Das Jahrbuch ORDO ist seit über 50 Jahren ein Zentralort der wissenschaftlichen und politischen Diskussion aus dem Konzept der Marktwirtschaft und des Wettbewerbs heraus. Durch dieses Jahrbuch wurde der Begriff Ordoliberalismus zum festen Begriff. Er steht für ein Grundkonzept, das erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung, eine freiheitliche Wirtschaft und Gesellschaft ohne Dominanz von Staatseingriffen und das Recht auf persönliche Verantwortung in Wirtschaft und Gesellschaft in einem unauflöslichen Zusammenhang sieht.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.05.2015Das Versagen des Primats
Erhellendes aus dem ORDO-Jahrbuch
"Der Primat der Politik hat versagt", schreibt Carl-Christian von Weizsäcker im jüngsten ORDO-Band. Demokratie sei als Staatsform nur dann funktionsfähig, wenn Wirtschaft und Wissenschaft nicht einem von der Politik definierten Gemeinwohl verpflichtet sind. Ohne wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Wettbewerb sei die Demokratie "zur Stagnation verurteilt". Umgekehrt setze aber auch "die Legitimität der Marktwirtschaft die deliberative Demokratie voraus" - also Meinungsfreiheit und politischen Wettbewerb.
Es folgen Beiträge zur Europa-Problematik. Markus C. Kerber äußert "bohrende Zweifel an der ordnungsökonomischen Funktionalität der Bankenunion". Er schreibt: "Während im System der bisherigen nationalen Bankenaufsicht ein Aufsichtsfehler finanzielle Konsequenzen für das Land oder für eine seiner Gebietskörperschaften mit sich brachte, die gegebenenfalls dem Steuerzahler zur Last fielen und vor ihm politisch zu rechtfertigen waren, sind die finanziellen Folgen der - verschuldeten oder unverschuldeten - Krise einer Bank nunmehr nicht klar zu verorten."
Außerdem sei die Wahrscheinlichkeit, dass rechtzeitig Alarm geschlagen werde, größer, wenn es mehrere voneinander unabhängige und miteinander wetteifernde nationale Aufseher gebe, als wenn nur ein einziger Wache halte, zumal sich dieser - die EZB - durch "politisch induzierte Abstinenz" auszeichne. Der deutschen Seite wirft Kerber vor, "wieder nur fachtechnisch, in der Sache hasenfüßig gegen die Pläne aus Brüssel argumentiert" zu haben.
Christian Fahrholz und Andreas Freytag üben scharfe Kritik an der Schuldenunion. Die Unwiderruflichkeit der Mitgliedschaft in der Währungsunion habe den Anreiz zu übermäßiger Verschuldung verstärkt. Weiterhin bemängeln die Autoren: "Das implizite Versprechen der Solidarität hat zu einem den Strukturwandel eher unterdrückenden Reformattentismus (bei abweichender Rhetorik) geführt. Diese Entwicklung wurde begleitet von einem enormen - und letztlich wirksamen - Druck auf die EZB, die fiskalische Lässigkeit und die Reformmüdigkeit mit billigem Zentralbankgeld zu alimentieren." Auch im Währungsbereich scheint der Primat der Politik wieder einmal eklatant versagt zu haben.
Ansgar Behlke wendet sich gegen das "Quantitative Easing" der EZB und weist darauf hin, dass die deutsche Volkswirtschaft als größter Nettogläubiger der Eurozone einen Einkommensverlust erleidet, wenn die Zinsen so niedrig sind.
Sechs Aufsätze zu anderen aktuellen wirtschaftspolitischen Themen schließen sich an. Christoph Schaltegger und Marc Winistörfer empfehlen als "Zentralisierungsbremse" Volksabstimmungen mit qualifizierten Mehrheiten. Hanno Beck und Aloys Prinz legen dar, dass Thomas Pikettys Daten zur Vermögensverteilung seine Behauptung eines "Erbschaftskapitalismus" nicht begründen können. Im Gegenteil, wie sie belegen, sind zwei Drittel der heutigen Dollar-Vermögensmilliardäre "self-made men".
Norbert Berthold und Klaus Gründler weisen nach, dass der in der Literatur behauptete negative Zusammenhang zwischen der Einkommensungleichheit und der sozialen Mobilität in einer größeren Stichprobe von Ländern nicht existiert. Sie versuchen, die internationalen Unterschiede in der sozialen Mobilität empirisch zu erklären.
Nicht deutlich wird dabei, dass die soziale Mobilität in einem Land auch deshalb gering sein kann, weil sein Bildungssystem besonders sorgfältig nach der Begabung selektiert. Denn wenn die Begabung zum Teil vererbungs- oder erziehungsbedingt vom Elternhaus abhängt, hat eine Selektion nach der Begabung zur Folge, dass die Einkommen der Eltern und der Kinder umso stärker positiv korreliert sind.
