Atemberaubende Abenteuer auf hoher SeeIm Mittelpunkt des Romans steht die zehnjährige Emily Bas-Thornton. Sie lebt mit ihrer Familie auf Jamaika, doch als ein Orkan über die Insel hinwegfegt und das Wohnhaus der Familie davonträgt, beschließen die Eltern, ihre Kinder nach England heimzuschicken. John, Emily und die 'Krümel' werden einem Schiff anvertraut, das jedoch gekapert wird. Die Kinder bleiben durch eine Verknüpfung unglücklicher Umstände an Bord des Schiffes mit den überaus freundlichen Piraten ... und erleben in der Folge zahlreiche Abenteuer, ehe sie an Bord eines Dampfers nach England gelangen. Richard Hughes erzählt in einem atemberaubenden Abenteuerroman, dass das Berüchtigte keineswegs so gefährlich und das Unschuldige so harmlos ist, wie es den Anschein macht.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Richard Hughes gilt es wiederzuentdecken, ruft Rezensent Jürgen Brôcan nach der Lektüre dieser neuen Übersetzung des im Original bereits 1929 erschienenen, damals sehr erfolgreichen Abenteuerromans, der von der turbulenten Schiffsreise zweier Jugendlicher von Jamaica zurück nach England handelt. Den, wahrscheinlich ohnehin ironisch gemeinten, Zugeständnissen an den Jugendroman zum Trotz handelt es sich um das raffinierte Werk eines Literaten "von Weltrang", unterstreicht Brôcan in aller Deutlichkeit. Dabei besticht es vor allem als Kritik an den Vorstellungen des Erziehungsromans: Lange vor "Der Herr der Fliegen" treffen wir hier auf Jugendliche, die sich in ihrem Handeln bald als unberechenbar und unmoralisch entpuppen. Dabei gelingen dem Autor bei der Schilderung "körperlicher und sensorischer Empfindungen Passagen von dokumentarischer Nüchternheit", lobt der Kritiker.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.12.2013Ein Sturm mit sieben Köpfen
Die kargen Freuden des freien Seeräuberberufs, geschildert mit schwärzestem Humor: Michael Walter übersetzt "Orkan über Jamaika" von Richard Hughes neu.
Irgendwann in diesem Buch - sein künftiger Leser wird danken, wenn er es nicht genauer weiß - stirbt eine Hauptfigur. Einfach so, mitten in einem recht harmlosen Geschehen, stürzt sie ab und bricht sich das Genick. Darauf verwendet Richard Hughes ein paar Sätze, dann ist die Handlung schon wieder woanders, und das Kapitel endet mit einer kurzen Reminiszenz an den Gestorbenen: "Weder jetzt noch irgendwann später wurde sein Name jemals wieder erwähnt; und wäre man mit den Kindern noch so vertraut gewesen, man hätte ihnen nie angemerkt, dass er überhaupt existiert hatte."
Das ist eine der vielen grausamen Passagen eines extrem unterhaltsamen Buchs, das seine Brutalität in solch erzählerische Leichtigkeit zu verpacken weiß, dass einem Hören und Lesen vergeht. Erschienen ist es 1929, als erster Roman des damals noch keine dreißig Jahre alten Walisers Richard Hughes, und zunächst trug es bei seinem amerikanischen Verlag den kongenialen Titel "The Innocent Voyage". Noch im selben Jahr aber wurde es auch in der britischen Heimat von Hughes publiziert, und aus diesem Anlass änderte der Verfasser den Titel in das zweifellos reißerische "A High Wind in Jamaica". Das Buch wurde weltbekannt, kam 1943 auf die Bühne und 1965 mit den Stars Anthony Quinn und James Coburn auch auf die Leinwand; auf Deutsch trug dieser Film den Namen "Sturm über Jamaika".
Übersetzt wurde das Buch aber erst 1973, von Annemarie Seidel. Genau vierzig Jahre danach hat sich jetzt mit Michael Walter ein Star der Übersetzerzunft der Vorlage neu angenommen, nachdem im Vorjahr schon "In Bedrängnis", Hughes' 1938 geschriebener zweiter Roman, in Walters Übertragung erschienen war (F.A.Z. vom 7. August 2012) - ein fabelhaftes literarisches Seestück, das an psychologischer wie meteorologischer Präzision nichts zu wünschen übriglässt. Darin tobt in der Karibik ein fürwahr vernichtender Sturm, für den Hughes den Titel seines Debütromans gut hätte brauchen können. Aber der war ja schon verschwendet.
