Lissabon 1915: Im Hinterzimmer Europas plant man die Erneuerung der Dichtung aus dem Geist der Langeweile, während Fernando Pessoa Postkarten und Telegramme aus den Metropolen bekommt, wo man eine Kunstrevolution nach der nächsten feiert. Das ist seine Welt! Mit Freunden veröffentlicht er »Orpheu«. Die Zeitschrift ist in drei Monaten ausverkauft, es gibt Karikaturen und Satiren: ein Skandal.
Mit den von ihm erfundenen Kunstrichtungen Intersektionismus, Sensationismus, Atlantismus ist Pessoa in der Theorie reicher als Picasso. Steffen Dix hat uns einen Pfad durch die Welt der »-ismen« Pessoas gebahnt, wichtige Texte zum ersten Mal ediert und ins Deutsche übersetzt: ein einmaliger Einblick ins Geheimherz der Poesie.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Mit den von ihm erfundenen Kunstrichtungen Intersektionismus, Sensationismus, Atlantismus ist Pessoa in der Theorie reicher als Picasso. Steffen Dix hat uns einen Pfad durch die Welt der »-ismen« Pessoas gebahnt, wichtige Texte zum ersten Mal ediert und ins Deutsche übersetzt: ein einmaliger Einblick ins Geheimherz der Poesie.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.08.2016Sensationell, dieser Sensationismus
Er dachte alles vorweg, und das mit Witz: Fernando Pessoas poetologische Schriften bereiten ein riesiges Vergnügen und führen den Zusammenhang von Ästhetik und Politik in aller Ambivalenz vor Augen. Sie erinnern an eine Zeit, als die Europa-Utopie größer denn je war.
Wir schrauben den Ton des Stils bewusst herunter", schreibt Fernando Pessoa in der 1915 von ihm selbst gegründeten Avantgardezeitschrift "Orpheu". Und zwar, "damit der rhetorische Gehalt des Manifests auch in das Verständnis von extrem minderwertigen Kreaturen eindringen kann: Journalisten, Anwälte, Spielhausbesitzer". Autsch!
Zunächst einmal ist diesen Kreaturen auferlegt, zu verstehen, dass es nichts zu verstehen gibt in Kunstfragen: "Die Kunst ist keine Interpretation des Lebens. Das Leben ist unverständlich und komplex." Da Kunst nun aber Ausdruck von Individualität ist, die Individualität allerdings vage und unbestimmt ("niemand versteht sich selbst"), kann künstlerischer Ausdruck nie etwas Wirkliches, geschweige denn etwas Wahres, Schönes oder Gutes sein. Hat man diese Illusion einmal verabschiedet, stellt sich sogleich die Frage nach dem poetischen Ausweg aus der Künstlichkeitsfalle. Was ist mit all jenen, die in der Kunst, nach einer Wahrheit suchen, sie manchmal sogar finden?
Pessoa war neben Franz Kafka der wohl rätselhafteste dichtende Angestellte des zwanzigsten Jahrhunderts. Er hat Shakespeare und Poe ins Portugiesische übertragen und selbst Texte aller Gattungen verfasst. Sein postum veröffentlichtes "Buch der Unruhe" wirkte in den achtziger Jahren wie ein Monolith in Portugal. Die Welt, die Pessoa beschrieb, befand sich im Krieg. Unmöglich, darin eine konzise Perspektive einzunehmen, einen klaren Standpunkt zu beziehen. Also erfand Pessoa sich sogenannte "Heteronyme". Unter den Namen Alberto Caeiro, Ricardo Reis, Álvaro de Campos oder Antonio Mora schrieb der Handelskorrespondent aus Lissabon hauptsächlich für die Truhe. Die Identitäten - nach letzter Sichtung soll es sich um 136 handeln - gingen ihm dabei nie aus. In den zwei erschienenen Ausgaben von "Orpheu", die jetzt als Teil einer Pessoa-Werkausgabe bei S. Fischer erschienen sind, liefert Pessoa das poetologische Begleit- oder auch Hauptprogramm.
Die Kubisten hatten bereits neun Jahre zuvor verstanden, dass die Kollision eines subjektiven Blicks mit einer objektiv verworrenen Welt zu einer subjektiv verworrenen Welt führen musste. Sie konzentrierten sich bei der Erschaffung ihrer Werke daher auf die Dekomposition von Bewegungsabläufen und Objekten. Die Symbolisten taten etwas Ähnliches, nur auf der Ebene der Bilder. Sie vermischten ihre Sinneswahrnehmungen und hantierten dabei großzügig mit Assoziationen. Marinetti, der Wortführer der futuristischen Bewegung, war Pessoa "die höchste Stufe eines Clowns, mehr nicht".
