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Die aktuellen Militäreinsätze westlicher Streitkräfte in Drittweltländern wie Afghanistan, Irak oder Mali gelten als »neue Kriege«. Bei genauer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass sie in einer 500-jährigen Tradition transkultureller Gewaltkonflikte stehen.
Dierk Walter untersucht erstmals systematisch und über einen langen Zeitraum die Rolle, die Erscheinungsformen und die Logik organisierter Gewalt als Mittel der europäischen Expansion. Die Rekonstruktion von Grundbedingungen, Konfliktmustern, Kriegszielen und Ursachen der Entgrenzung von Gewalt lassen deutliche Parallelen zwischen…mehr

Produktbeschreibung
Die aktuellen Militäreinsätze westlicher Streitkräfte in Drittweltländern wie Afghanistan, Irak oder Mali gelten als »neue Kriege«. Bei genauer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass sie in einer 500-jährigen Tradition transkultureller Gewaltkonflikte stehen.

Dierk Walter untersucht erstmals systematisch und über einen langen Zeitraum die Rolle, die Erscheinungsformen und die Logik organisierter Gewalt als Mittel der europäischen Expansion. Die Rekonstruktion von Grundbedingungen, Konfliktmustern, Kriegszielen und Ursachen der Entgrenzung von Gewalt lassen deutliche Parallelen zwischen verschiedenen Imperien sowie Kontinuitäten über die Epochengrenzen hinweg sichtbar werden.
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Autorenporträt
Dierk Walter, PD Dr. phil., Historiker, war von 2001 bis 2015 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.03.2015

Erst im Gewaltakt lernt man voneinander

Völkermord an den Einheimischen war nicht vorgesehen: Der Historiker Dierk Walter sieht in den kolonialen Kriegen der europäischen Mächte ein Vorspiel heutiger Interventionspolitik des Westens.

Die Geschichte der Moderne ist keine Geschichte des Westens mehr. Zu deutlich hat eine Fülle neuerer Studien, die die Expansion Europas in die außereuropäische Welt untersuchten, gezeigt, dass dieses Phänomen nicht nur zeitlich begrenzt war, sondern auch räumlich wie gesellschaftlich von der Dynamik der lokalen Gesellschaften in Afrika, Asien, Australien oder in den Amerikas abhing. Wie weiße Händler, Soldaten, Siedler oder Missionare diese Räume seit 1500 zu erobern und erschließen suchten, war vielfältig. Kriege, Handelsnetzwerke, Siedlerkolonien oder Infrastrukturen waren nur einige Mittel, zu denen die Vertreter europäischer Empires griffen, um große Teile der außereuropäischen Welt in ihren Machtbereich zu bringen.

Dass sie vor Ort dabei oft scheiterten und keineswegs imstande waren, die ethnischen Gruppen oder regionalen Fürstentümer stabil zu unterwerfen, ja, dass in der konkreten Begegnung vor Ort vielmehr "die langen Arme und schwachen Finger" imperialer Macht (F. Cooper) zutage traten, das hat die Forschung der letzten zwei Jahrzehnte überzeugend verdeutlicht. Um außereuropäische Gesellschaften zu kolonisieren, griffen alle europäischen Empires auch zum Mittel organisierter Gewalt.

Diesem Phänomen hat sich der in Hamburg und Bern lehrende Globalhistoriker Dierk Walter in seiner Studie zu den kolonialen Kriegen europäischer Empires zugewandt, die er durchweg in eine Tradition mit den Interventionen westlicher Mächte in der Gegenwart stellt. Im ersten Kapitel seiner Studie arbeitet er die spezifischen Bedingungen kolonialer Kriege heraus, die vor allem in der Herausforderung riesiger, unbekannter Räume, schwieriger Logistik und eines Gegners bestanden, der meist nicht staatlich organisiert war. Die Größe des Kongobeckens beispielsweise, das der belgische König Leopold II. um 1900 ökonomisch auszubeuten suchte, entsprach der Ausdehnung Europas von London bis zur Wolga; das französisch beherrschte Algerien war im zwanzigsten Jahrhundert fünfmal so groß wie Frankreich.