Verschwendet deshalb, weil der titelgebende Orkan (Annemarie Seidel wählte noch den poetischen "Sturmwind") auf Seite 40 des Erstlings bereits vorbei ist. Er wird großartig beschrieben (gerade auch in Walters deutschen Worten), doch dramaturgisch dient das Unwetter nur dazu, den unbegleiteten Aufbruch der fünf Kinder der auf Jamaika lebenden englischen Familie Bas-Thornton plausibel zu machen. Die Eltern wollen das um 1860 in einem Sturm zerstörte Gut wieder aufbauen, die drei- bis zehnjährigen Kleinen sollen in der Zwischenzeit zu Verwandten nach England geschickt werden. Leider vertraut man sie unzuverlässigen Seefahrern an. Was dann geschieht, das füllt die restlichen 210 Seiten des Buchs.
Die ursprüngliche Benennung als "Unschuldige Reise" war deshalb der bessere Titel, weil er auf den Punkt bringt, was Hughes erzählt: Sieben Kinder (zu den Bas-Thorntons stoßen noch ein halbwüchsiges Mädchen und ihr kleiner Bruder aus der Nachbarschaft) befinden sich ohne eigenes Verschulden plötzlich in der Gesellschaft von Piraten, sehen das Ganze aber als großes Spiel an. Das ist phantastisch entwickelt, weil die kindliche Teilperspektive, die Hughes mit geradezu gnadenloser Konsequenz einnimmt, immer wieder gebrochen wird durch seine kühle Ironie bei der Schilderung der Vertreter eines freien Seeräuberberufs, der im späteren neunzehnten Jahrhundert zu einem recht kläglichen Gewerbe verkommen ist. Captain Jonsen aus Dänemark und sein österreichischer Steuermann Otto bilden ein groteskes Gespann, das kaum weniger kindisch agiert als John, Emily, Rachel, Edward und Laura Bas-Thornton oder die sie begleitenden Margaret und Harry Fernandez. Das jugendliche Septett wirbelt das Piratenschiff gehörig durcheinander, die Kinder sind selbst ein Orkan aus Jamaika. An Zerstörungskraft jedenfalls nehmen sie es locker mit dem Sturm auf.
Mit Hughes könnte man diese Feststellung wie folgt kommentieren: "Natürlich stimmt dieses Schema so nicht; aber häufig lässt sich die Wahrheit nur darstellen, indem man sie wie ein Kartenhaus aus einem Stapel Lügen konstruiert." Genauso ist die Handlung des Romans gebaut: als höchst fragiles Gebilde aus lauter Lügen, die aber nicht aus Bosheit, sondern eben aus kindlicher Unschuld erfolgen. Dass den Kindern auch selbst übel mitgespielt wird, führte bei seiner Erstpublikation zu breiter Ablehnung: So wollte man die lieben Kleinen weder behandelt noch porträtiert sehen. Heute erweist sich das Buch als ein Musterbeispiel schwarzen britischen Humors, das ohne Moral auskommt und gerade deshalb ein bestechendes Abbild menschlicher Schwächen bietet. Und eine wundervoll kurzweilige Lektüre.
ANDREAS PLATTHAUS
Richard Hughes: "Orkan über Jamaika". Roman.
Aus dem Englischen von Michael Walter. Dörlemann Verlag, Zürich 2013. 255 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die kargen Freuden des freien Seeräuberberufs, geschildert mit schwärzestem Humor: Michael Walter übersetzt "Orkan über Jamaika" von Richard Hughes neu.
Irgendwann in diesem Buch - sein künftiger Leser wird danken, wenn er es nicht genauer weiß - stirbt eine Hauptfigur. Einfach so, mitten in einem recht harmlosen Geschehen, stürzt sie ab und bricht sich das Genick. Darauf verwendet Richard Hughes ein paar Sätze, dann ist die Handlung schon wieder woanders, und das Kapitel endet mit einer kurzen Reminiszenz an den Gestorbenen: "Weder jetzt noch irgendwann später wurde sein Name jemals wieder erwähnt; und wäre man mit den Kindern noch so vertraut gewesen, man hätte ihnen nie angemerkt, dass er überhaupt existiert hatte."