Fabian Schleithoff weist nach, dass im nordrhein-westfälischen Zentralabitur Gymnasiasten in 96,5 Prozent aller Prüfungen bessere Noten erhalten als Absolventen der Gesamtschulen. Die Differenz beträgt im Durchschnitt mehr als eine halbe Note, in den naturwissenschaftlichen Fächern sogar ziemlich genau eine ganze. Auch die Beiträge zum "Rent-Seeking" im Insiderhandel (Matthias Georg Will und Ingo Pies) und zu den Wettbewerbs- und Bail-out-Problemen im Profifußball (Nina Saldsieder und Dirk Wentzel) sind hochinteressant.
Schließlich enthält der Band Nachrufe auf Ronald Coase, Ernst Dürr und Hans Willgerodt, literaturkritische Aufsätze und Vorträge von Geoffrey Brennan, Wilhelm Meyer, Manfred Streit und Viktor Vanberg sowie 26 Buchbesprechungen. Vanberg wendet sich in seiner Röpke-Vorlesung gegen die liberale Kritik an der Demokratie. Er erinnert daran, dass sowohl der Liberalismus als auch die Demokratie die Präferenzen der einzelnen Bürger zum Maßstab nehmen. Da beide "gleichermaßen von einem normativen Individualismus als Wertprämisse ausgehen", seien sie "nicht nur miteinander vereinbar, sondern inhärent miteinander verknüpft".
Das ist richtig, aber die Gemeinsamkeit endet, wo Bürger von einer Mehrheit überstimmt werden, ohne für die betreffende Fragestellung dem Verfahren der einfachen Mehrheitsentscheidung in einem Gesellschaftsvertrag zugestimmt zu haben. Wo das Einstimmigkeitserfordernis nicht praktikabel ist, besteht ein inhärentes Spannungsverhältnis zwischen Liberalismus und Demokratie.
Aus liberaler Sicht setzen Beschränkungen der Freiheit einen breiten Konsens voraus, und die Aufgabe besteht darin, die Mehrheitsdemokratie in Richtung auf eine Konsensdemokratie fortzuentwickeln. Erst in einer solchen "deliberativen Demokratie" handelt der politische Diskurs nicht mehr nur vom Interesse der Mehrheit, sondern vom Gemeinwohl. Auch dieser ORDO-Band ist eine Fundgrube für jeden ordnungspolitisch interessierten Leser.
ROLAND VAUBEL
ORDO: Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft. Band 65. Lucius & Lucius. Stuttgart 2014, 516 Seiten, 110 Euro.
Der Verfasser ist Professor für Politische Ökonomie an der Universität Mannheim.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Erhellendes aus dem ORDO-Jahrbuch
"Der Primat der Politik hat versagt", schreibt Carl-Christian von Weizsäcker im jüngsten ORDO-Band. Demokratie sei als Staatsform nur dann funktionsfähig, wenn Wirtschaft und Wissenschaft nicht einem von der Politik definierten Gemeinwohl verpflichtet sind. Ohne wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Wettbewerb sei die Demokratie "zur Stagnation verurteilt". Umgekehrt setze aber auch "die Legitimität der Marktwirtschaft die deliberative Demokratie voraus" - also Meinungsfreiheit und politischen Wettbewerb.
Es folgen Beiträge zur Europa-Problematik. Markus C. Kerber äußert "bohrende Zweifel an der ordnungsökonomischen Funktionalität der Bankenunion". Er schreibt: "Während im System der bisherigen nationalen Bankenaufsicht ein Aufsichtsfehler finanzielle Konsequenzen für das Land oder für eine seiner Gebietskörperschaften mit sich brachte, die gegebenenfalls dem Steuerzahler zur Last fielen und vor ihm politisch zu rechtfertigen waren, sind die finanziellen Folgen der - verschuldeten oder unverschuldeten - Krise einer Bank nunmehr nicht klar zu verorten."
Außerdem sei die Wahrscheinlichkeit, dass rechtzeitig Alarm geschlagen werde, größer, wenn es mehrere voneinander unabhängige und miteinander wetteifernde nationale Aufseher gebe, als wenn nur ein einziger Wache halte, zumal sich dieser - die EZB - durch "politisch induzierte Abstinenz" auszeichne. Der deutschen Seite wirft Kerber vor, "wieder nur fachtechnisch, in der Sache hasenfüßig gegen die Pläne aus Brüssel argumentiert" zu haben.