Dies führte dazu, dass die Initiative zur Gewalt in der Peripherie fast immer von den Akteuren vor Ort ausging. Alle Konflikte zwischen europäischen und indigenen Gruppen wurden dann gewaltsam, wenn Erstere mehr wollten, als Letztere geben wollten: Nahrung, Land, Rohstoffe oder Kontrolle. Doch die Ziele, die europäische Empires mit ihrem Gewalteinsatz an der Peripherie verfolgten, waren, wie Walter im zweiten Kapitel überzeugend zeigt, normalerweise nicht auf die völlige Unterwerfung oder den Genozid der indigenen Gruppen gerichtet, zumal letztere häufig selbst Initiatoren der Gewalt waren.

Der These "totaler Gewalt", die in typischen Kolonialkriegen entfesselt worden sei, wie Isabel Hull in ihrer Studie "Absolute Destruction" (2005) es für die deutsche Kolonialherrschaft behauptete, setzt Walter im dritten Kapitel ein nuanciertes Bild jener "Grenzüberschreitungen" entgegen, die eher typisch für Kolonialkriege waren. Die indigene Zivilbevölkerung ebenso wie die spezifische Landschaft wurden in die europäische Kriegführung miteinbezogen, was in Europa vor 1914 nicht üblich war. Doch die Brutalisierung dieser dauernden niederschwelligen Kriege erklärt sich anders.

Die gegenseitige Unkenntnis des jeweiligen Regelwerks, wie Kriege geführt wurden, die Erfahrung einer enormen kulturellen Distanz auf beiden Seiten, führten dazu, dass jeder den Konflikt so betrieb, wie er ihn verstand. Eine besondere Entgrenzung von Gewalt initiierten Siedler, deren Anspruch auf Land sie zu den erbittertsten Gegnern der Land nutzenden Bevölkerung Australiens, Algeriens oder Südafrikas machten.

Unterstreichen diese Ergebnisse die Resultate einzelner Fallstudien der letzten Jahre jetzt für den Gesamtzusammenhang europäischer Expansion, so greift das vierte Kapitel eine Frage auf, die erst jüngst diskutiert wird. Inwieweit lernten die Gegner voneinander? Walters Argument ist, dass westliche Empires und nichtwestliche Kulturen gerade im Gewaltkontakt voneinander lernten und den europäischen Gewaltakteuren daher immer häufiger Streitkräfte wie beispielsweise die neuseeländischen Maori gegenübertraten, die im Stil der westlichen Moderne organisiert waren und über Infanterie und Artillerie verfügten. Dass diese Übernahmen nur dann wirklich funktionierten, wo nichteuropäische Staaten zur völligen gesellschaftlichen Modernisierung bereit waren, dafür liefert das russische Zarenreich ein besonders eindringliches Beispiel, das die Studie nicht anführt, obgleich es ihr Argument gestärkt hätte.

Der charismatische Imam Schamil baute in den 1830er und 1840er Jahren im Kaukasus einen veritablen islamischen Staat auf und vermochte es, Tschetschenen und Dagestaner durch eine völlige Neuorganisation der Gesellschaft und die Ausrufung eines Dschihads gegen die christlichen Russen in eine reguläre Wehrpflichtarmee zu integrieren, die der russischen imperialen Armee über fünfundzwanzig Jahre sehr erfolgreich widerstand. Derartige Beispiele aus kontinentaleuropäischen Empires wie dem Zarenreich, der Habsburgermonarchie oder dem Osmanischen Reich, welche die Studie kaum berücksichtigt, hätte man gern mehr gelesen, nicht zuletzt, um die Vorstellung, europäische Expansion sei eine Sache des Westens, auch vom Osten her dekonstruiert zu sehen: Sie fand strukturell ebenso an den Rändern Europas wie in Eurasien statt.

