Rüdiger Görner stellt in seiner Biografie den Gesamtkünstler Oskar Kokoschka in all seiner faszinierenden und widersprüchlichen Vielschichtigkeit dar. Dramen, Briefe und Essays zeugen auch von den bedeutenden schriftstellerischen Qualitäten dieses großen Malers. Die Musik war zentral für seine Arbeit. Und als Pädagoge begründete Kokoschka 1953 schließlich die "Schule des Sehens". Oskar Kokoschka erreichte trotz schwerer Verletzungen im Ersten Weltkrieg ein biblisches Alter. Görner zeichnet Kokoschkas Weg vom Bürgerschreck und Hungerkünstler zum wohlhabenden Weltbürger und Jahrhundertkünstler ganz nah an dessen Werk nach, denn Kokoschkas Leben erzählt man, in dem man sein Werk erzählt - und umgekehrt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.10.2018Zerschunden an Leib und Seele
Es gab Zeiten, da schrieb er mehr, als er malte: Rüdiger Görners Biographie zeigt Oskar Kokoschka als einen Künstler, der auf einem Feld kompetenter war als alle anderen Maler der Moderne.
Anfangs hatte er das Ganze für "expressionistisches Blabla" gehalten, schrieb Jahre nach den Ereignissen der Komponist Ernst Krenek. Er sprach vom Drama "Orpheus und Eurydike", das er 1922 in eine Oper verwandeln sollte. Schnell war ihm damals bewusst geworden, dass es bei dem Text doch um eine ernste Sache ging, nämlich um die "Problematik von Treue und Erinnerung". Der Autor, der sich mit dem Stück seinen Kummer von der Seele gedichtet hatte, war Oskar Kokoschka.
Ihn kennt man vor allem als bildenden Künstler, als den Maler mit dem Röntgenblick, der den Expressionismus in Österreich mitbegründete und Porträts schuf, in denen er seinen Modellen unter die Haut und in die Abgründe ihrer Seelen schaute. Dass Kokoschka aber auch Autor war - er schrieb Reden, Essays und mehrere Theaterstücke -, das ist im öffentlichen Bewusstsein weit weniger präsent. Der Literaturwissenschaftler Rüdiger Görner hat jetzt eine Biographie vorgelegt, in der das schriftstellerische Werk Kokoschkas, der zeitweise mehr schrieb, als er malte, ebenso gewürdigt wird wie das bildkünstlerische.
Die Arbeit am Drama "Orpheus und Eurydike" hatte der 1886 geborene Kokoschka im Herbst 1915 begonnen. Da lag er im Lazarett. Als Kavallerist war er in den Krieg gezogen, im August 1915 hatte ihm ein feindlicher Soldat in den Kopf geschossen, vier tote Pferde waren auf ihn gefallen, ein Bajonett hatte seine Lunge erwischt. Er geriet in Gefangenschaft, die Krankenstation, in der er sich aufhielt, wurde beschossen. Mauern stürzten ein. So berichtete es sein Freund und Mentor Adolf Loos dem Verleger Herwarth Walden, der Kokoschka in Berlin gefördert hatte. "OK bleibt heil", schrieb Loos, was eher hieß: OK überlebt. Denn heil war er nicht, stattdessen doppelt versehrt, körperlich wie seelisch.
Sein geliebtes "Almilizi", sein "Goldammerl", hatte sich einen Neuen gesucht. Im selben Monat, in dem Kokoschka so schwer verletzt worden war, hatte Alma Mahler Walter Gropius geheiratet. Die Femme fatale des Wiener Großbürgertums "verliebte sich nie unter ihrem Niveau", schreibt Görner, Geniehaftes mussten die Männer an ihrer Seite schon haben: Gustav Mahler, Gropius, später Franz Werfel. Und von 1912 bis 1915 eben Kokoschka. Er war rasend eifersüchtig, sogar auf den toten Ex Gustav Mahler, sie nahm es mit der Treue nicht sehr genau. Die leidenschaftliche Amour fou inspirierte den Künstler zu vielen Bildern, darunter die "Windsbraut" von 1913, das Görner für das bedeutendste Liebesbild der Moderne hält, wobei er leider nicht recht ausführt, warum. Irgendwann jedenfalls hatten Alma und Oskar sich "wundgeliebt", so Görner, und nachdem sie auch noch das gemeinsame Kind abgetrieben hatte, war er willens, "der Welt abhanden zu kommen" und zog im Frühsommer 1915 freiwillig in den Krieg.