Im Organ seiner Selbsterkundung ("mich weniger den anderen anschließen") dekliniert Pessoa sämtliche Avantgardebewegungen des zwanzigsten Jahrhunderts durch und erkennt, dass er sich mit keiner gemein zu machen in der Lage sieht. Was er aber kann: die bekannten Ismen durch ein paar strahlende Neuzugänge zu ergänzen. Beispielsweise den Intersektionismus, den Paulismus oder den Atlantismus, das "neue transzendentale Heidentum". Und da es ein zentrales ästhetisches Anliegen Pessoas war, sich nie auf eine Sicht- oder Seinsweise festzulegen, widersprechen sich diese zutiefst, was sie nur noch mehr als in sich verwobene Vielfalts-Einheit erscheinen lässt.
Literarisch findet etwa die intersektionistische Theorie (ein Objekt kreuzt sich mit dessen Wahrnehmung) folgendermaßen Widerhall: "Mir wurde nie richtig klar, wo ich sie getroffen hatte. Möglicherweise hatte ich sie überhaupt nie getroffen. Ob ich sie nun jemals getroffen habe oder nicht, das hat für diese Geschichte keinerlei Bedeutung, und obwohl sie sich eigentlich nie ereignete, muss sie so verlaufen sein." Doch Pessoa wollte mehr als die totale Beliebigkeit. Er wollte die totale Sinnlichkeit. Im Grundsatz ging es darum, "alles zu fühlen, auf alle Weisen". Jeder neue und alte Ismus sollte in ihm aufgehen. Ein Pantheon der Poetiken, Autoren und Kunstformen wollte Pessoa schaffen. Der Sensationismus gilt als ein in diesem Sinne früh erreichter ästhetischer Höhepunkt.
So größenwahnsinnig er klingen mag, so verbirgt sich darin doch ein vollkommen zeitgenössisches Anliegen: Zum einen beanspruchte der Sensationismus keine Exklusivität, das heißt, er war als Theorie selbst theoriefähig und konnte alle anderen Ismen, zustimmende wie ablehnende, neben sich stehenlassen. Fast könnte man sagen: im verfeindeten Europa eine "Kunstphilosophie" der Toleranz. Zum anderen war er ein klares Plädoyer dafür, dass es kalte Objektivität nicht gebe und dass jeder Blick auf ein Objekt bereits etwas Schöpferisches beinhalte. Hinter allem steckte ein aus heutiger Sicht seltsam rührendes Anliegen, denn obwohl Pessoa kein Anhänger der Demokratie war, so war er doch ein Anhänger der europäischen Idee. "Die Seele sollte sich nicht (auch wenn es versteckt sein sollte) nur auf die eigene Nationalität beschränken", schrieb er in einem Fragment, das zu der unpublizierten Zeitschrift "Europa" gehört.
Im Bestreben eine kosmopolitische Literatur zu schaffen, die in ihrer Widersprüchlichkeit am Ende vielleicht doch so etwas wie Letztgültigkeit beanspruchen konnte, war Pessoa ein glühender Europäer. "In der Erschaffung einer eigenständigen Zivilisation werden wir alle Völker überwältigen; denn gegen die Künste und die Mächte des Geistes gibt es keinen möglichen Widerstand, und insbesondere wenn sie gut organisiert sind und gefestigt durch die Seelenstärke von den Generälen des Geistes." Diese Generäle des Geistes wurden in der Literaturgeschichte nicht zum letzten Mal beschworen, denkt man an Georges "Geheimes Deutschland" oder an Arno Schmidts "Gelehrtenrepublik". Nie mehr war allerdings so viel Europa-Utopie am Werk.
In Pessoas nachgelassenen Manifesten zu blättern ist nicht nur ein irres Vergnügen, sondern auch ein beschämender Ausflug in eine Zeit, die uns den Zusammenhang von Ästhetik und Politik in aller Ambivalenz vor Augen führt. "Meine Empfänglichkeit für Eindrücke hat mich sehr weit geführt. Glücklicherweise verhinderte das alles, dass ich mich verwirklichte, was ich dann ernsthaft bereut hätte."