In seinem Fazit bündelt der Autor noch mal die Variablen, die für Sieg oder Niederlage verantwortlich waren, und macht überzeugend klar, dass weder die - meist überlegene - Waffentechnik der Europäer noch ihre militärischen Siege, sondern dass eher andere, nichtmilitärische Faktoren wie partielle Kollaboration oder Handelsabkommen dafür verantwortlich waren, dass die europäische Expansion so weit ging, wie sie ging.

So viel wir seiner Studie an Überblick und Typologie verdanken, so wirft sie doch auch Fragen auf, die in der gegenwärtigen Herausforderung, Globalgeschichte zu schreiben, angelegt sind. Denn ein großer Überblick, der vieles nennt und einordnet, doch dann nicht mehr dicht beschreiben oder tief analysieren kann, ist auch in der Gefahr, seinen Gegenstand einem unkundigen, aber neugierigen Leser nicht mehr anschaulich nahezubringen. Zudem mag die hier vermittelte Deutung "böser" Imperien versus "unschuldiger" indigener Gesellschaften zwar politisch verständlich sein, doch öffnet sie nicht gerade der herablassenden europäischen Perspektive, in der die nichtwestliche Welt als wenig handlungsfähig und "vormodern" erscheint, wieder eine Tür, die Historiker gerade zu schließen beginnen?

Auch die lineare Tradition, in der Walter die Kolonialkriege der Frühen Neuzeit und des neunzehnten Jahrhunderts mit den heutigen Militäreinsätzen westlicher Streitkräfte in Afghanistan oder Mali stellt, unterstreicht Deutungen, die die Beziehungen zwischen Europa und der außereuropäischen Welt nach wie vor als Einbahnstraße begreifen.

Doch zeigen nicht gerade die letzten Jahrzehnte überdeutlich das Potential der nichtwestlichen Welt zu Innovation, Transfer und Revolution? Ebenso wie sie auch zeigen, dass terroristische Gewalt von dort in die Metropolen Europas getragen werden kann. Und müssen wir uns von der einseitigen Flussrichtung von Macht, die auch Walters Studie letztlich vermittelt, nicht wirklich verabschieden? Eine "Provinzialisierung Europas", wie sie Dipesh Chakrabarty gefordert hat, heißt nicht, Gut und Böse nach Kontinenten zu verorten, sondern könnte darin bestehen, die Mischprodukte an den Peripherien der Empires auf ihren spezifischen europäischen wie indigenen Anteil hin zu untersuchen wie auch die langfristigen Rückwirkungen kolonialer Herrschaft in Europa selbst unter die Lupe zu nehmen. Zu solchen Ansätzen, Moderne nicht mehr als europäisches Modell zu sehen, sondern zu entterritorialisieren, regt Walters Studie allemal an.

ULRIKE VON HIRSCHHAUSEN

Dierk Walter: "Organisierte Gewalt in der europäischen Expansion". Gestalt und Logik des Imperialkriegs.

Hamburger Edition, Hamburg 2015. 414 S., geb., 32,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Interessiert folgt Ulrike von Hirschhausen den Darlegungen des Globalhistorikers Dierk Walter, der die kolonialen Kriege der europäischen Mächte als Vorläufer der heutigen westlichen Interventionspolitik betrachtet. Und so liest die Rezensentin hier über Bedingungen und Folgen kolonialer Kriege, zeigt sich überzeugt von Walters Bild der "Grenzüberschreitung" der Kolonialherren, welches er der absoluten Gewalt gegenüberstellt und erfährt, dass die Gegner auch voneinander lernten. Während der Lektüre muss die Kritikerin allerdings feststellen, dass der Autor Beispiele aus kontinentaleuropäischen Empires vernachlässigt, darüber hinaus vermisst sie in dieser überblicksreichen Studie nicht nur Antworten auf sich ergebende Herausforderungen, sondern hätte sich auch einen differenzierten Blick auf die bisher angenommene einseitige - westliche - Richtung der Macht gewünscht.

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