Das ist eine der vielen grausamen Passagen eines extrem unterhaltsamen Buchs, das seine Brutalität in solch erzählerische Leichtigkeit zu verpacken weiß, dass einem Hören und Lesen vergeht. Erschienen ist es 1929, als erster Roman des damals noch keine dreißig Jahre alten Walisers Richard Hughes, und zunächst trug es bei seinem amerikanischen Verlag den kongenialen Titel "The Innocent Voyage". Noch im selben Jahr aber wurde es auch in der britischen Heimat von Hughes publiziert, und aus diesem Anlass änderte der Verfasser den Titel in das zweifellos reißerische "A High Wind in Jamaica". Das Buch wurde weltbekannt, kam 1943 auf die Bühne und 1965 mit den Stars Anthony Quinn und James Coburn auch auf die Leinwand; auf Deutsch trug dieser Film den Namen "Sturm über Jamaika".
Übersetzt wurde das Buch aber erst 1973, von Annemarie Seidel. Genau vierzig Jahre danach hat sich jetzt mit Michael Walter ein Star der Übersetzerzunft der Vorlage neu angenommen, nachdem im Vorjahr schon "In Bedrängnis", Hughes' 1938 geschriebener zweiter Roman, in Walters Übertragung erschienen war (F.A.Z. vom 7. August 2012) - ein fabelhaftes literarisches Seestück, das an psychologischer wie meteorologischer Präzision nichts zu wünschen übriglässt. Darin tobt in der Karibik ein fürwahr vernichtender Sturm, für den Hughes den Titel seines Debütromans gut hätte brauchen können. Aber der war ja schon verschwendet.
Verschwendet deshalb, weil der titelgebende Orkan (Annemarie Seidel wählte noch den poetischen "Sturmwind") auf Seite 40 des Erstlings bereits vorbei ist. Er wird großartig beschrieben (gerade auch in Walters deutschen Worten), doch dramaturgisch dient das Unwetter nur dazu, den unbegleiteten Aufbruch der fünf Kinder der auf Jamaika lebenden englischen Familie Bas-Thornton plausibel zu machen. Die Eltern wollen das um 1860 in einem Sturm zerstörte Gut wieder aufbauen, die drei- bis zehnjährigen Kleinen sollen in der Zwischenzeit zu Verwandten nach England geschickt werden. Leider vertraut man sie unzuverlässigen Seefahrern an. Was dann geschieht, das füllt die restlichen 210 Seiten des Buchs.
Die ursprüngliche Benennung als "Unschuldige Reise" war deshalb der bessere Titel, weil er auf den Punkt bringt, was Hughes erzählt: Sieben Kinder (zu den Bas-Thorntons stoßen noch ein halbwüchsiges Mädchen und ihr kleiner Bruder aus der Nachbarschaft) befinden sich ohne eigenes Verschulden plötzlich in der Gesellschaft von Piraten, sehen das Ganze aber als großes Spiel an. Das ist phantastisch entwickelt, weil die kindliche Teilperspektive, die Hughes mit geradezu gnadenloser Konsequenz einnimmt, immer wieder gebrochen wird durch seine kühle Ironie bei der Schilderung der Vertreter eines freien Seeräuberberufs, der im späteren neunzehnten Jahrhundert zu einem recht kläglichen Gewerbe verkommen ist. Captain Jonsen aus Dänemark und sein österreichischer Steuermann Otto bilden ein groteskes Gespann, das kaum weniger kindisch agiert als John, Emily, Rachel, Edward und Laura Bas-Thornton oder die sie begleitenden Margaret und Harry Fernandez. Das jugendliche Septett wirbelt das Piratenschiff gehörig durcheinander, die Kinder sind selbst ein Orkan aus Jamaika. An Zerstörungskraft jedenfalls nehmen sie es locker mit dem Sturm auf.
