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Produktdetails
  • Fischer Taschenbücher
  • Verlag: FISCHER Taschenbuch
  • ISBN-13: 9783596105489
  • ISBN-10: 359610548X
  • Artikelnr.: 24262914
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.12.2003

Der unbekannte Kontinent
Nach der zehnbändigen Gesamtausgabe legt Ralph Dutli jetzt eine Biographie Ossip Mandelstams vor / Von Sonja Margolina

Der Tod eines Künstlers ... wirkt gleichsam als Quelle dieses Schaffens, als dessen teleologischer Grund", schrieb Ossip Mandelstam 1916 nach dem Tod Skrjabins und formulierte damit den Mechanismus der Kanonisierung des Künstlers im kollektiven Gedächtnis der Nation. Ein Leben nach dem physischen Ableben gibt es nur, wenn man Klassiker wird. Die Zeilen Mandelstams wurden stets als Vorahnung des eigenen Schicksals oder als self-fulfilling prophecy gelesen. Tatsächlich war sein tragischer Lebensweg wie geschaffen für eine postume Mythologisierung. Die Figur des gejagten, aber unbeugsamen Dichters, der dem Tyrannen die mörderische Wahrheit um den Preis des eigenen Lebens ins Gesicht schleudert, setzte einen hohen moralischen Maßstab und diente Andersdenkenden als moralische Stütze. Im Kontext des Kalten Kriegs konnte der 1938 in einem Straflager elend zugrunde gegangene Mandelstam freilich nicht die Rolle spielen, die der Boris Pasternaks vergleichbar gewesen wäre, dessen "Doktor Schiwago" zum internationalen Politikum wurde. Trotzdem war Mandelstam im Westen ein glückliches Nachleben beschert. Sein erster Übersetzer war kein Geringerer als Paul Celan. Der dem Holocaust entkommene, aber am "Jahrhundert-Raubtier" zerbrochene Celan entdeckte in dem Schicksal des Märtyrers des Stalinismus nicht nur dessen unheimliche Wahlverwandtschaft mit dem von Millionen Vergaster - in der totalitären Umzingelung, aus der nirgends ein Entkommen war -, sondern auch seine eigene stilistische und ästhetische Nähe zu Mandelstams Dichtung.

Die Übersetzung war für ihn deshalb ein Akt der Erkenntnis, wenn nicht der Verschmelzung mit einem aus dem Nebel der mörderischen Zeit emporgestiegenen Alter ego: "Der Name Ossip kommt auf dich zu, du erzählst ihm / was er schon weiß." Doch Mandelstam hatte auch mit seinen anderen Übersetzern Glück, vor allem mit Rainer Kirsch und Hubert Witt. Mitte der achtziger Jahre startete der Züricher Ammann Verlag zusammen mit dem Übersetzer und Herausgeber Ralph Dutli ein ehrgeiziges Projekt: die kommentierte Gesamtausgabe der Werke Ossip Mandelstams in zehn Bänden, die seit längerem vorliegt, aber erst jetzt mit Dutlis Biographie Mandelstams ihren Abschluß erhält. Das Engagement des Verlags und die Treue Dutlis, für den das Unterfangen zum Lebenswerk wurde, können nicht hoch genug bewertet werden. Dank dieser kulturellen Leistung wird der Dichter wie kaum ein anderer russischer "Moderner" in den deutschsprachigen kulturellen Raum integriert.

