf die Begegnung vorzubereiten, hat Annie die "Tochtersprache" gelernt, das Tifinagh, die Sprache der Berber. Die Tochter hingegen spricht Französisch, weigert sich aber, vor der unbekannten Frau ihr unter dem Schleier verborgenes Haar zu entblößen, wie es der sehnlichste Wunsch der Mutter gewesen wäre. Es ist eine der rührendsten Erzählungen des Bandes, weil die brachiale Gewalt, welche die Geschichten sonst prägt, durch die literarisch viel eindrücklichere seelische Gewalt ersetzt wird.
Anders als die Ehe zwischen Annie und Idir verläuft die zwischen einer Französin und einem Algerier in der längsten Geschichte trotz aller Hindernisse glücklich: "Weißt du, meine Kleine, was die Ehe mit meinem Mann gerettet hat, war, daß wir jeden Abend Liebe machten", vertraut die Französin ihrer Schwiegertochter an. So einfach kann es manchmal sein, und in den Monologen der Kinder am Totenbett der lebensfreudigen Mutter scheint ein halbhundertjähriges Panorama algerisch-französischer, männlich-weiblicher, christlich-muslimischer Verschlingungen auf, die zwar nie ungetrübt sind, aber doch immer gut ausgehen, inklusive der Beerdigung der katholischen Mutter neben dem Vater auf dem islamischen Friedhof.
Das blutige Ende aber, das in dieser Geschichte durch ein kleines Wunder noch einmal abgewendet wird, ist in den übrigen Erzählungen Programm, ohne daß die Darstellungsform, die Djebar dafür wählt, auf Augenhöhe der Empörung wäre, die sie motiviert. In den harmlos erzählten Geschichten wirkt der Tod oft nur noch wie ein ungezogenes Haustier. Ob das Schweigen da bisweilen nicht doch vorzuziehen ist? Im Nachwort beruft sich Djebar, um ihre Poetik zu umreißen, auf Francis Ponge. Der schrieb in einem seiner frühen Dinggedichte: "Für die geistige Toilette ein kleines Stück Seife. Richtig gehandhabt, genügt." Wenn man sie aber nicht richtig handhabt, wird selbst aus dem kleinen Stück Seife unversehens eine Seifenoper. Das ist schade, denn die kleine Seife, die Djebar ja durchaus schon meisterlich benutzt hat, könnte sogar dort etwas leisten, fährt Ponge fort, "wo Sturzbäche reinen Wassers nichts säubern würden. Auch das Schweigen nicht. Noch dein Selbstmord in der schwärzesten Quelle, o absoluter Leser!"
Assia Djebar: "Oran - Algerische Nacht". Erzählungen. Aus dem Französischen übersetzt von Beate Thill. Unionsverlag, Zürich 2001. 316 S., geb., 38,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Assia Djebar literarisiert die algerische Gewalt bis zum blutigen Ende / Von Stefan Weidner
Assia Djebar schreibt mit Anspruch, aber einfach. Die Schlichtheit ist die große Leistung und das Manko ihrer Literatur zugleich. Einerseits schafft sie es dadurch, ihre beiden großen, meist miteinander verschränkten Themen, Algerien und Frauen, dem Schweigen zu entreißen; andererseits läuft sie Gefahr, ihre Anliegen zu schnell und unter Wert an das Wort zu verkaufen, sie im schlimmsten Fall zu verniedlichen. In ihrer neusten Sammlung von Erzählungen, die 1997 in Frankreich erschien, kommen beide Tendenzen oft in derselben Geschichte zum Tragen, so daß man am Ende gar nicht weiß, wie man das finden soll, obgleich es sich immer nett und flott liest. Die Erzählungen spielen, mit gelegentlichen Abstechern in die Zeit des Befreiungskrieges, im Algerien der Jahre 1995 und 1996, als der islamistische Terror gegen die algerischen Intellektuellen seine grausamsten Blüten trieb.