KATHARINA TEUTSCH
Fernando Pessoa:
"Orpheu". Schriften zur Literatur, Ästhetik und Kunst.
Hrsg., aus dem Portugiesischen und Englischen von Steffen Dix. S. Fischer
Verlag, Frankfurt am Main 2015. 400 S., geb., 26,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Er dachte alles vorweg, und das mit Witz: Fernando Pessoas poetologische Schriften bereiten ein riesiges Vergnügen und führen den Zusammenhang von Ästhetik und Politik in aller Ambivalenz vor Augen. Sie erinnern an eine Zeit, als die Europa-Utopie größer denn je war.
Wir schrauben den Ton des Stils bewusst herunter", schreibt Fernando Pessoa in der 1915 von ihm selbst gegründeten Avantgardezeitschrift "Orpheu". Und zwar, "damit der rhetorische Gehalt des Manifests auch in das Verständnis von extrem minderwertigen Kreaturen eindringen kann: Journalisten, Anwälte, Spielhausbesitzer". Autsch!
Zunächst einmal ist diesen Kreaturen auferlegt, zu verstehen, dass es nichts zu verstehen gibt in Kunstfragen: "Die Kunst ist keine Interpretation des Lebens. Das Leben ist unverständlich und komplex." Da Kunst nun aber Ausdruck von Individualität ist, die Individualität allerdings vage und unbestimmt ("niemand versteht sich selbst"), kann künstlerischer Ausdruck nie etwas Wirkliches, geschweige denn etwas Wahres, Schönes oder Gutes sein. Hat man diese Illusion einmal verabschiedet, stellt sich sogleich die Frage nach dem poetischen Ausweg aus der Künstlichkeitsfalle. Was ist mit all jenen, die in der Kunst, nach einer Wahrheit suchen, sie manchmal sogar finden?
Pessoa war neben Franz Kafka der wohl rätselhafteste dichtende Angestellte des zwanzigsten Jahrhunderts. Er hat Shakespeare und Poe ins Portugiesische übertragen und selbst Texte aller Gattungen verfasst. Sein postum veröffentlichtes "Buch der Unruhe" wirkte in den achtziger Jahren wie ein Monolith in Portugal. Die Welt, die Pessoa beschrieb, befand sich im Krieg. Unmöglich, darin eine konzise Perspektive einzunehmen, einen klaren Standpunkt zu beziehen. Also erfand Pessoa sich sogenannte "Heteronyme". Unter den Namen Alberto Caeiro, Ricardo Reis, Álvaro de Campos oder Antonio Mora schrieb der Handelskorrespondent aus Lissabon hauptsächlich für die Truhe. Die Identitäten - nach letzter Sichtung soll es sich um 136 handeln - gingen ihm dabei nie aus. In den zwei erschienenen Ausgaben von "Orpheu", die jetzt als Teil einer Pessoa-Werkausgabe bei S. Fischer erschienen sind, liefert Pessoa das poetologische Begleit- oder auch Hauptprogramm.
Die Kubisten hatten bereits neun Jahre zuvor verstanden, dass die Kollision eines subjektiven Blicks mit einer objektiv verworrenen Welt zu einer subjektiv verworrenen Welt führen musste. Sie konzentrierten sich bei der Erschaffung ihrer Werke daher auf die Dekomposition von Bewegungsabläufen und Objekten. Die Symbolisten taten etwas Ähnliches, nur auf der Ebene der Bilder. Sie vermischten ihre Sinneswahrnehmungen und hantierten dabei großzügig mit Assoziationen. Marinetti, der Wortführer der futuristischen Bewegung, war Pessoa "die höchste Stufe eines Clowns, mehr nicht".
Im Organ seiner Selbsterkundung ("mich weniger den anderen anschließen") dekliniert Pessoa sämtliche Avantgardebewegungen des zwanzigsten Jahrhunderts durch und erkennt, dass er sich mit keiner gemein zu machen in der Lage sieht. Was er aber kann: die bekannten Ismen durch ein paar strahlende Neuzugänge zu ergänzen. Beispielsweise den Intersektionismus, den Paulismus oder den Atlantismus, das "neue transzendentale Heidentum". Und da es ein zentrales ästhetisches Anliegen Pessoas war, sich nie auf eine Sicht- oder Seinsweise festzulegen, widersprechen sich diese zutiefst, was sie nur noch mehr als in sich verwobene Vielfalts-Einheit erscheinen lässt.
