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Der Zerfall von umfassenden Gedächtnisgemeinschaften geht seit dem 18. Jahrhundert mit der Arbeit an Einrichtungen einher, die bestimmte kollektive Erinnerungen für unterschiedliche gesellschaftliche Gruppierungen wach halten sollen. Die Beiträge dieses Bandes behandeln die überall zu beobachtende Explosion solcher Erinnerungsorte als komplementäres Phänomen des Modernisierungsschubes und der anhaltenden Gedächtnisdiskussion.

Produktbeschreibung
Der Zerfall von umfassenden Gedächtnisgemeinschaften geht seit dem 18. Jahrhundert mit der Arbeit an Einrichtungen einher, die bestimmte kollektive Erinnerungen für unterschiedliche gesellschaftliche Gruppierungen wach halten sollen. Die Beiträge dieses Bandes behandeln die überall zu beobachtende Explosion solcher Erinnerungsorte als komplementäres Phänomen des Modernisierungsschubes und der anhaltenden Gedächtnisdiskussion.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.01.2000

An der Hand
Essays zu Orten der Erinnerung
Der Begriff der Erinnerung hat Konjunktur, keine Frage, doch es scheint, dass ausgerechnet die Geschichtswissenschaft, auf die in den Kulturwissenschaften erarbeiteten Konzepte und Vorstellungen bislang nur zögernd reagiere. Ein wenig Abhilfe schafft der von Ulrich Borsdorf und Heinrich Theodor Grütter herausgegebene Band – der neben der Theorie auch die praktischen Konsequenzen geschichtswissenschaftlicher Erkenntnisse für die Museen und Gedenkstätten berücksichtigt.
Mit seinem vieldiskutierten Buch über das kulturelle Gedächtnis hat Jan Assmann die Debatte entscheidend geprägt – in seinem Beitrag differenziert er seine Formen und Funktionen und diskutiert die Unterscheidung zwischen kollektivem und kulturellem Gedächtnis. Freud hatte in seiner Religions- und Kulturtheorie Vorgänge im Unbewussten für kollektive Verhaltensweisen verantwortlich gemacht: Ein Vatermord an Moses sei verdrängt worden und die Wiederkehr dieses Verdrängten habe zu zwangsneurotischen Reaktionsbildungen geführt.
Der Ägyptologe Assmann entwickelt am Deuteronomium eine Gegenlektüre, die das bewusste Festhalten an den Erfahrungen aus der Wüstenwanderung betont. Erst im gelobten Fruchtland sei der Text entstanden, im Wissen um den schleichenden Verlust jener Erfahrungen. Aus dieser defensiven Position heraus seien Schrift und Mnemotechniken als kulturelles Gedächtnis mobilisiert worden: „Die Erinnerung taucht nicht aus dem Unbewussten einer Kollektivpsyche auf, sondern aus den sozialen Orten der Latenz, in denen verdrängtes Wissen überdauern kann. ” Damit markiert Assmann die wesentliche Idee der kulturellen Arbeit an der Erinnerung, der er neben den unbewusst-kollektiven Momenten einen eigenständigen Status im sozialen Gedächtnis einräumt: In der „zur Religion gesteigerten jüdischen Mnemotechnik” schlägt es sich als „Gegenerinnerung” nieder.
Gegen Benjamin!
Dass die Vergangenheit uns Gegenwärtigen keineswegs an sich gegeben ist, betonen zahlreiche Beiträge des Bandes, am radikalsten wohl Lambert Schneider: „Ja, es gibt Geschichte, aber sie ist nichts Vergangenes”, sondern „wir schaffen sie. ” Sein Beispiel ist die Akropolis von Athen. Generationen von Altertumsforschern und -bewahrern haben ihr über Jahrhunderte hinweg so zugesetzt, dass buchstäblich kein Stein auf dem anderen blieb. Das Areal wurde entkernt, die Gebäude wurden mehrfach ab- und wieder aufgebaut, befestigt und hergerichtet. Alles mit dem Ziel, ein ideales Bild vom griechischen Altertum zur Anschauung zu bringen. Vor dieser Akropolis verliert die Rede vom Original ihren Sinn.
Stephen Bann macht nun geltend, dass das Bewusstsein vom inszenierten Charakter der Geschichte schon im 19. Jahrhundert sich entwickelt, und zwar mit Walter Scott. Wie in seinen Romanen habe er in der Architektur und Ausstattung seines Landhauses Abbotsford die Verlebendigung der Vergangenheit gesucht – Bann zeigt, wie zeitgenössische Museen Scott darin nachstrebten. Wolfgang Hardtwig und Heinrich Theodor Grütter verdeutlichen dann an verschiedenen Beispielen, wie sich Geschichtsbewusstsein in Denkmälern niedergeschlagen hat, während Wilfried Lipp das Verhältnis von Denkmalpflege und Geschichte reflektiert.
Gegen die Radikalisierung postmoderner und konstruktivistischer Thesen wendet sich, neben Lutz Niethammer, besonders Jörn Rüsen. Im ersten Teil seines – vor Druckfehlern nahezu unlesbaren – Aufsatzes stellt er modellartig die „disziplinäre Matrix” der Geschichtswissenschaft dar. Weniger überzeugend ist, wenn er sich am Schluss zu einer unhaltbar vereinfachenden Kritik an anders Denkenden – etwa Walter Benjamin! – hinreißen lässt.
In kulturwissenschaftlicher Sicht diskutieren Horst Wenzel und Aleida Assmann die Funktionsweisen des Erinnerns bei. Wenzel zeigt, das sich noch während des mittelalterlichen Medienwechsels von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit die Rede mnemotechnisch am Körper, vor allem an der Hand, ausrichtete. Ergreifen und Begreifen, techne und poiesis, seien miteinander verkoppelt, die manuelle und die symbolische Aneignung der Welt konvergierten. Assmann diskutiert in ihrem (wiederabgedruckten) Text verschiedene Konzepte des Ortsgedächtnisses und greift dabei in die Diskussion um die Holocaust-Gedenkstätten ein: ein Thema, dem sich auch Lucian Hölscher, Detlef Hoffmann und Wolfgang Ernst widmen – dieser in einem Namen-, Schlagwort- und Zitatgewitter, das wohl postmodern gemeint ist.
Mit wohltuender Deutlichkeit entwirft dagegen der Architekt Salomon Korn seine Position zum endlosen Berliner Denkmalsstreit. Er plädiert für die „Konfrontation des Holocaust-Mahnmals mit den gebauten Ikonen nationaler Identität”, und zwar noch enger als bisher vorgesehen. An diese darf sich keine ungebrochene nationale Identität mehr anlagern können, vielmehr muss das Bewusstsein von der „nationalen Selbstverstümmelung” immer präsent bleiben. So wird, suggeriert dieser Band, die Konjunktur der Erinnerung noch einige Zeit andauern.
SVEN KRAMER
ULRICH BORSDORF, HEINRICH THEODOR GRÜTTER (Hrsg. ): Orte der Erinnerung. Denkmal, Gedenkstätte, Museum. Campus Verlag, Frankfurt 1999. 361 Seiten, 48 Mark.
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An der Hand
"Neben der Theorie berücksichtigt dieser Band auch die praktischen Konsequenzen geschichtswissenschaftlicher Erkenntnisse für Museen und Gedenkstätten." (Süddeutsche Zeitung, 19.01.2000)