Mit Hughes könnte man diese Feststellung wie folgt kommentieren: "Natürlich stimmt dieses Schema so nicht; aber häufig lässt sich die Wahrheit nur darstellen, indem man sie wie ein Kartenhaus aus einem Stapel Lügen konstruiert." Genauso ist die Handlung des Romans gebaut: als höchst fragiles Gebilde aus lauter Lügen, die aber nicht aus Bosheit, sondern eben aus kindlicher Unschuld erfolgen. Dass den Kindern auch selbst übel mitgespielt wird, führte bei seiner Erstpublikation zu breiter Ablehnung: So wollte man die lieben Kleinen weder behandelt noch porträtiert sehen. Heute erweist sich das Buch als ein Musterbeispiel schwarzen britischen Humors, das ohne Moral auskommt und gerade deshalb ein bestechendes Abbild menschlicher Schwächen bietet. Und eine wundervoll kurzweilige Lektüre.
ANDREAS PLATTHAUS
Richard Hughes: "Orkan über Jamaika". Roman.
Aus dem Englischen von Michael Walter. Dörlemann Verlag, Zürich 2013. 255 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.12.2013Biester an Bord
Richard Hughes’ „Orkan über Jamaika“ ist ein schwarzer Bildungsroman im
romantischen Gewand einer Piratengeschichte – Zeit für eine Wiederentdeckung
VON CHRISTOPHER SCHMIDT
Wer ist dieses „Ich“, das sich nur zwei Mal zu Wort meldet, ganz am Anfang und ganz am Ende des Romans? Dass es sich hierbei um keine Nachlässigkeit handelt, sondern um eine bewusste Setzung des walisischen Autors Richard Hughes (1900-1976), zeigt schon der Vergleich. Denn in dem zehn Jahre nach seinem 1929 erschienenen Bestseller „Orkan über Jamaika“ entstandenem Roman „In Bedrängnis“ hat er es ganz genauso gemacht. Beide Bücher sind aus der Perspektive eines allwissenden Erzählers geschrieben, und doch gibt es hier wie dort eine rahmensetzende Subjektivität, die den auktorialen Anspruch der Führungsstimme konterkariert.
Am ehesten ließe sich dieses Ich noch dem Schiffsäffchen zuordnen, das in beiden Seeabenteuern eine Rolle spielt. Dieses koboldhafte Maskottchen ist so etwas wie das Wappentier des Autors, der sich eine betont nicht-empathische Sicht auf die menschlichen Tragödien, von denen er berichtet, zu eigen macht. Denn um das Tier im Menschen zu erkennen, wie es Hughes sich vorgenommen hatte, muss man wohl selbst zum Zoologen werden – als distant writing könnte man seine literarische Methode bezeichnen.
Folglich gibt es in seinem Roman zwei Wahrheiten: die offizielle, allgemein ratifizierte Version der Geschichte und eine unterdrückte Gegenerzählung, die der ersten zuwiderläuft. So erweist sich etwa der Brief, in dem der Kapitän des gekaperten Schiffes den Überfall darstellt, aus Sicht der Piraten als blanke Lüge: Weder verfügt ihr Schiff über Kanonen – vielmehr hatten sich die Seeräuber anderer Waffen bedient und sich als Frauen verkleidet, noch wurde Gewalt angewendet oder gar irgendjemand getötet.
Diese gegensätzlichen Lesarten in ein Spannungsverhältnis zu bringen, darin besteht nicht nur das durchtriebene Erzählprinzip von Richard Hughes, sondern auch dessen eminente Modernität. Man übersieht das leicht, da der Roman unter der falschen Flagge der Genreliteratur segelt. Dabei ist diese Frage nach dem Status des Dargestellten sogar sein eigentliches Thema. Nur klappert der Autor eben nicht mit dem nackten Skelett der Theorie, sondern behängt es mit dem üppigen Fleisch von reicher Motivik und überbordendem Exotismus. Durch die doppelte Perspektive aber erlaubt er sich einen metafiktionalen Scherz, um auf die Brüchigkeit allen Erzählens hinzuweisen.
Wer den Roman als das liest, was er unter seiner motivischen Oberfläche ist, nämlich eine beinharte Kritik am viktorianischen Erziehungs- und Zivilisationsideal, wird sich über die Nonchalance nicht mehr wundern, mit der Hughes durch verschiedene Erzählwelten streift. Es beginnt mit einem Sittenbild englischer Kolonisten auf Jamaika in den 1860er Jahren. Allein die Tatsache, dass die Beine des großen Mahagoni-Esstischs der Familie Bas-Thornton in mit Öl gefüllten Schälchen ruhen, um nicht in kürzester Zeit von Ameisen pulverisiert zu werden, ist schon ein Sinnbild für die tönernen Füße, auf denen das gesamte britische Empire steht. Und wer gelesen hat, wie suggestiv Hughes die hypnotische Wirkung eines Erdbebens zu beschreiben vermag oder die geradezu halluzinogene Intensität der übermächtigen Natur, wird der lateinamerikanischen Literatur künftig gelassener begegnen – auf den magischen Realismus, das beweist dieser Autor, gibt es kein Copyright.