Seine ersten Schritte machte Mandelstam in der kleinen Gruppe junger Petersburger Dichter, die sich "Dichterzunft" oder Akmeisten nannten (aus dem Griechischen ,akme': Spitze). Die bekanntesten von ihnen waren seine Freunde Anna Achmatowa und ihr Ehemann Nikolai Gumiljow. Sie wollten sich von der älteren Dichtergeneration, den Symbolisten, abgrenzen und kritisierten diese wegen ihrer Absage an die diesseitige Realität und ihres Spielens mit nebulösen Symbolen und Andeutungen. Wenig hielten sie auch von den skandalumwitterten Futuristen mit ihren ikonoklastischen épatez-le-bourgeois-Provokationen. Die Ökonomie der Ausdrucksmittel, Gedankenklarheit und Aufmerksamkeit für das reale Leben in seiner ganzen Fülle sollten neues ästhetisches Programm werden. Im Jahr 1913 gibt Mandelstam seinen ersten schmalen Gedichtband "Der Stein" auf eigene Kosten heraus. Zumindest in den frühen Gedichten drückt er sich weder klar noch einfach, sondern ziemlich symbolistisch aus. Aber der Wandel ist nicht zu übersehen. Im Unterschied zu den Symbolisten mit ihrer konservativen Kulturkritik und Beschwörung des Untergangs begegnet Mandelstam dem Kapitalismus, der Stadt, der neuen Massenkultur mit Neugier und Bejahung. Themen seiner Dichtung sind Sport, Kino, Tourismus, Autos: Symptome für das Erwachen Rußlands aus seinem "schweren Schlaf", für die Öffnung des Landes für etwas, das man heute als "Globalisierung" bezeichnen soll. Es geht also um eine andere Perspektive. Doch im "Stein" tritt eine weitere Eigenart Mandelstams in Erscheinung: Das Neue verbannt das Alte nicht, das Kulturerbe wird nicht wie bei den Futuristen polemisch "vom Schiff der Gegenwart" entsorgt, sondern in die gesamte "jüdisch-christliche" Überlieferung integriert. Die akmeistische "Zeit, Steine zu sammeln", richtet sich gegen die neuen Barbaren.

Im übrigen war Mandelstam auch kein Erneuerer der Form wie etwa Majakowski: Seine Versmaße und Reime bleiben traditionell. Es ist deshalb kein Zufall, daß er vor dem avantgardistischen Hintergrund der 1910er Jahre häufig als "Neoklassizist" abgetan wurde. In seinem zweiten Gedichtband "Tristia" (1916 - 1925) entfaltet sich der "Neoklassizismus" zu voller Blüte. Die Bezüge auf antike Archetypen und mythische Gestalten häufen sich gerade in der Zeit der Revolution und des Bürgerkriegs, als vielen seiner Landsleute sicher eher der apokalyptische Reiter einfiel. Die realen Ängste und Sehnsüchte werden entpersonifiziert und im zeitlosen Kontext antiker Erhabenheit therapeutisch sublimiert. In "Tristia" tritt die eigenartige Qualität der Mandelstamschen Dichtung deutlich zutage. Er schafft geniale Metaphern, die eine bislang ungeahnte Verdichtung der Sinngebung ermöglichen. Man könnte mit der heutigen Computer-Sprache von einer Komprimierung der Erfahrungen und des Wissens sprechen. Mandelstam gilt also nicht zu Unrecht als "dunkler" Dichter, und etliche Literaturwissenschaftler verdienen ihr Brot bis heute damit, seine Metaphern zu enträtseln. Natürlich wäre er kein großer Poet, wenn es nur bei der Verdichtung bliebe. Letztendlich kommt es beim Gedicht auf die Wirkung an. Die Metapher muß "stimmen", um den Leser in Bann zu schlagen, er muß seine eigenen Empfindungen, dunklen Ahnungen, Weltbilder darin wiedererkennen können: "Dein Glück - nur der Moment, da du's erkennst".

Dieser Begegnung zwischen Dichter und Leser, die ja auch das Wesen der Poesie ausmacht, sind bei der Übersetzung in eine Fremdsprache enge Grenzen gesetzt. Denn die Metapher, insbesondere eine derart komprimierte Metapher, läuft Gefahr, durch die Fremdsprache erodiert zu werden. Die Unmöglichkeit der Übertragung ist der Lyrik immanent. Deshalb sind Essayistik und Prosa Mandelstams für fremdsprachige Leser als Kommentar zu seinem poetischen Werk von besonderer Bedeutung. Die komprimierten Metaphern werden dort entkomprimiert, in den Kontext zeitgenössischer literarischer Diskurse oder des unmittelbaren Geschehens gestellt.

Die zweibändige Ausgabe der "Gesammelten Essays" (1913 - 1935), von Dutli kongenial übersetzt, gibt Auskunft über das Weltbild und die "unerschütterlichen" Werte Mandelstams. Obwohl manche seiner besten Essays zur Zeit ihres Entstehens einen hohen diskursiven Wert besaßen, wurden sie damals kaum rezipiert. Der autobiographische Prosatext "Das Rauschen der Zeit" (1925) und die Gogoleskaer Phantasmagorie "Die ägyptische Briefmarke" (1928) blieben ebenso am Rande der zeitgenössischen Wahrnehmung.

