Valerie Schönian kam Ende September 1990 in Sachsen-Anhalt zur Welt - wenige Tage vor der Wiedervereinigung. Sie wurde geboren in einem Staat, der kurz darauf nicht mehr existierte. Lange dachte sie, Ost und West spielen keine Rolle mehr. 2020 feiert Deutschland 30 Jahre Wiedervereinigung, doch je länger die Mauer gefallen ist, desto ostdeutscher fühlt sich Valerie Schönian. Und damit ist sie nicht allein. Woher kommt das neue Ost-Bewusstsein, warum halten sich alte Klischees so hartnäckig, und was sagt das über die Deutsche Einheit aus? Um Antworten zu finden, sprach Valerie Schönian mit Soziologen, Politikern und Vertretern ihrer und älterer Generationen aus West und Ost, darunter Lukas Rietzschel, Jana Hensel und Philipp Amthor.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.04.2020Schau an, ich bin ein Ossi
Valerie Schönian schafft es, Plattenbauten in Neubrandenburg schön zu finden
Valerie Schönian wurde 1990 wenige Tage vor der deutschen Einheit in Magdeburg geboren. Als sie aufwuchs, spielten die DDR und der Osten für sie keine Rolle, es war allenfalls etwas Abstraktes aus den Erzählungen der Lehrer und aus Büchern. Dann kam sie nach München, später in den Berliner Westen und musste feststellen, dass sich im Westen eigentlich kaum jemand für den Osten interessierte. Oder dass Klischees regierten: "Scheiß Ossis!", "Jammerlappen", "Jammer-Ossis". Schönian fühlte sich, wenn sie so etwas hörte, angegriffen und kam erst auf diese Weise zu ihrer ostdeutschen Identität. Oder sollte man sagen: Sie erfand diese Identität? Heute denkt sie so: "Sobald es jetzt aber um Ostdeutschland geht, stehe ich innerlich bereit, irgendetwas richtigstellen zu wollen." Und: "Wer den Osten abschreibt, kennt ihn nicht."
Ihr wurde bewusst, dass sie zur ersten Ost-Generation gehört, die in die vergrößerte Bundesrepublik hineingeboren wurde. Und sie nahm sich vor, eine Stimme dieser Generation zu sein. So entstand ihr Büchlein "Ostbewusstsein". Darin macht sich die Autorin auf eine Reise durch Ost und West, um zu erkunden, was genau der Osten eigentlich ist und was er für sie persönlich bedeutet. Die Reise beginnt am Kaffeetisch ihrer Eltern und endet dort auch. Sie besucht Jana Hensel, die mit ihrem Buch "Zonenkinder" vor Jahren bekannt wurde. Sie trifft sich mit Musikern, Journalisten, Kulturmanagern, Regisseuren, Malern und Galeristen, dazu mit vielen Freunden. Sie trifft sich fast ausschließlich mit ihresgleichen. Der junge CDU-Bundestagsabgeordnete Philipp Amthor aus Vorpommern ist für sie da schon etwas sehr Fremdes: "Anzug, akkurater Seitenscheitel, Deutschlandflagge am Revers. Wenn man ihn sieht, kann man nicht glauben, dass er erst Mitte 20 ist. Es ist, als hätte sich jemand einen Konservativen ausgedacht." Für Schönian, die sich im linksliberalen Milieu bewegt und heute als Journalistin arbeitet, bleibt Amthor zwar ein Rätsel, aber der Osten an sich wird ihr zur weiten Landschaft der Freiheit, lebendig und liebenswert. Nicht so glatt und schick wie der Westen, ein "Möglichkeitsraum". Ein Raum auch für Abenteuer, die noch Mut erfordern, etwa wenn es gegen die AfD und die Rechtsradikalen geht, in Chemnitz zum Beispiel.
Schönian kommt zu dem Schluss, der Osten habe einen eigenen Charakter: "Im Osten wird jeden Tag über die Zukunft nachgedacht - auch weil es nicht anders geht. Dort entstehen neue Dinge, die die Leere füllen. Er ist eine Gegend, die noch verhandelt wird, die bestritten wird." Sie fügt hinzu: "Unser Osten hat nicht mehr viel mit der DDR und mit dem Umbruch zu tun." Und weil sie das so sieht, kann sie flott von den Dingen sprechen, die sie an der DDR toll findet, Polikliniken, Kindergärten, Haushaltstage für die Frauen, Abtreibungen, Plattenbauten. Speziell ihr begeistertes Kapitel über die - in Wahrheit schreckliche - Oststadt in Neubrandenburg lässt sich eigentlich nur damit begründen, dass die Autorin gern auch ein bisschen provoziert. Sie sagt es ja selbst: "Ich sehe hier, in der Platte in Neubrandenburg, Schönheit, weil ich sie sehen will."
Wenn sie über die SED-Politik zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie schwadroniert, kommt sie zu dem Schluss: "Vernünftige Frauenpolitik ist kein Hexenwerk." Das aber kann man so nicht stehenlassen. Denn all die angeblich so tollen DDR-Errungenschaften sind im Kern doch gar keine. Sozialpolitik in einer Diktatur dient nie den Menschen, sondern den Interessen der Machthaber, um ihr Volk ruhigzustellen. Sie sind ein Produkt, das mit Unfreiheit erkauft wird. Der Ossi Christoph Dieckmann hatte Schönian das sogar einmal warnend gesagt, in einem Brief, der endete: "Der Staat ist gottlob futsch." Aber Schönian ist zu jung, um sich die Welt des realen Sozialismus vorstellen zu können. Ihre Bemerkungen über die DDR wirken angelesen - und sind es naturgemäß auch, zumal ihr selbst die Eltern keine allzu große Hilfe anboten: "Für mich war der Osten etwas, das ich mir gerade erst zu erobern begann. Für sie war es eine Vergangenheit, die endlich vorbei sein sollte." Aber gerade deshalb hätte sich die Autorin besser im Urteilen über die Vergangenheit zurückgehalten.