Nach einem verheerenden Orkan, wie ihn gerade die Philippinen erlebt haben, beschließen die Bas-Thorntons und ihre kreolischen Nachbarn, die Kinder beider Familien nach England zu schicken. Vor der kubanischen Küste wird die Clorinda jedoch aufgebracht, und die Kleinen fallen in die Hände von Piraten. An Bord kommt es zu einem bedeutsamen Quid pro quo. Während die Seeleute in einer Art umgekehrtem Stockholm-Syndrom die Geiseln mehr und mehr in ihr narbenreiches Herz schließen, führen die wilden Kinder bald das Kommando an Bord, eine Tyrannei des Infantilen greift um sich. Gutmütig sind diese Freibeuter ohnehin, Hughes charakterisiert eine marginalisierte Berufsgruppe, Geringbeschäftigte in einem prekär gewordenen Geschäftsfeld, einem sunset business, wie man heute sagen würde. Ihr Schiff muss man sich nicht als schaurig-schöne Totenkopf-Fregatte vorstellen, sondern als schwimmende Männer-WG – die Homosexualität unter Deck deutet Hughes dezent, aber klar genug an.
Rohe Gesellen sind das zwar, die aber doch genau spüren, dass der noch unentwickelte moralische Sinn der Kinder, gepaart mit dem Hang zur räuberromantischen Dramatisierung, sie Kopf und Kragen kosten könnte. Hier setzt Hughes an mit seiner Kritik an einem rousseauistisch verklärten Bild kindlicher Unschuld. Kinder, so Hughes’ immer noch provozierende These, sind Zwischenwesen, halb Tier, halb Mensch: „Es stimmt, sie sehen menschlich aus – aber nicht so menschlich, muss man gerechterweise sagen, wie viele Affen“. Kinder sind für ihn nicht unmoralisch, sondern amoralisch, sie stehen jenseits von Gut und Böse. „Inmitten der vertrauten Relikte des Babybewusstseins“, schreibt Hughes, lebte der Kinderverstand „wie ein Faschist in Rom“.
Besonders die Älteste, die zehnjährige Emily, wird einem zunehmend unheimlich. Nachdem die Piraten die Kinder freiwillig ausgeliefert haben und kurz darauf gefangen genommen worden sind, ist sie es, die dafür sorgt, dass der doch eigentlich heißgeliebte Kapitän Jonsen, der von einem ruhigen Lebensabend am Lübecker Kachelofen geträumt hatte, und seine Mannen zum Tode verurteilt werden. Munitioniert aber wird ihre Aussage im Prozess von den Projektionen der puritanischen Erwachsenen, die ihre eigenen, unterdrückten Missbrauchs- und Gewaltphantasien auf die Piraten übertragen.
Richard Hughes war ein Schriftsteller, der den dandyesken Oxfordman, den Star-Autor und den Abenteurer in sich vereinte. Mit „Orkan über Jamaika“ hat er einen – trotz seines Erfolges und einer Verfilmung mit Anthony Quinn und James Coburn – vergessenen Klassikers der Moderne geschrieben, ein Buch, das für William Goldings „Herr der Fliegen“ den Weg ebnete. Lange war der Roman nur antiquarisch greifbar, in einer keineswegs reizlosen, wenn auch altertümlichen und ungenauen Übersetzung von Annemarie Seidel. Nach „In Bedrängnis“ hat Michael Walter nun auch dem Hauptwerk von Richard Hughes eine Sprachgestalt gegeben, die dessen poetische Leuchtkraft, ätzende Ironie und nautische Detailfreude kongenial zur Geltung bringt. Wiederzuentdecken ist keine behäbige Abenteuer-Schwarte, sondern ein immer noch zutiefst beunruhigender, rabenschwarzer Bildungsroman.