Im Jahr 1930 reist Mandelstam nach Armenien, wo er, der fünf Jahre lang geschwiegen hat, zur Dichtung zurückfindet. In den armenischen und Moskauer Gedichten (1930 - 1933) verabschiedet er sich von der "Klassik". Seine Verse werden metrisch variationsreicher, die Stimme wird rauher. Anstelle des "Goldenen Zeitalters" tut sich ein alttestamentarischer Abgrund auf, in dem über die Letzten Dinge nachgedacht und gedichtet wird. Mandelstam wird zum Chronisten einer Zeit, die Millionen von Hiobs und Daniels in Massengräbern verscharrt. Von den in der Verbannung nach 1934 geschriebenen Gedichten, die in den "Woronescher Heften" gesammelt wurden, gelangte damals nur eine Handvoll an die Leser. Sie bringen die Sehnsucht des zum Aussätzigen gemachten Poeten, aber auch sein erfolgloses Bemühen zum Ausdruck, um seines Überlebens willen Stalin zu besingen: das letzte Flehen des Verdammten vor dem Absturz in Wahn und Tod.

Mandelstams elender Tod im GULag wäre nie zur "Quelle seines Schaffens" geworden, wenn seine Witwe Nadeschda sich nicht um sein Erbe gekümmert hätte. Abgesehen von dem Umstand, daß sie die ungedruckten Gedichte ihres Mannes auswendig lernte und dadurch dem Vergessen entriß, schrieb sie seit den fünfziger Jahren an ihren Memoiren, die in den Westen geschmuggelt wurden und in einem Emigrantenverlag erschienen. Die erste deutsche Ausgabe unter dem Titel "Jahrhundert der Wölfe" erschien 1970, 1975 folgte das zweite Erinnerungsbuch "Generation ohne Tränen". Zum ersten Mal trat die Persönlichkeit des Dichters hinter dem Vorhang des Vergessens hervor und bekam Leben und Farbe. Nadeschda, die nie mehr als Weggefährtin des Dichters sein wollte, erwies sich als begnadete Publizistin: intelligent, scharfzüngig, hochmütig, gnadenlos. Vielen damals noch lebenden, aber heute längst verstorbenen Protagonisten soll sie mit ihrer Voreingenommenheit, ja Bösartigkeit, Schaden zugefügt haben. Ihr ging es nicht um die Wahrheit. Sie hatte ihre eigene, leidgeprüfte Sicht auf Mandelstams Leben aus der Perspektive seines gewaltsamen und ungerechten Todes. Diese Verklärung war auch mehr als verdient: Es gab einfach keinen anderen Schriftsteller, der 1934 ein Gedicht vergleichbar mit dem "Epigramm gegen Stalin" hätte schreiben, geschweige denn vortragen können. Es ist das Gedicht, in dem Stalin Massenmörder genannt wurde. Dieser verzweifelte Akt der geistigen Hygiene kostete den Dichter schließlich das Leben. Doch die Erinnerungen selbst eines sehr nahe stehenden Menschen sind noch keine Biographie, obwohl es immer so etwas wie ein Monopol der Witwe auf die Version von Mandelstams Lebens gegeben zu haben scheint.

In den neunziger Jahren, als allmählich Zeugnisse aus dem Umkreis der Mandelstams veröffentlicht wurden, die ein etwas komplizierteres Bild des Dichters und seiner Frau zeigten, unterstellte man den "Tabubrechern" niedere Motive. Den Felsen namens Nadeschda, von Joseph Brodsky pietätvoll "Witwe der Kultur" genannt, zu überwinden ist nicht einfach. Vor diesem Hintergrund mußte man auf die Biografie Mandelstams von Ralph Dutli sehr gespannt sein, sollte sie doch als erste Biographie des Poeten das großartige Mandelstam-Projekt des Ammann Verlags krönen.

