Die Weltwirtschaft befindet sich in einer permanenten Krise, einer Krisenlatenz. Die Hauptursache liegt im Verlust einer Werteorientierung, im Verlust der Ordnung des Seins und der Legitimität; als Folge wird die Anarchie zur faktischen Grundstruktur von Weltwirtschaft und Weltgesellschaft mit verheerenden Konsequenzen für Menschen und Umwelt. Hans Ruh greift auf die Wirtschafts- und Gesellschaftsgeschichte zurück und setzt sich ebenso intensiv mit den brennenden Fragen des aktuellen Weltgeschehens auseinander. Er legt offen, welche Probleme uns heute beschäftigen und in Zukunft betreffen und wie daswirtschaftliche Verhalten wieder an eine übergeordnete Werteordnung angekoppelt werden kann. Mit 'Ordnung von unten' meint er die Verlagerung des Handlungsschwerpunkts auf die Zivilgesellschaft. Autonomie bzw. Selbstorganisation sind - nach dem Verlust der Regulierung von oben - Anforderungen an die wichtigsten funktionierenden Systeme. Mit seinen sechs Leuchttürmen - das System 'Ethische Marktwirtschaft', Wirtschaft von unten, Agenturen für elementare öffentliche Güter, Ideen, die selbständig fliegen, Projekte, demokratische Zivilgesellschaft - zeigt Hans Ruh, wie wir die Zukunft gestalten und in eine andere Richtung, nämlich hin zu einer lebenswerten und überlebensfähigen Wirtschaft beziehungsweise Gesellschaft lenken können.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.10.2011Ethische Marktwirtschaft
Hans Ruh setzt sich für eine Ordnung von unten ein
Das Umschlagbild der jüngsten Publikation von Hans Ruh zeigt eine Menschenmenge, die mit emporgereckten Fäusten protestiert, vermutlich aufgenommen während der sanften Revolution in der ehemaligen Tschechoslowakei. Vaclav Havel stellte seinerzeit die "Ordnung des Seins" in den Mittelpunkt seines politischen Wirkens. Er verstand darunter die moralische Verantwortung für die Konsequenzen des Handelns, im Gegensatz zu einer rein individualistischen Orientierung.
Auf diesen Ansatz bezieht sich Hans Ruh, emeritierter Professor für Systematische Theologie an der Universität Zürich und ausgewiesener Sozialethiker. In der Abkopplung der Wirtschaft von der "Ordnung des Seins" sieht er die zentrale moralische Ursache der gegenwärtigen Krisenlatenz. Gegen den drohenden Verlust einer Werteordnung fordert Ruh eine "Ordnung von unten", das heißt, von der zivilgesellschaftlichen Ebene aus. Hier könnten beziehungsweise sollten kulturelle Werte wie Solidarität, der Ausgleich unverschuldeter Ungleichheiten und Verantwortung für das Gemeinwesen entwickelt werden, zum Beispiel in Form einer ethischen Selbstorganisation engagierter Bürger.
Ruh fordert dazu auf, sich an die ursprünglichen Positionen der Sozialen Marktwirtschaft zu erinnern, wie sie insbesondere von Alfred Müller-Armack und Wilhelm Röpke formuliert wurden. Allerdings hält er es für notwendig, die zentralen Aussagen zum Verhältnis von Markt und Ethik weiterzuentwickeln.
Mit Herz und Verstand setzt sich der Verfasser für ein Wirtschaften im Einklang mit ethischen Werten ein. Konsumenten sollten beim Einkauf konsequent auf ethische, soziale und ökologische Gesichtspunkte achten, Unternehmen sollten Ethik-Managementsysteme einführen und die Bürger sollten sich für einen obligatorischen Sozialdienst einsetzen.
Hans Ruh ist allerdings kein wirklichkeitsfremder Rigorist. Er plädiert nicht gegen eine Ordnung von oben, wo diese sinnvoll erscheint. Es sei durchaus denkbar, dass sich beide Gestaltungsformen in Zukunft zu einem einzigen, stimmigen Konzept entwickeln würden.
Der Untertitel klingt eher provokativ. Er wird auch nur auf wenigen Seiten am Schluss des Buches eingehend behandelt. Das soll jedoch nicht die große Bedeutung einer demokratischen Zivilgesellschaft schmälern. Nüchtern stellt Ruh fest, dass die westlich orientierte Demokratieform im postnationalen Zeitalter ihre Bedeutung verloren habe. Neue Formen der Bürgerbeteiligung seien gefordert. Das Aus für die Atomkraftwerke und der Umbau des Stuttgarter Bahnhofs geben ihm da - leider - Recht.