Wer Hughes’ Naturschilderungen
kennt, wird dem magischen
Realismus gelassener begegnen
„,Otto! Mein Lieber. . .!“ Anthony Quinn und James Coburn als Kapitän und erster Maat in der Verfilmung des Romans von 1965. Foto: Carol Media Home Entertainment
Richard Hughes: Orkan über Jamaika. Roman. Aus dem Englischen von Michael Walter. Dörlemann Verlag, Zürich 2013. 256 Seiten,
19,90 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Richard Hughes’ „Orkan über Jamaika“ ist ein schwarzer Bildungsroman im
romantischen Gewand einer Piratengeschichte – Zeit für eine Wiederentdeckung
VON CHRISTOPHER SCHMIDT
Wer ist dieses „Ich“, das sich nur zwei Mal zu Wort meldet, ganz am Anfang und ganz am Ende des Romans? Dass es sich hierbei um keine Nachlässigkeit handelt, sondern um eine bewusste Setzung des walisischen Autors Richard Hughes (1900-1976), zeigt schon der Vergleich. Denn in dem zehn Jahre nach seinem 1929 erschienenen Bestseller „Orkan über Jamaika“ entstandenem Roman „In Bedrängnis“ hat er es ganz genauso gemacht. Beide Bücher sind aus der Perspektive eines allwissenden Erzählers geschrieben, und doch gibt es hier wie dort eine rahmensetzende Subjektivität, die den auktorialen Anspruch der Führungsstimme konterkariert.
Am ehesten ließe sich dieses Ich noch dem Schiffsäffchen zuordnen, das in beiden Seeabenteuern eine Rolle spielt. Dieses koboldhafte Maskottchen ist so etwas wie das Wappentier des Autors, der sich eine betont nicht-empathische Sicht auf die menschlichen Tragödien, von denen er berichtet, zu eigen macht. Denn um das Tier im Menschen zu erkennen, wie es Hughes sich vorgenommen hatte, muss man wohl selbst zum Zoologen werden – als distant writing könnte man seine literarische Methode bezeichnen.
Folglich gibt es in seinem Roman zwei Wahrheiten: die offizielle, allgemein ratifizierte Version der Geschichte und eine unterdrückte Gegenerzählung, die der ersten zuwiderläuft. So erweist sich etwa der Brief, in dem der Kapitän des gekaperten Schiffes den Überfall darstellt, aus Sicht der Piraten als blanke Lüge: Weder verfügt ihr Schiff über Kanonen – vielmehr hatten sich die Seeräuber anderer Waffen bedient und sich als Frauen verkleidet, noch wurde Gewalt angewendet oder gar irgendjemand getötet.
Diese gegensätzlichen Lesarten in ein Spannungsverhältnis zu bringen, darin besteht nicht nur das durchtriebene Erzählprinzip von Richard Hughes, sondern auch dessen eminente Modernität. Man übersieht das leicht, da der Roman unter der falschen Flagge der Genreliteratur segelt. Dabei ist diese Frage nach dem Status des Dargestellten sogar sein eigentliches Thema. Nur klappert der Autor eben nicht mit dem nackten Skelett der Theorie, sondern behängt es mit dem üppigen Fleisch von reicher Motivik und überbordendem Exotismus. Durch die doppelte Perspektive aber erlaubt er sich einen metafiktionalen Scherz, um auf die Brüchigkeit allen Erzählens hinzuweisen.
Wer den Roman als das liest, was er unter seiner motivischen Oberfläche ist, nämlich eine beinharte Kritik am viktorianischen Erziehungs- und Zivilisationsideal, wird sich über die Nonchalance nicht mehr wundern, mit der Hughes durch verschiedene Erzählwelten streift. Es beginnt mit einem Sittenbild englischer Kolonisten auf Jamaika in den 1860er Jahren. Allein die Tatsache, dass die Beine des großen Mahagoni-Esstischs der Familie Bas-Thornton in mit Öl gefüllten Schälchen ruhen, um nicht in kürzester Zeit von Ameisen pulverisiert zu werden, ist schon ein Sinnbild für die tönernen Füße, auf denen das gesamte britische Empire steht. Und wer gelesen hat, wie suggestiv Hughes die hypnotische Wirkung eines Erdbebens zu beschreiben vermag oder die geradezu halluzinogene Intensität der übermächtigen Natur, wird der lateinamerikanischen Literatur künftig gelassener begegnen – auf den magischen Realismus, das beweist dieser Autor, gibt es kein Copyright.