Eine der Geschichten oder ein "Märchen", wie es heißt, handelt von einer Gymnasiallehrerin, die mit ihrer Klasse ein Stück aus Tausendundeiner Nacht durchnimmt. Sie wählt dafür die "Geschichte von den drei Äpfeln". Diese ist unterhaltsam genug, daß Djebar sie mit den Worten ihrer Lehrerin über etliche Seiten nacherzählen kann, ohne den Leser zu langweilen. Da die Klasse aufgeweckt ist, entspinnt sich am Ende jeder Stunde eine Diskussion, nicht zuletzt über die Bedingung des Erzählens in Lebensgefahr. Der Einfall ist hübsch, und der Vergleich der engagierten Lehrerin oder Djebars selbst mit der ebenfalls vom Tod bedrohten Scheherazade, der Erzählerin von Tausendundeiner Nacht, liegt nah - ohne wirklich ganz aufzugehen. Dann geschieht folgendes: Eine Gruppe finster blickender Uniformierter dringt in das Klassenzimmer ein und erschießt die Lehrerin. Bevor sie verschwinden, zückt einer von ihnen ein Messer, schneidet den Kopf der Lehrerin ab und setzt ihn aufs Pult. Und nun erzählt dieser Kopf die Geschichte zu Ende, bis die Luft ausgeht "als würden auch ihre Worte vom Blut, das tropft und auf das Holz des Tisches rinnt, ertränkt".
Effekthascherisches Schauermärchen oder einfach nur drastische Literarisierung der schaurigen algerischen Wirklichkeit? Jedenfalls scheint Djebar, anders als in ihren eher dokumentarischen Werken wie "Weißes Algerien", nicht mehr darauf zu vertrauen, daß die bloße Erwähnung von Grausamkeiten ausreichend erschütternd wirkt. Statt dessen wird die Gewalt literarisiert, offensichtlich um den Effekt auf den Leser zu steigern. Doch der Schuß geht nach hinten los, denn nun empört man sich ebensowenig darüber wie über Gewalt in fiktionalen Texten ganz allgemein. Und der Sache ist ein um so schlechterer Dienst geleistet, als die Erzählung literarisch nur sehr bedingt überzeugt.
Zum Glück enden nicht alle Stücke des Bandes so schrill. Wo man einen authentischen Kern verspürt oder der Bogen vom algerischen Unabhängigkeitskrieg bis in die Gegenwart und von Algerien nach Frankreich geschlagen wird, vermögen die Erzählungen bisweilen zu überzeugen. Mehrfach treten gemischte Paare auf: Sie Französin, er Algerier, die jeweils "ein gespenstisches Stück aufführen, in dem es um Liebe geht, gewiß, das aber zugleich die Vergangenheit wieder aufleben läßt, und die beiden Unglücklichen wissen nicht einmal, daß sie Doppelgänger der doppelgesichtigen Vergangenheit sind!"
Da heiratet die unschuldige Annie den algerischen Bauarbeiter Idir. Idirs Eifersucht vergiftet die Ehe, Annie trennt sich. Er entführt die einjährige Tochter und flieht nach Algerien. Erst neun Jahre später kann Annie sie wiedersehen. Um sich auf die Begegnung vorzubereiten, hat Annie die "Tochtersprache" gelernt, das Tifinagh, die Sprache der Berber. Die Tochter hingegen spricht Französisch, weigert sich aber, vor der unbekannten Frau ihr unter dem Schleier verborgenes Haar zu entblößen, wie es der sehnlichste Wunsch der Mutter gewesen wäre. Es ist eine der rührendsten Erzählungen des Bandes, weil die brachiale Gewalt, welche die Geschichten sonst prägt, durch die literarisch viel eindrücklichere seelische Gewalt ersetzt wird.