Da aber aus dem Versuch, sich aus dem Leben schießen zu lassen, nichts wurde, musste Kokoschka die Trauer anders abschütteln. Er schrieb seine Version des Orpheus-Mythos, 1921 als Schauspiel, 1926 mit Kreneks Musik als Oper uraufgeführt. Eurydike muss ins Schattenreich, sie will nicht fort von Orpheus, ist aber zugleich neugierig auf den Verführer Hades. Als Orpheus die Geliebte befreien will, lautet die Bedingung, wie im Mythos, dass sie nur dann gehen darf, wenn er nicht zurückblickt.
Gemeint ist das allerdings im übertragenen Sinne: Orpheus-Kokoschka darf nicht in die Vergangenheit zurückschauen und Eurydike-Alma fragen, was sie im Orkus getrieben hat. Doch er nötigt sie zur Beichte: Sie hat ihn vergessen, war Hades' Geliebte. Orpheus kann die Eifersucht nicht zügeln und tötet seine Frau. Er kehrt in die Heimat zurück und provoziert bei einer bacchantischen Gewaltorgie den eigenen Tod. Im Schattenreich wird er erneut ermordet, nun von Eurydike. "Erst die je zweifach getöteten einstigen Liebenden können voneinander Ruhe finden", deutet Görner das Stück um den Kampf der Geschlechter.
Als Kokoschka noch jung war, bekam er vom Vater zwei Geschenke. Das eine war, wenig überraschend, ein Farbkasten, das andere ein Buch: "Orbis pictus" des Johann Amos Comenius von 1658, eine Bilderenzyklopädie für Kinder, die bis ins neunzehnte Jahrhundert sehr beliebt war. Comenius engagierte sich für Menschlichkeit, für Bildung für alle sowie Erziehung ohne Zwang. Aus Kokoschkas Verehrung für den Pädagogen erwuchs sein humanistisches Ideal, das ihn nicht nur antrieb, den Menschen ins Zentrum seiner Kunst zu stellen, sondern auch, sich gesellschaftlich einzumischen - was Görner an vielen Beispielen nachweist.
Im Juni 1933 etwa verteidigte Kokoschka öffentlich Max Liebermann, der auf Druck der Nationalsozialisten aus der Akademie der Künste ausgetreten war. Während des Exils - er lebte erst in der Tschechoslowakei, dann in England - bezog Kokoschka Stellung für die Republikaner im spanischen Bürgerkrieg, protestierte in einem "Ansuchen an den Haager Schiedsgerichtshof" gegen die Eingliederung Österreichs ins Deutsche Reich oder kritisierte in Wort und Bild die Appeasement-Politik der Briten. 1936 forderte er auf dem Brüsseler Friedenskongress, da die Schule durch "Irreführung der Massen" Schuld an der gegenwärtigen Misere sei, eine Reform des Erziehungswesens.
Es gibt viele rote Fäden im Werk Kokoschkas, meint Görner. Einer ist freilich Almilizi, keiner aber ziehe sich so durch wie "jener, der in den Comenius-Komplex verwoben ist". So lautet die zentrale These dieser Biographie, dass dieser Künstler auch ein hellwacher Geist auf anderem Terrain war, dass "kein bildender Künstler der Moderne" sich mit einer solchen "Kompetenz politisch zu Wort gemeldet" habe wie Kokoschka.
Leichte Lektüre ist Görners Buch nicht. Virtuos konstruiert er Sätze und jongliert mit Worten; was wohldosiert beeindruckt hätte, führt in permanenter Aneinanderreihung schnell zu Ermüdung. Auch lässt der Autor den Leser mit seinen gelehrten Ausführungen oft allein. Wer Görner folgen will, tut gut daran, ein paar weitere Bücher zur Hand zu nehmen. Besonders eines, in dem Kokoschkas Bilder zu sehen sind. Denn auf Abbildungen hat man in dieser Künstlerbiographie aus unerfindlichen Gründen verzichtet.
KATHARINA RUDOLPH
Rüdiger Görner:
"Oskar Kokoschka".
Jahrhundertkünstler.
Paul Zsolnay Verlag,
Wien 2018.