Die ethische Selbstregulierung und Eigenverantwortung werden vom Verfasser zu Recht als Bestandteile einer "Ethischen Marktwirtschaft" bezeichnet. Ob sie ausreichen, das angestrebte Zeil einer überlebensfähigen und menschlich verträglichen Weltwirtschaft zu erreichen, mag dahingestellt bleiben. Auch Ruh sieht realistisch, dass eine auf geistig-moralische Werte ausgerichtete Strategie für eine an kurzfristig materiellen Zielen orientierte Gesellschaft nicht interessant ist. Ob allerdings Akademien für die Förderung der Sozialisationsbedingungen ähnliche Aktivitäten entfalten können wie zum Beispiel naturwissenschaftliche Akademien, erscheint fraglich. Hier wären auch Bürokratieprobleme zu beachten. Ebenso mag der eine oder andere Vorschlag als utopisch oder zu optimistisch betrachtet werden wie etwa die autonome Verbreitung von "selbständig fliegenden Wertvorstellungen".
Sinnvoll erscheinen hingegen die Empfehlungen des Autors an die Sozialunternehmen, ihre ethische Ausrichtung eng mit der Geschäftsidee zu verbinden. Gerade die ethische Orientierung sichere hier den ökonomischen Erfolg: Insbesondere Unternehmen mit einem relativ hohen Anteil an Behinderten seien auf eine hohe Reputation angewiesen, um ökonomische Einbußen kompensieren zu können.
Beeindruckend erscheint das Maß sowohl an Empathie als auch an Sachverstand, wenn es um die Verwirklichung einer "Ethischen Marktwirtschaft" geht, zum Beispiel bei Vorschlägen zur Überwindung absoluter Armut in unterentwickelten Ländern. Ruh argumentiert mit einem umgekehrten Utilitarismus, den er von Karl Popper übernimmt: Nicht die größte Glückseligkeit der größten Zahl, sondern das kleinste Maß an vermeidbarem Leid für alle, angefangen bei denen, die in Armut leben, müsse das Ziel sein.
Seine pragmatische Schlussfolgerung lautet: In jeder wirtschaftlichen Operation muss ein Teil der Produktivität zur Beseitigung der absoluten Armut abgezweigt werden. Beispielhaft nennt der Autor das schweizerische Label "Share for Food" auf Lebensmitteln, bei dem ein Prozent des Verkaufspreises in die Bekämpfung der Armut von Unterprivilegierten geht. Den nachdenklichen und vorausschauenden Leser wird Ruhs Buch beeindrucken und bereichern.
HARTMUT KREIKEBAUM.
Hans Ruh: Ordnung von unten: Die Demokratie neu erfinden.
Versus Verlag, Zürich 2011, 208 Seiten, 24,80 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hans Ruh setzt sich für eine Ordnung von unten ein
Das Umschlagbild der jüngsten Publikation von Hans Ruh zeigt eine Menschenmenge, die mit emporgereckten Fäusten protestiert, vermutlich aufgenommen während der sanften Revolution in der ehemaligen Tschechoslowakei. Vaclav Havel stellte seinerzeit die "Ordnung des Seins" in den Mittelpunkt seines politischen Wirkens. Er verstand darunter die moralische Verantwortung für die Konsequenzen des Handelns, im Gegensatz zu einer rein individualistischen Orientierung.
Auf diesen Ansatz bezieht sich Hans Ruh, emeritierter Professor für Systematische Theologie an der Universität Zürich und ausgewiesener Sozialethiker. In der Abkopplung der Wirtschaft von der "Ordnung des Seins" sieht er die zentrale moralische Ursache der gegenwärtigen Krisenlatenz. Gegen den drohenden Verlust einer Werteordnung fordert Ruh eine "Ordnung von unten", das heißt, von der zivilgesellschaftlichen Ebene aus. Hier könnten beziehungsweise sollten kulturelle Werte wie Solidarität, der Ausgleich unverschuldeter Ungleichheiten und Verantwortung für das Gemeinwesen entwickelt werden, zum Beispiel in Form einer ethischen Selbstorganisation engagierter Bürger.