Anders als die Ehe zwischen Annie und Idir verläuft die zwischen einer Französin und einem Algerier in der längsten Geschichte trotz aller Hindernisse glücklich: "Weißt du, meine Kleine, was die Ehe mit meinem Mann gerettet hat, war, daß wir jeden Abend Liebe machten", vertraut die Französin ihrer Schwiegertochter an. So einfach kann es manchmal sein, und in den Monologen der Kinder am Totenbett der lebensfreudigen Mutter scheint ein halbhundertjähriges Panorama algerisch-französischer, männlich-weiblicher, christlich-muslimischer Verschlingungen auf, die zwar nie ungetrübt sind, aber doch immer gut ausgehen, inklusive der Beerdigung der katholischen Mutter neben dem Vater auf dem islamischen Friedhof.
Das blutige Ende aber, das in dieser Geschichte durch ein kleines Wunder noch einmal abgewendet wird, ist in den übrigen Erzählungen Programm, ohne daß die Darstellungsform, die Djebar dafür wählt, auf Augenhöhe der Empörung wäre, die sie motiviert. In den harmlos erzählten Geschichten wirkt der Tod oft nur noch wie ein ungezogenes Haustier. Ob das Schweigen da bisweilen nicht doch vorzuziehen ist? Im Nachwort beruft sich Djebar, um ihre Poetik zu umreißen, auf Francis Ponge. Der schrieb in einem seiner frühen Dinggedichte: "Für die geistige Toilette ein kleines Stück Seife. Richtig gehandhabt, genügt." Wenn man sie aber nicht richtig handhabt, wird selbst aus dem kleinen Stück Seife unversehens eine Seifenoper. Das ist schade, denn die kleine Seife, die Djebar ja durchaus schon meisterlich benutzt hat, könnte sogar dort etwas leisten, fährt Ponge fort, "wo Sturzbäche reinen Wassers nichts säubern würden. Auch das Schweigen nicht. Noch dein Selbstmord in der schwärzesten Quelle, o absoluter Leser!"
Assia Djebar: "Oran - Algerische Nacht". Erzählungen. Aus dem Französischen übersetzt von Beate Thill. Unionsverlag, Zürich 2001. 316 S., geb., 38,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.01.2002Der Riss
Algerisches Koma: Neue
Erzählungen von Assia Djebar
Das neue Buch von Assia Djebar in deutscher Übersetzung enthält mehrere Erzählungen, eine Kurzgeschichte und ein Märchen, das von Berichten über die „évênements” wie von einer Klammer zusammengehalten wird. Als évênements, „Vorfälle”, werden in Frankreich gern, euphemistisch und distanziert, blutige politische Erschütterungen bezeichnet. So seinerzeit die Auseinandersetzungen in Algerien, schon bevor sie sich zum Unabhängigkeitskrieg ausweiteten. Als „les évênements d’Algérie” werden heute die Greueltaten der muslimischen Integristen, von Teilen der Armee sowie weiterer, schwer identifizierbarer Dunkelmänner genannt.
Der Algerienkrieg wurde zum Trauma Frankreichs, aber auch zum französischen Trauma Algeriens. Die Doppelung der Erinnerung an die „Vorfälle” bewirkte einen Riss, der durch alle Bereiche des privaten und öffentlichen Lebens ging, eine Wunde, die bei jeder Berührung schmerzte. Bald gab es keine Sprache mehr, diesen Schmerz zu bewältigen. Im scheinbar geheimnisvollen, aber treffenden Titel des Originals, „Oran, langue morte”, schwingt das mit, geht aber im plakativeren Titel der deutschen Ausgabe „Oran – Algerische Nacht”, unter. Die gemeinsame Sprache ist durch diesen Riss verschwunden, durch die rigide verwaltete Bilingualität von Französisch und Arabisch. Vor der Kolonialzeit gab es eine mediterrane Mischsprache, eine lingua franca aller miteinander in Kontakt stehenden Bevölkerungsgruppen. Davon spricht Assia Djebar nicht, wohl aber implizit vom Absterben der Kommunikation, zunächst durch die verordnete Zweisprachigkeit, sodann durch die immer rigider durchgesetzte Einsprachigkeit des Arabischen (auch gegen die zweite Sprache des Landes, das Berberische).