Nach einem verheerenden Orkan, wie ihn gerade die Philippinen erlebt haben, beschließen die Bas-Thorntons und ihre kreolischen Nachbarn, die Kinder beider Familien nach England zu schicken. Vor der kubanischen Küste wird die Clorinda jedoch aufgebracht, und die Kleinen fallen in die Hände von Piraten. An Bord kommt es zu einem bedeutsamen Quid pro quo. Während die Seeleute in einer Art umgekehrtem Stockholm-Syndrom die Geiseln mehr und mehr in ihr narbenreiches Herz schließen, führen die wilden Kinder bald das Kommando an Bord, eine Tyrannei des Infantilen greift um sich. Gutmütig sind diese Freibeuter ohnehin, Hughes charakterisiert eine marginalisierte Berufsgruppe, Geringbeschäftigte in einem prekär gewordenen Geschäftsfeld, einem sunset business, wie man heute sagen würde. Ihr Schiff muss man sich nicht als schaurig-schöne Totenkopf-Fregatte vorstellen, sondern als schwimmende Männer-WG – die Homosexualität unter Deck deutet Hughes dezent, aber klar genug an.
Rohe Gesellen sind das zwar, die aber doch genau spüren, dass der noch unentwickelte moralische Sinn der Kinder, gepaart mit dem Hang zur räuberromantischen Dramatisierung, sie Kopf und Kragen kosten könnte. Hier setzt Hughes an mit seiner Kritik an einem rousseauistisch verklärten Bild kindlicher Unschuld. Kinder, so Hughes’ immer noch provozierende These, sind Zwischenwesen, halb Tier, halb Mensch: „Es stimmt, sie sehen menschlich aus – aber nicht so menschlich, muss man gerechterweise sagen, wie viele Affen“. Kinder sind für ihn nicht unmoralisch, sondern amoralisch, sie stehen jenseits von Gut und Böse. „Inmitten der vertrauten Relikte des Babybewusstseins“, schreibt Hughes, lebte der Kinderverstand „wie ein Faschist in Rom“.
Besonders die Älteste, die zehnjährige Emily, wird einem zunehmend unheimlich. Nachdem die Piraten die Kinder freiwillig ausgeliefert haben und kurz darauf gefangen genommen worden sind, ist sie es, die dafür sorgt, dass der doch eigentlich heißgeliebte Kapitän Jonsen, der von einem ruhigen Lebensabend am Lübecker Kachelofen geträumt hatte, und seine Mannen zum Tode verurteilt werden. Munitioniert aber wird ihre Aussage im Prozess von den Projektionen der puritanischen Erwachsenen, die ihre eigenen, unterdrückten Missbrauchs- und Gewaltphantasien auf die Piraten übertragen.
Richard Hughes war ein Schriftsteller, der den dandyesken Oxfordman, den Star-Autor und den Abenteurer in sich vereinte. Mit „Orkan über Jamaika“ hat er einen – trotz seines Erfolges und einer Verfilmung mit Anthony Quinn und James Coburn – vergessenen Klassikers der Moderne geschrieben, ein Buch, das für William Goldings „Herr der Fliegen“ den Weg ebnete. Lange war der Roman nur antiquarisch greifbar, in einer keineswegs reizlosen, wenn auch altertümlichen und ungenauen Übersetzung von Annemarie Seidel. Nach „In Bedrängnis“ hat Michael Walter nun auch dem Hauptwerk von Richard Hughes eine Sprachgestalt gegeben, die dessen poetische Leuchtkraft, ätzende Ironie und nautische Detailfreude kongenial zur Geltung bringt. Wiederzuentdecken ist keine behäbige Abenteuer-Schwarte, sondern ein immer noch zutiefst beunruhigender, rabenschwarzer Bildungsroman.
Wer Hughes’ Naturschilderungen
kennt, wird dem magischen
Realismus gelassener begegnen
„,Otto! Mein Lieber. . .!“ Anthony Quinn und James Coburn als Kapitän und erster Maat in der Verfilmung des Romans von 1965. Foto: Carol Media Home Entertainment
Richard Hughes: Orkan über Jamaika. Roman. Aus dem Englischen von Michael Walter. Dörlemann Verlag, Zürich 2013. 256 Seiten,
19,90 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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