Helmut Böttiger hat die Orte aufgesucht, die Celan bei seiner Wanderschaft berührt hat. Er war in Bukarest, wo Celan nach dem Krieg gearbeitet und seine ersten Gedichte geschrieben hat. Er ist den verschlüsselten Spuren nachgegangen, die Celan in Wien, wo sein erstes Buch erschien, hinterlassen hat: vor allem der Begegnung mit Ingeborg Bachmann, die beider Leben so entscheidend geprägt hat. Und er hat die Pariser Orte aufgesucht, wo Celan sein unvergleichliches Werk schuf. Im Nachgehen dieser Wanderschaft entsteht umrißhaft das Porträt dieser schwierigen Person, die auch heute noch über das Werk hinaus fasziniert.
Helmut Böttiger macht Besuche bei Paul Celan / Von Walter Hinck
Wie dem jungen Helmut Böttiger mag es manchem Leser bei der ersten Begegnung mit Gedichten Paul Celans ergangen sein: Obwohl er vieles nicht verstand, ließ ihn die Sprache nicht mehr los. Bei Böttiger ist dieses Gebanntsein produktiv geworden. Der Titel seines jetzt erschienenen Buches, "Orte Paul Celans", deutet auf eine literarische Topographie, auf eine Annäherung an den Autor von den Landschaften und Stätten seiner Lebensstationen her. Tatsächlich ist Böttiger alle Wohnorte Celans "abgefahren" und hat die heutigen Stadtbilder zu den Erfahrungswelten Celans in Beziehung gesetzt. Doch läßt das Buch jegliche Form von literarischem Tourismus hinter sich.
Nicht zugunsten einer strengen wissenschaftlichen Systematik. Böttiger nutzt die Bewegungsfreiheit der Assoziation. Keine Fußnoten beschweren ihn bei der literarischen Spurensuche. Nur die Namen der wenigen, die ihn auf Fährten setzten, werden genannt. Und zu einem schriftstellerischen Kabinettstück wird der Bericht über den emeritierten Freiburger Germanisten Gerhart Baumann, den Verfasser von "Erinnerungen an Paul Celan", den er bei seinem Vortrag "Paul Celan. Dasein zur Sprache" beobachtet und mit großer Genauigkeit porträtiert.
Ausgangspunkt von Böttigers Revue der "Orte Paul Celans" sind der Endpunkt der Biographie, der Ort der sterblichen Überreste auf dem Friedhof von Thiais, außerhalb der Stadtgrenzen von Paris, und ein Gewährsort für Unsterblichkeit, der literarische Nachlaß im Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar. Dann rufen Straßen und Brücken der französischen Hauptstadt und Befragungen die wichtigsten Daten und Ereignisse der Pariser Jahre seit 1948 zurück, die Ehe mit Gisèle Lestrange und die Geburt des Sohns Eric, die Tätigkeit als Lektor an der Ecole Normale Supérieure, Freundschaften, die zunehmende Verfolgungsangst, den Sturz in die Seine im Frühjahr 1970. Günter Grass berichtet aus seiner Pariser Zeit von weihevollen Lesungen Celans bei Kerzenschein, Dürrenmatt dagegen hat ihn als wilden, übermütigen Burschen skizziert, der "rumänische Volkslieder, kommunistische Gesänge" sang: der Freund Jean Bollack bestätigt, daß sich das "Balkanhafte" bei Celan nicht verloren habe.
Damit springt Böttigers Ortsbesichtigung zurück in die Kindheit und Jugend Celans in der Bukowina. Celan (der noch Ancel hieß) hat im rumänischen Czernowitz (Cernauti) teil am habsburgischen Erbe, bis der Zweite Weltkrieg und die Konzentrationslager - in einem kommen seine jüdischen Eltern um - das reiche Kulturleben zerstören. Im heute ukrainischen Tscherniwzi spricht Böttiger mit dem letzten jiddisch schreibenden Dichter Osteuropas, Josef Burg, und sucht nach Zeugnissen von einst: im "Bukowina-Institut" der Universität lehrt Peter Rychlo, ein Ukrainer, der eine Auswahl von Gedichten Celans übersetzte.
Die Zeit inmitten der "Bukarester Boheme" (zwischen 1945 und 1947) ist nach Böttigers Ermittlungen "die glücklichste Zeit in Celans Leben". Im "Paris des Ostens" war der Surrealismus Mode, dem Celan seinen Tribut zollte. Böttiger besichtigt Material aus Celans Frühzeit im Bukarester Literaturmuseum und besucht den Verlag, in dem Celan gearbeitet hat.
Über die Wiener Zeit Celans (1947/48) sind Nachrichten rar, und so wechselt Böttiger das Darstellungsverfahren. Er entschließt diese Zeit vor allem aus der Dichtung selbst. Den literarischen Dialog, die poetologische Auseinandersetzung, die "Liebesbeziehung auf Entfernung" zwischen Celan und Ingeborg Bachmann rekonstruiert er durch Textanalysen, vor allem des Celanschen Gedichts "Corona" und des Bachmannschen Romans "Malina". Hier beweist Böttiger subtile Interpretationskunst.
Das wiederholt sich noch einmal im umfänglichen Schlußteil, mit dem Böttiger nach Paris zurückkehrt, in der Deutung des Gedichtes "Weggebeizt". Im übrigen steht die Pariser Zeit Celans im Zeichen eines gestärkten Bewußtseins jüdischer Identität, wozu die Freundschaften mit Nelly Sachs in Stockholm und mit Franz Wurm, dem gebürtigen Prager in Zürich, beitragen. Der Schluß des Buches führt von den Orten der Biographie zur Ortsbestimmung der Dichtung selbst. Daß bei der Beerdigung Celans am Grab kein Wort gesprochen wurde, erscheint wie die Respektbezeugung für eine Poetik des Verstummens, die sich in der zunehmenden "Verkarstung" einer Dichtungssprache spiegelt, in der die "Assoziationsfäden zwischen den einzelnen Worten" immer dünner werden.
"Orte Paul Celans" ist ein Buch, das in Distanz zu einer Philologie geschrieben ist, deren Erträge es nutzt, aber auf nichtkonventionelle Weise auch mehrt. Indem es den Dichter in seinen Landschaften oder Städten aufsucht, zeigt es ihn an Knotenpunkten verschiedenster kultureller Ströme. Und indem es die Orte, die der Dichtung Celans ihren Lebensatem mitgaben, im Licht heutiger Beobachtung zeigt, deutet es zugleich die Spannung zwischen Entstehung und Rezeption der Dichtung an.
Helmut Böttiger: "Orte Paul Celans". Paul Zsolnay Verlag, Wien 1996. 145 S., geb., 29,80 DM.
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