Der Schnitt trennt Freunde, Klassenkameraden, geht durch die Familien und die Individuen. In einer Erzählung heißt es: „Mein Vater ist ein Adliger, wenn er seine Muttersprache spricht, und ein kleiner Angestellter, wenn er ins Französische wechselt.” Die französische Mutter wird bewusstlos, mithin sprachlos, nach Frankreich zurückgebracht und stirbt dort. Die Kinder mit ihren arabisch-französischen oder französisch-arabischen Doppelnamen leben zum Teil in Algerien, zum Teil in Frankreich, beraten, untereinander und in sich gespalten, als Agnostiker, Christen und als Muslime, als Franzosen und als Algerier darüber, wo die Mutter begraben werden soll: in Frankreich, mit dem sie seit ihrer Heirat mit einem Algerier kaum mehr verband, als dass drei ihrer Kinder da lebten, oder in Algerien, wo sie bei ihren dort verbliebenen Kindern und im Kreis der Verwandten ihres Mannes zwar als Fremde, als rumiya, aber dort ruhen würde, wo sie letztlich bleiben wollte.
Zwangsjacke
Eine deutliche Schwäche des Buches liegt darin, dass alle Figuren zu bloßen Emblemen der Verdoppelung und des daraus resultierenden Zustands der Zerrissenheit werden, zu Chiffren einer existentiellen, kulturellen und politischen Zerrissenheit, des Ersterbens einer gemeinsamen Sprache. Zwar fehlt es nicht an ergreifenden, an persönlichen, intimen, auch an ironischen oder charmanten Passagen. Dennoch wird man den Verdacht nicht los, dass die Figuren stets Verhältnisse bezeichnen. Sie stecken in einer emblematischen Zwangsjacke, die sie an einer freieren Entfaltung hindert, bis auf die Mutter, Félicie, die im sprachlosen Koma liegt. In der Rückerinnerung der Tochter wird die emblematische Hülle abgeworfen.
Die „Algerische Nacht” ist auch ein Buch der „Frauen von Algier”. Eine der Domänen dieser Frauen war das Beruhigen, Beschwichtigen, das Auf-Sich Nehmen. Der Trost der Frauen und Mütter für die Mütter und Frauen, die Hinterbliebenen, begleitete die Taten der Männer des Tages, den Kreislauf von Gewalt, Aufschrei und Verstummen, den die Frauen mit der Erfüllung dieser Aufgabe, Bereitschaft zum Trost, mittrugen. Die heutigen „Frauen von Algier” sind längst selbst unmittelbare Opfer des Terrors geworden.
GENNARO GHIRARDELLI
ASSIA DJEBAR: Oran – Algerische Nacht. Erzählungen. Aus dem Französischen von Beate Thill. Unionsverlag, Zürich 2001. 315 Seiten, 19,43 .
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Algerisches Koma: Neue
Erzählungen von Assia Djebar
Das neue Buch von Assia Djebar in deutscher Übersetzung enthält mehrere Erzählungen, eine Kurzgeschichte und ein Märchen, das von Berichten über die „évênements” wie von einer Klammer zusammengehalten wird. Als évênements, „Vorfälle”, werden in Frankreich gern, euphemistisch und distanziert, blutige politische Erschütterungen bezeichnet. So seinerzeit die Auseinandersetzungen in Algerien, schon bevor sie sich zum Unabhängigkeitskrieg ausweiteten. Als „les évênements d’Algérie” werden heute die Greueltaten der muslimischen Integristen, von Teilen der Armee sowie weiterer, schwer identifizierbarer Dunkelmänner genannt.