336 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Es gab Zeiten, da schrieb er mehr, als er malte: Rüdiger Görners Biographie zeigt Oskar Kokoschka als einen Künstler, der auf einem Feld kompetenter war als alle anderen Maler der Moderne.
Anfangs hatte er das Ganze für "expressionistisches Blabla" gehalten, schrieb Jahre nach den Ereignissen der Komponist Ernst Krenek. Er sprach vom Drama "Orpheus und Eurydike", das er 1922 in eine Oper verwandeln sollte. Schnell war ihm damals bewusst geworden, dass es bei dem Text doch um eine ernste Sache ging, nämlich um die "Problematik von Treue und Erinnerung". Der Autor, der sich mit dem Stück seinen Kummer von der Seele gedichtet hatte, war Oskar Kokoschka.
Ihn kennt man vor allem als bildenden Künstler, als den Maler mit dem Röntgenblick, der den Expressionismus in Österreich mitbegründete und Porträts schuf, in denen er seinen Modellen unter die Haut und in die Abgründe ihrer Seelen schaute. Dass Kokoschka aber auch Autor war - er schrieb Reden, Essays und mehrere Theaterstücke -, das ist im öffentlichen Bewusstsein weit weniger präsent. Der Literaturwissenschaftler Rüdiger Görner hat jetzt eine Biographie vorgelegt, in der das schriftstellerische Werk Kokoschkas, der zeitweise mehr schrieb, als er malte, ebenso gewürdigt wird wie das bildkünstlerische.
Die Arbeit am Drama "Orpheus und Eurydike" hatte der 1886 geborene Kokoschka im Herbst 1915 begonnen. Da lag er im Lazarett. Als Kavallerist war er in den Krieg gezogen, im August 1915 hatte ihm ein feindlicher Soldat in den Kopf geschossen, vier tote Pferde waren auf ihn gefallen, ein Bajonett hatte seine Lunge erwischt. Er geriet in Gefangenschaft, die Krankenstation, in der er sich aufhielt, wurde beschossen. Mauern stürzten ein. So berichtete es sein Freund und Mentor Adolf Loos dem Verleger Herwarth Walden, der Kokoschka in Berlin gefördert hatte. "OK bleibt heil", schrieb Loos, was eher hieß: OK überlebt. Denn heil war er nicht, stattdessen doppelt versehrt, körperlich wie seelisch.
Sein geliebtes "Almilizi", sein "Goldammerl", hatte sich einen Neuen gesucht. Im selben Monat, in dem Kokoschka so schwer verletzt worden war, hatte Alma Mahler Walter Gropius geheiratet. Die Femme fatale des Wiener Großbürgertums "verliebte sich nie unter ihrem Niveau", schreibt Görner, Geniehaftes mussten die Männer an ihrer Seite schon haben: Gustav Mahler, Gropius, später Franz Werfel. Und von 1912 bis 1915 eben Kokoschka. Er war rasend eifersüchtig, sogar auf den toten Ex Gustav Mahler, sie nahm es mit der Treue nicht sehr genau. Die leidenschaftliche Amour fou inspirierte den Künstler zu vielen Bildern, darunter die "Windsbraut" von 1913, das Görner für das bedeutendste Liebesbild der Moderne hält, wobei er leider nicht recht ausführt, warum. Irgendwann jedenfalls hatten Alma und Oskar sich "wundgeliebt", so Görner, und nachdem sie auch noch das gemeinsame Kind abgetrieben hatte, war er willens, "der Welt abhanden zu kommen" und zog im Frühsommer 1915 freiwillig in den Krieg.
Da aber aus dem Versuch, sich aus dem Leben schießen zu lassen, nichts wurde, musste Kokoschka die Trauer anders abschütteln. Er schrieb seine Version des Orpheus-Mythos, 1921 als Schauspiel, 1926 mit Kreneks Musik als Oper uraufgeführt. Eurydike muss ins Schattenreich, sie will nicht fort von Orpheus, ist aber zugleich neugierig auf den Verführer Hades. Als Orpheus die Geliebte befreien will, lautet die Bedingung, wie im Mythos, dass sie nur dann gehen darf, wenn er nicht zurückblickt.
