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Produktdetails
  • Verlag: DuMont Buchverlag
  • Seitenzahl: 284
  • Abmessung: 215mm
  • Gewicht: 500g
  • ISBN-13: 9783770144808
  • ISBN-10: 3770144805
  • Artikelnr.: 24058599
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.12.1999

In der Vorhölle eines Dia-Abends
Dirk van Weelden scheitert am Postgeheimnis der Poesie

Für alle, die mehr über den Charakter eines Mannes wissen wollen, der Rundbriefe an seine Freunde schreibt, ist "Orvilles Gäste" von Dirk van Weelden der richtige Roman. Die Sentimentalität des niederländischen Titelhelden gilt nicht so sehr einzelnen Menschen, die ihm nahe stehen, als vielmehr der Idee ihrer um ihn versammelten Gesamtheit. Deshalb lädt besagter Rundbrief Alt und Jung zu Ferien auf einem französischen Landgut ein. Orville verspricht Vorträge zu halten, von denen alle profitieren sollen, und animiert auch seine Gäste, sich "mit Liedern, Rätseln, Theorien oder Musik einzubringen". Der Rahmen ist damit gesteckt: Wenn schon kein Decamerone, so sollten wenigstens Unterhaltungen niederländischer Ausgewanderter die Früchte seines Einfalls sein. Die Gruppe trifft pflichtschuldig ein: "Peter und Orville hakten die rechten Daumen ineinander und gaben sich einen Shake."

Der erste Abend gehört dem Gastgeber. Er füllt ihn - wie nicht anders zu erwarten - mit seiner Seelengeschichte: Orville erzählt von seinem Absturz in ein lang anhaltendes Phlegma, aus dem ihn die Lektüre der "Historien" Herodots mit einem Schlag befreit hat. Der griechische Geschichtsschreiber ist für ihn gerade seiner Unzuverlässigkeit wegen ein visionärer Autor, der dem Ennui des modernen Subjekts aus der Klemme helfen kann. In seinen Historien haben Legenden und Fiktionen denselben Faktenwert wie Augenzeugenberichte. Orville lobt nicht nur "dieses lakonische Akzeptieren der Unvollständigkeit, Ungewißheit und Mehrdeutigkeit", sondern auch die Bereitschaft, die Wahrheit in vielen Formen zuzulassen. Das theoretische Gerüst für die Beiträge der folgenden Abende ist somit komplett und die Freunde sind entsprechend eingeschüchtert.

Damit Orvilles Konzept nicht allzu reißbretthaft wirkt, führt van Weelden noch einen Landstreicher ein, der das Landhaus umlungert und bei Gelegenheit in einen Werwolf mutiert. Selbstverständlich wird das Werwolf-Märchen nach herodotscher Manier durch haarsträubende Koinzidenzien mit den übrigen Geschichten verstrickt. Marcus heißt der zweite Referent. Er zeigt fünf Dias, die er "ein Lied" nennt. Sie dokumentieren in Gegenwart seiner Gattin den zerstörenden Einfluss, den eine Liebesaffäre auf das Familienglück ausübte. Weil Orville nach dieser Bildgeschichte schon ziemlich unleidlich ist und der dazwischenfunkende Werwolf mit seiner eigenen Vorstellung von Dramatik eins der Kinder beißt, erzählt Orvilles Frau in der dritten Nacht zur Entspannung ein orientalisches Märchen, in dem sie die Prinzessin und ihr Mann ein Allroundgenie ist. Orville zeigt sich mäßig amüsiert und registriert im nächsten Vortrag über ein Kreativität generierendes Stadtteilprojekt sogar eine Ironisierung seiner Herodot-Ausführungen.

Der Werwolf entpuppt sich indessen als Ein-Mann-Turmgesellschaft mit dezidierten Erziehungszielen: Die Landgemeinde soll zerstreut und Orvilles Seele auf den rechten Weg geleitet werden. Wie das Hundetier sieht auch der Roman in seinem Protagonisten einen viel versprechenden Zauberer, der seine Talente in privaten Hirngespinsten vergeudet. Womöglich steht er allegorisch für eine niederländische Toscana-Fraktion? Nachdem der letzte Vortrag Orvilles erzählerisches Gruppenprojekt noch einmal gründlich heruntergeputzt hat, reisen alle ab, und der Titelheld darf wieder einen Rundbrief schreiben. Die Adressaten haben sich proportional zu seiner Beichtlust vermehrt. Er ist in New York gewesen und hat ein Erweckungserlebnis gehabt. Irgendwie ist die Welt für ihn jetzt in Ordnung. Der Briefschreiber malt zum Abschluss den Verlauf seines Abends aus, wie er zuvor schon in denselben Worten, aber der dritten Person, berichtet worden war. Wenn den reich gestreuten Theorie-Bissen zu trauen ist, bedeutet dies, dass der Protagonist jetzt eins mit seiner Geschichte ist und begriffen hat, "dass schon vorhanden ist, wonach er sucht". Der Roman ist über die inszenierte Abendunterhaltung hinaus noch mit Tagebuchnotizen, Traumerzählungen und Schatzgräbergespinsten gespickt. Leider wird aber literarische Magie nicht durch wunderbare Gegenstände, sondern erst durch den Zauber der Erzählung erzeugt. Und den kann kein Rundbrief erzwingen.

INGEBORG HARMS.

Dirk van Weelden: "Orvilles Gäste". Roman. Aus dem Niederländischen übersetzt von Marlene Müller-Haas. DuMont Buchverlag, Köln 1999. 260 S., geb., 39,80 DM.

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