Ruh fordert dazu auf, sich an die ursprünglichen Positionen der Sozialen Marktwirtschaft zu erinnern, wie sie insbesondere von Alfred Müller-Armack und Wilhelm Röpke formuliert wurden. Allerdings hält er es für notwendig, die zentralen Aussagen zum Verhältnis von Markt und Ethik weiterzuentwickeln.
Mit Herz und Verstand setzt sich der Verfasser für ein Wirtschaften im Einklang mit ethischen Werten ein. Konsumenten sollten beim Einkauf konsequent auf ethische, soziale und ökologische Gesichtspunkte achten, Unternehmen sollten Ethik-Managementsysteme einführen und die Bürger sollten sich für einen obligatorischen Sozialdienst einsetzen.
Hans Ruh ist allerdings kein wirklichkeitsfremder Rigorist. Er plädiert nicht gegen eine Ordnung von oben, wo diese sinnvoll erscheint. Es sei durchaus denkbar, dass sich beide Gestaltungsformen in Zukunft zu einem einzigen, stimmigen Konzept entwickeln würden.
Der Untertitel klingt eher provokativ. Er wird auch nur auf wenigen Seiten am Schluss des Buches eingehend behandelt. Das soll jedoch nicht die große Bedeutung einer demokratischen Zivilgesellschaft schmälern. Nüchtern stellt Ruh fest, dass die westlich orientierte Demokratieform im postnationalen Zeitalter ihre Bedeutung verloren habe. Neue Formen der Bürgerbeteiligung seien gefordert. Das Aus für die Atomkraftwerke und der Umbau des Stuttgarter Bahnhofs geben ihm da - leider - Recht.
Die ethische Selbstregulierung und Eigenverantwortung werden vom Verfasser zu Recht als Bestandteile einer "Ethischen Marktwirtschaft" bezeichnet. Ob sie ausreichen, das angestrebte Zeil einer überlebensfähigen und menschlich verträglichen Weltwirtschaft zu erreichen, mag dahingestellt bleiben. Auch Ruh sieht realistisch, dass eine auf geistig-moralische Werte ausgerichtete Strategie für eine an kurzfristig materiellen Zielen orientierte Gesellschaft nicht interessant ist. Ob allerdings Akademien für die Förderung der Sozialisationsbedingungen ähnliche Aktivitäten entfalten können wie zum Beispiel naturwissenschaftliche Akademien, erscheint fraglich. Hier wären auch Bürokratieprobleme zu beachten. Ebenso mag der eine oder andere Vorschlag als utopisch oder zu optimistisch betrachtet werden wie etwa die autonome Verbreitung von "selbständig fliegenden Wertvorstellungen".
Sinnvoll erscheinen hingegen die Empfehlungen des Autors an die Sozialunternehmen, ihre ethische Ausrichtung eng mit der Geschäftsidee zu verbinden. Gerade die ethische Orientierung sichere hier den ökonomischen Erfolg: Insbesondere Unternehmen mit einem relativ hohen Anteil an Behinderten seien auf eine hohe Reputation angewiesen, um ökonomische Einbußen kompensieren zu können.
Beeindruckend erscheint das Maß sowohl an Empathie als auch an Sachverstand, wenn es um die Verwirklichung einer "Ethischen Marktwirtschaft" geht, zum Beispiel bei Vorschlägen zur Überwindung absoluter Armut in unterentwickelten Ländern. Ruh argumentiert mit einem umgekehrten Utilitarismus, den er von Karl Popper übernimmt: Nicht die größte Glückseligkeit der größten Zahl, sondern das kleinste Maß an vermeidbarem Leid für alle, angefangen bei denen, die in Armut leben, müsse das Ziel sein.
Seine pragmatische Schlussfolgerung lautet: In jeder wirtschaftlichen Operation muss ein Teil der Produktivität zur Beseitigung der absoluten Armut abgezweigt werden. Beispielhaft nennt der Autor das schweizerische Label "Share for Food" auf Lebensmitteln, bei dem ein Prozent des Verkaufspreises in die Bekämpfung der Armut von Unterprivilegierten geht. Den nachdenklichen und vorausschauenden Leser wird Ruhs Buch beeindrucken und bereichern.
HARTMUT KREIKEBAUM.
Hans Ruh: Ordnung von unten: Die Demokratie neu erfinden.
Versus Verlag, Zürich 2011, 208 Seiten, 24,80 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main