Der Algerienkrieg wurde zum Trauma Frankreichs, aber auch zum französischen Trauma Algeriens. Die Doppelung der Erinnerung an die „Vorfälle” bewirkte einen Riss, der durch alle Bereiche des privaten und öffentlichen Lebens ging, eine Wunde, die bei jeder Berührung schmerzte. Bald gab es keine Sprache mehr, diesen Schmerz zu bewältigen. Im scheinbar geheimnisvollen, aber treffenden Titel des Originals, „Oran, langue morte”, schwingt das mit, geht aber im plakativeren Titel der deutschen Ausgabe „Oran – Algerische Nacht”, unter. Die gemeinsame Sprache ist durch diesen Riss verschwunden, durch die rigide verwaltete Bilingualität von Französisch und Arabisch. Vor der Kolonialzeit gab es eine mediterrane Mischsprache, eine lingua franca aller miteinander in Kontakt stehenden Bevölkerungsgruppen. Davon spricht Assia Djebar nicht, wohl aber implizit vom Absterben der Kommunikation, zunächst durch die verordnete Zweisprachigkeit, sodann durch die immer rigider durchgesetzte Einsprachigkeit des Arabischen (auch gegen die zweite Sprache des Landes, das Berberische).
Der Schnitt trennt Freunde, Klassenkameraden, geht durch die Familien und die Individuen. In einer Erzählung heißt es: „Mein Vater ist ein Adliger, wenn er seine Muttersprache spricht, und ein kleiner Angestellter, wenn er ins Französische wechselt.” Die französische Mutter wird bewusstlos, mithin sprachlos, nach Frankreich zurückgebracht und stirbt dort. Die Kinder mit ihren arabisch-französischen oder französisch-arabischen Doppelnamen leben zum Teil in Algerien, zum Teil in Frankreich, beraten, untereinander und in sich gespalten, als Agnostiker, Christen und als Muslime, als Franzosen und als Algerier darüber, wo die Mutter begraben werden soll: in Frankreich, mit dem sie seit ihrer Heirat mit einem Algerier kaum mehr verband, als dass drei ihrer Kinder da lebten, oder in Algerien, wo sie bei ihren dort verbliebenen Kindern und im Kreis der Verwandten ihres Mannes zwar als Fremde, als rumiya, aber dort ruhen würde, wo sie letztlich bleiben wollte.
Zwangsjacke
Eine deutliche Schwäche des Buches liegt darin, dass alle Figuren zu bloßen Emblemen der Verdoppelung und des daraus resultierenden Zustands der Zerrissenheit werden, zu Chiffren einer existentiellen, kulturellen und politischen Zerrissenheit, des Ersterbens einer gemeinsamen Sprache. Zwar fehlt es nicht an ergreifenden, an persönlichen, intimen, auch an ironischen oder charmanten Passagen. Dennoch wird man den Verdacht nicht los, dass die Figuren stets Verhältnisse bezeichnen. Sie stecken in einer emblematischen Zwangsjacke, die sie an einer freieren Entfaltung hindert, bis auf die Mutter, Félicie, die im sprachlosen Koma liegt. In der Rückerinnerung der Tochter wird die emblematische Hülle abgeworfen.
Die „Algerische Nacht” ist auch ein Buch der „Frauen von Algier”. Eine der Domänen dieser Frauen war das Beruhigen, Beschwichtigen, das Auf-Sich Nehmen. Der Trost der Frauen und Mütter für die Mütter und Frauen, die Hinterbliebenen, begleitete die Taten der Männer des Tages, den Kreislauf von Gewalt, Aufschrei und Verstummen, den die Frauen mit der Erfüllung dieser Aufgabe, Bereitschaft zum Trost, mittrugen. Die heutigen „Frauen von Algier” sind längst selbst unmittelbare Opfer des Terrors geworden.
GENNARO GHIRARDELLI
ASSIA DJEBAR: Oran – Algerische Nacht. Erzählungen. Aus dem Französischen von Beate Thill. Unionsverlag, Zürich 2001. 315 Seiten, 19,43 .
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Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
»In den sieben dokumentarisch anmutenden Erzählungen führt Djebar das Porträt algerischer Frauen fort und beginnt etwas ganz Neues. Diese Frauen sind aus Fleisch und Blut. Ihre Augen haben sich aus dem Schleier befreit und ihre Stimmen sind hörbar. Deshalb hat Assia Djebar bei all dem Bluten und Sterben dennoch ein kraftvolles und versöhnliches Buch geschrieben.« Münchner Merkur