Christian Fahrholz und Andreas Freytag üben scharfe Kritik an der Schuldenunion. Die Unwiderruflichkeit der Mitgliedschaft in der Währungsunion habe den Anreiz zu übermäßiger Verschuldung verstärkt. Weiterhin bemängeln die Autoren: "Das implizite Versprechen der Solidarität hat zu einem den Strukturwandel eher unterdrückenden Reformattentismus (bei abweichender Rhetorik) geführt. Diese Entwicklung wurde begleitet von einem enormen - und letztlich wirksamen - Druck auf die EZB, die fiskalische Lässigkeit und die Reformmüdigkeit mit billigem Zentralbankgeld zu alimentieren." Auch im Währungsbereich scheint der Primat der Politik wieder einmal eklatant versagt zu haben.
Ansgar Behlke wendet sich gegen das "Quantitative Easing" der EZB und weist darauf hin, dass die deutsche Volkswirtschaft als größter Nettogläubiger der Eurozone einen Einkommensverlust erleidet, wenn die Zinsen so niedrig sind.
Sechs Aufsätze zu anderen aktuellen wirtschaftspolitischen Themen schließen sich an. Christoph Schaltegger und Marc Winistörfer empfehlen als "Zentralisierungsbremse" Volksabstimmungen mit qualifizierten Mehrheiten. Hanno Beck und Aloys Prinz legen dar, dass Thomas Pikettys Daten zur Vermögensverteilung seine Behauptung eines "Erbschaftskapitalismus" nicht begründen können. Im Gegenteil, wie sie belegen, sind zwei Drittel der heutigen Dollar-Vermögensmilliardäre "self-made men".
Norbert Berthold und Klaus Gründler weisen nach, dass der in der Literatur behauptete negative Zusammenhang zwischen der Einkommensungleichheit und der sozialen Mobilität in einer größeren Stichprobe von Ländern nicht existiert. Sie versuchen, die internationalen Unterschiede in der sozialen Mobilität empirisch zu erklären.
Nicht deutlich wird dabei, dass die soziale Mobilität in einem Land auch deshalb gering sein kann, weil sein Bildungssystem besonders sorgfältig nach der Begabung selektiert. Denn wenn die Begabung zum Teil vererbungs- oder erziehungsbedingt vom Elternhaus abhängt, hat eine Selektion nach der Begabung zur Folge, dass die Einkommen der Eltern und der Kinder umso stärker positiv korreliert sind.
Fabian Schleithoff weist nach, dass im nordrhein-westfälischen Zentralabitur Gymnasiasten in 96,5 Prozent aller Prüfungen bessere Noten erhalten als Absolventen der Gesamtschulen. Die Differenz beträgt im Durchschnitt mehr als eine halbe Note, in den naturwissenschaftlichen Fächern sogar ziemlich genau eine ganze. Auch die Beiträge zum "Rent-Seeking" im Insiderhandel (Matthias Georg Will und Ingo Pies) und zu den Wettbewerbs- und Bail-out-Problemen im Profifußball (Nina Saldsieder und Dirk Wentzel) sind hochinteressant.
Schließlich enthält der Band Nachrufe auf Ronald Coase, Ernst Dürr und Hans Willgerodt, literaturkritische Aufsätze und Vorträge von Geoffrey Brennan, Wilhelm Meyer, Manfred Streit und Viktor Vanberg sowie 26 Buchbesprechungen. Vanberg wendet sich in seiner Röpke-Vorlesung gegen die liberale Kritik an der Demokratie. Er erinnert daran, dass sowohl der Liberalismus als auch die Demokratie die Präferenzen der einzelnen Bürger zum Maßstab nehmen. Da beide "gleichermaßen von einem normativen Individualismus als Wertprämisse ausgehen", seien sie "nicht nur miteinander vereinbar, sondern inhärent miteinander verknüpft".
Das ist richtig, aber die Gemeinsamkeit endet, wo Bürger von einer Mehrheit überstimmt werden, ohne für die betreffende Fragestellung dem Verfahren der einfachen Mehrheitsentscheidung in einem Gesellschaftsvertrag zugestimmt zu haben. Wo das Einstimmigkeitserfordernis nicht praktikabel ist, besteht ein inhärentes Spannungsverhältnis zwischen Liberalismus und Demokratie.
Aus liberaler Sicht setzen Beschränkungen der Freiheit einen breiten Konsens voraus, und die Aufgabe besteht darin, die Mehrheitsdemokratie in Richtung auf eine Konsensdemokratie fortzuentwickeln. Erst in einer solchen "deliberativen Demokratie" handelt der politische Diskurs nicht mehr nur vom Interesse der Mehrheit, sondern vom Gemeinwohl. Auch dieser ORDO-Band ist eine Fundgrube für jeden ordnungspolitisch interessierten Leser.
ROLAND VAUBEL
ORDO: Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft. Band 65. Lucius & Lucius. Stuttgart 2014, 516 Seiten, 110 Euro.
Der Verfasser ist Professor für Politische Ökonomie an der Universität Mannheim.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main