Gemeint ist das allerdings im übertragenen Sinne: Orpheus-Kokoschka darf nicht in die Vergangenheit zurückschauen und Eurydike-Alma fragen, was sie im Orkus getrieben hat. Doch er nötigt sie zur Beichte: Sie hat ihn vergessen, war Hades' Geliebte. Orpheus kann die Eifersucht nicht zügeln und tötet seine Frau. Er kehrt in die Heimat zurück und provoziert bei einer bacchantischen Gewaltorgie den eigenen Tod. Im Schattenreich wird er erneut ermordet, nun von Eurydike. "Erst die je zweifach getöteten einstigen Liebenden können voneinander Ruhe finden", deutet Görner das Stück um den Kampf der Geschlechter.
Als Kokoschka noch jung war, bekam er vom Vater zwei Geschenke. Das eine war, wenig überraschend, ein Farbkasten, das andere ein Buch: "Orbis pictus" des Johann Amos Comenius von 1658, eine Bilderenzyklopädie für Kinder, die bis ins neunzehnte Jahrhundert sehr beliebt war. Comenius engagierte sich für Menschlichkeit, für Bildung für alle sowie Erziehung ohne Zwang. Aus Kokoschkas Verehrung für den Pädagogen erwuchs sein humanistisches Ideal, das ihn nicht nur antrieb, den Menschen ins Zentrum seiner Kunst zu stellen, sondern auch, sich gesellschaftlich einzumischen - was Görner an vielen Beispielen nachweist.
Im Juni 1933 etwa verteidigte Kokoschka öffentlich Max Liebermann, der auf Druck der Nationalsozialisten aus der Akademie der Künste ausgetreten war. Während des Exils - er lebte erst in der Tschechoslowakei, dann in England - bezog Kokoschka Stellung für die Republikaner im spanischen Bürgerkrieg, protestierte in einem "Ansuchen an den Haager Schiedsgerichtshof" gegen die Eingliederung Österreichs ins Deutsche Reich oder kritisierte in Wort und Bild die Appeasement-Politik der Briten. 1936 forderte er auf dem Brüsseler Friedenskongress, da die Schule durch "Irreführung der Massen" Schuld an der gegenwärtigen Misere sei, eine Reform des Erziehungswesens.
Es gibt viele rote Fäden im Werk Kokoschkas, meint Görner. Einer ist freilich Almilizi, keiner aber ziehe sich so durch wie "jener, der in den Comenius-Komplex verwoben ist". So lautet die zentrale These dieser Biographie, dass dieser Künstler auch ein hellwacher Geist auf anderem Terrain war, dass "kein bildender Künstler der Moderne" sich mit einer solchen "Kompetenz politisch zu Wort gemeldet" habe wie Kokoschka.
Leichte Lektüre ist Görners Buch nicht. Virtuos konstruiert er Sätze und jongliert mit Worten; was wohldosiert beeindruckt hätte, führt in permanenter Aneinanderreihung schnell zu Ermüdung. Auch lässt der Autor den Leser mit seinen gelehrten Ausführungen oft allein. Wer Görner folgen will, tut gut daran, ein paar weitere Bücher zur Hand zu nehmen. Besonders eines, in dem Kokoschkas Bilder zu sehen sind. Denn auf Abbildungen hat man in dieser Künstlerbiographie aus unerfindlichen Gründen verzichtet.
KATHARINA RUDOLPH
Rüdiger Görner:
"Oskar Kokoschka".
Jahrhundertkünstler.
Paul Zsolnay Verlag,
Wien 2018.
336 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
Dirk Schümer begegnet dem Menschen Kokoschka in Rüdiger Görners Biografie. Dass der Malerfürst trotz einiger Verirrungen immer auf der richtigen Seite kämpfte, weiß Schümer spätestens seit er bei Görner über Kokoschkas politisches und menschliches Engagement lesen durfte. Als würdiger Repäsentant eines kaputten Jahrhunderts erscheint dem Rezensenten Kokoschka in Görners berauschter, bewundernder, das Werk in der abendländischen Tradition verortender, rhapsodisch schildernder Lebens- und Wirkensgeschichte. Über Kokoschkas hier verbürgten Frauen- und Whiskykonsum kann Schümer nur staunen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Görner zeigt mit adäquat rhapsodischen Schilderungen, wie umwerfend belesen und weltgewandt dieser Kleinbürger aus Pöchlarn war." Dirk Schümer, Die Welt, 16.02.19