Literarisch findet etwa die intersektionistische Theorie (ein Objekt kreuzt sich mit dessen Wahrnehmung) folgendermaßen Widerhall: "Mir wurde nie richtig klar, wo ich sie getroffen hatte. Möglicherweise hatte ich sie überhaupt nie getroffen. Ob ich sie nun jemals getroffen habe oder nicht, das hat für diese Geschichte keinerlei Bedeutung, und obwohl sie sich eigentlich nie ereignete, muss sie so verlaufen sein." Doch Pessoa wollte mehr als die totale Beliebigkeit. Er wollte die totale Sinnlichkeit. Im Grundsatz ging es darum, "alles zu fühlen, auf alle Weisen". Jeder neue und alte Ismus sollte in ihm aufgehen. Ein Pantheon der Poetiken, Autoren und Kunstformen wollte Pessoa schaffen. Der Sensationismus gilt als ein in diesem Sinne früh erreichter ästhetischer Höhepunkt.
So größenwahnsinnig er klingen mag, so verbirgt sich darin doch ein vollkommen zeitgenössisches Anliegen: Zum einen beanspruchte der Sensationismus keine Exklusivität, das heißt, er war als Theorie selbst theoriefähig und konnte alle anderen Ismen, zustimmende wie ablehnende, neben sich stehenlassen. Fast könnte man sagen: im verfeindeten Europa eine "Kunstphilosophie" der Toleranz. Zum anderen war er ein klares Plädoyer dafür, dass es kalte Objektivität nicht gebe und dass jeder Blick auf ein Objekt bereits etwas Schöpferisches beinhalte. Hinter allem steckte ein aus heutiger Sicht seltsam rührendes Anliegen, denn obwohl Pessoa kein Anhänger der Demokratie war, so war er doch ein Anhänger der europäischen Idee. "Die Seele sollte sich nicht (auch wenn es versteckt sein sollte) nur auf die eigene Nationalität beschränken", schrieb er in einem Fragment, das zu der unpublizierten Zeitschrift "Europa" gehört.
Im Bestreben eine kosmopolitische Literatur zu schaffen, die in ihrer Widersprüchlichkeit am Ende vielleicht doch so etwas wie Letztgültigkeit beanspruchen konnte, war Pessoa ein glühender Europäer. "In der Erschaffung einer eigenständigen Zivilisation werden wir alle Völker überwältigen; denn gegen die Künste und die Mächte des Geistes gibt es keinen möglichen Widerstand, und insbesondere wenn sie gut organisiert sind und gefestigt durch die Seelenstärke von den Generälen des Geistes." Diese Generäle des Geistes wurden in der Literaturgeschichte nicht zum letzten Mal beschworen, denkt man an Georges "Geheimes Deutschland" oder an Arno Schmidts "Gelehrtenrepublik". Nie mehr war allerdings so viel Europa-Utopie am Werk.
In Pessoas nachgelassenen Manifesten zu blättern ist nicht nur ein irres Vergnügen, sondern auch ein beschämender Ausflug in eine Zeit, die uns den Zusammenhang von Ästhetik und Politik in aller Ambivalenz vor Augen führt. "Meine Empfänglichkeit für Eindrücke hat mich sehr weit geführt. Glücklicherweise verhinderte das alles, dass ich mich verwirklichte, was ich dann ernsthaft bereut hätte."
KATHARINA TEUTSCH
Fernando Pessoa:
"Orpheu". Schriften zur Literatur, Ästhetik und Kunst.
Hrsg., aus dem Portugiesischen und Englischen von Steffen Dix. S. Fischer
Verlag, Frankfurt am Main 2015. 400 S., geb., 26,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Katharina Teutsch trifft in den nachgelassenen Manifesten aus der von Fernando Pessoa gegründeten Avantgardezeitschrift "Orpheu" auf einen glühenden Europäer und auf eine Zeit, in der der Zusammenhang von Ästhetik und Politik in aller Ambivalenz zutage tritt. Wenn der Autor mit den unzähligen Identitäten Kunstfragen ausdrücklich nicht verstehen möchte, eindeutige Perpektiven und Standpunkte vehement bestreitet und damit ein poetologisches Begleitprogramm zu seinem Werk liefert, bereitet das Teutsch ein irres Vergnügen.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Nicht nur ein irres Vergnügen, sondern auch ein Ausflug in eine Zeit, die uns den Zusammenhang von Ästhetik und Politik [...] vor Augen führt Katharina Teutsch Frankfurter Allgemeine Zeitung 20160806