Die Abkehr des Verlags von der einheitlichen und schlichten Gestaltung der Werkausgabe mag Geschmacksache sein. Merkwürdig mutet indes die Erklärung Dutlis im ersten Kapitel an, er wolle keine "voyeuristische Chronik" anbieten, mit der er offensichtlich eine Biographie gleichsetzt. Er scheint dieses Genre geradezu zu verachten und entscheidet sich "nach aller berechtigten Beschimpfung der Biographie" lediglich für eine "Werkbiographie samt Selbstzeugnissen". Traut Dutli, zweifellos einer der größten Kenner Mandelstams, sich womöglich nicht zu, die Lebensgeschichte des Dichters zu schreiben? Möchte er sich von Anfang an prophylaktisch gegen Kritik absichern?

Das wäre durchaus verständlich: Vom Alltagsleben des Dichters ist erstaunlich wenig bekannt, die Zeugnisse der Zeitgenossen sind oft widersprüchlich oder voreingenommen. Noch schwieriger ist es vielleicht, die dramatische, ereignisreiche Epoche in das lückenhaft überlieferte Leben Mandelstams einzuweben. Daß vor Dutli niemand dieses Wagnis unternommen hat, ist kein Zufall.

Die Entscheidung zugunsten der "Werkbiographie" hat nicht unerhebliche Folgen. Dutli folgt dem Leben Mandelstams chronologisch und beleuchtet es mit umfangreichen Zitaten und Nacherzählungen, die er als Dokumente behandelt. Mandelstams Ideen und Wertvorstellungen wird dadurch ausreichend Rechnung getragen, seiner schillernden Persönlichkeit jedoch nicht. Ähnlich wie in den Memoiren seiner Witwe erscheint der Dichter als Dissident, der sich bewußt gegen den Totalitarismus auflehnt und im ungleichen Kampf unterliegt. Man erfährt wenig über die Umgebung Mandelstams, noch weniger über seine in jeder Hinsicht außergewöhnliche Frau. Sie tritt überwiegend als treuer Schatten und Dienerin des Genies auf. Eine merkwürdige Scheu legt der Verfasser an den Tag, wenn er auf die erotischen Beziehungen zu sprechen kommt, die keinen geringen Platz im Leben beider und ihres Milieus einnahmen. So schreibt er über die Beziehung zwischen Zwetajewa und Mandelstam: "Wie weit die erotische Annäherung zwischen den beiden ging - über den ,Übermut' und Küsse hinaus? -, braucht keinen zu interessieren." Einspruch, Euer Ehren, sie darf den Leser sehr wohl interessieren, zumal Nadeschda Mandelstam selbst sich absolut klar dazu geäußert hat: Marina hat Ossip in den Liebeskünsten unterwiesen, und Nadeschda war ihr dafür dankbar.

Dutli gibt zahlreiche Hinweise darauf, daß der Dichter sein Ende schon vor der Revolution vorausgeahnt haben soll. Die sogenannten poetischen Prophezeiungen werden hier zu buchstäblich verstanden. In Wirklichkeit stirbt der Dichter in jedem zweiten Gedicht, und sein Tod hat mehr mit seinem poetischen Selbstverständnis und der Logik der lyrischen Überhöhung als mit den konkreten Ereignissen zu tun. Das ändert sich freilich in den dreißiger Jahren, als Mandelstam seine Ausgrenzung immer mehr zu spüren bekommt. Die dreißiger Jahre zu durchleuchten gelingt Dutli besser, auch weil dieser Lebensabschnitt des Dichters eingehender erforscht ist. Insgesamt bleibt er aber fast vollständig dem Mandelstam-Verständnis der siebziger Jahre verhaftet mit seinen rigorosen Vorstellungen des Totalitarismus und dem Mythos des unbeugsamen Dichters. Dutli stellt Mandelstams Wertvorstellungen und sein Verständnis der Zeit durchaus gründlich dar. Doch der Dichter geht vollständig in seinen Werken auf. Die Lebensgeschichte Mandelstams harrt noch immer ihres Erzählers.

Ralph Dutli: "Mandelstam. Meine Zeit, mein Tier". Ammann Verlag, Zürich 2003. 630 S., geb., 28,90 [Euro].

"Ossip Mandelstam". Das Gesamtwerk in Kassette. Ammann Verlag, zweite Auflage Zürich 2003. 199,- [Euro] in der Kasssette. Auch in Einzelbänden lieferbar.

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