Nun, sie konnte es nicht, denn das Buch will radikal subjektiv sein. Es ist auch locker, flockig geschrieben. Wie sprudelndes Wasser im Glas. Dazu, wie das heute so ist, sehr feministisch: Männliche Formen kommen überhaupt nicht mehr vor. Ihre Gesprächspartner "ticken", alle Geschichten sind "spannend", manches "fühlt sich nicht gut an", und vieles liegt "in Schubladen". Zeitgeistgeschwätz. "Brauchen" wird nicht mehr mit "zu" gebraucht. Dafür erfährt der Leser alle möglichen Einzelheiten aus den Recherchen der Autorin. Dass sie raucht und ihre Omas bis zum Buch nichts davon wussten. Dass sie nach dem Gespräch mit Hensel stockbetrunken war. Dass einer ihrer Gesprächspartner Socken mit Palmen drauf trug. Als sie gemeinsam mit einer Freundin (aus dem Westen) den Film "Gundermann" schaute, gab es Eier und Feldsalat, außerdem Cookies und Yoga-Tee. Gut zu wissen.
Wenn Schönian vom "Ostbewusstsein" schreibt, dann meint sie nichts anderes als ihr Lebensgefühl, das Lebensgefühl von heute Dreißigjährigen, die zufällig im Osten aufgewachsen sind. Seit Florian Illies' "Generation Golf" wächst der Stapel mit Befindlichkeitsliteratur von Leuten, die im Leben eigentlich nichts mehr erleben. Aktuell liegt da Valerie Schönians Buch obenauf.
FRANK PERGANDE.
Valerie Schönian: Ostbewusstsein. Warum Nachwendekinder für den Osten streiten und was das für die Deutsche Einheit bedeutet.
Piper Verlag, München 2020. 272 Seiten, 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Valerie Schönian schafft es, Plattenbauten in Neubrandenburg schön zu finden
Valerie Schönian wurde 1990 wenige Tage vor der deutschen Einheit in Magdeburg geboren. Als sie aufwuchs, spielten die DDR und der Osten für sie keine Rolle, es war allenfalls etwas Abstraktes aus den Erzählungen der Lehrer und aus Büchern. Dann kam sie nach München, später in den Berliner Westen und musste feststellen, dass sich im Westen eigentlich kaum jemand für den Osten interessierte. Oder dass Klischees regierten: "Scheiß Ossis!", "Jammerlappen", "Jammer-Ossis". Schönian fühlte sich, wenn sie so etwas hörte, angegriffen und kam erst auf diese Weise zu ihrer ostdeutschen Identität. Oder sollte man sagen: Sie erfand diese Identität? Heute denkt sie so: "Sobald es jetzt aber um Ostdeutschland geht, stehe ich innerlich bereit, irgendetwas richtigstellen zu wollen." Und: "Wer den Osten abschreibt, kennt ihn nicht."
Ihr wurde bewusst, dass sie zur ersten Ost-Generation gehört, die in die vergrößerte Bundesrepublik hineingeboren wurde. Und sie nahm sich vor, eine Stimme dieser Generation zu sein. So entstand ihr Büchlein "Ostbewusstsein". Darin macht sich die Autorin auf eine Reise durch Ost und West, um zu erkunden, was genau der Osten eigentlich ist und was er für sie persönlich bedeutet. Die Reise beginnt am Kaffeetisch ihrer Eltern und endet dort auch. Sie besucht Jana Hensel, die mit ihrem Buch "Zonenkinder" vor Jahren bekannt wurde. Sie trifft sich mit Musikern, Journalisten, Kulturmanagern, Regisseuren, Malern und Galeristen, dazu mit vielen Freunden. Sie trifft sich fast ausschließlich mit ihresgleichen. Der junge CDU-Bundestagsabgeordnete Philipp Amthor aus Vorpommern ist für sie da schon etwas sehr Fremdes: "Anzug, akkurater Seitenscheitel, Deutschlandflagge am Revers. Wenn man ihn sieht, kann man nicht glauben, dass er erst Mitte 20 ist. Es ist, als hätte sich jemand einen Konservativen ausgedacht." Für Schönian, die sich im linksliberalen Milieu bewegt und heute als Journalistin arbeitet, bleibt Amthor zwar ein Rätsel, aber der Osten an sich wird ihr zur weiten Landschaft der Freiheit, lebendig und liebenswert. Nicht so glatt und schick wie der Westen, ein "Möglichkeitsraum". Ein Raum auch für Abenteuer, die noch Mut erfordern, etwa wenn es gegen die AfD und die Rechtsradikalen geht, in Chemnitz zum Beispiel.
Schönian kommt zu dem Schluss, der Osten habe einen eigenen Charakter: "Im Osten wird jeden Tag über die Zukunft nachgedacht - auch weil es nicht anders geht. Dort entstehen neue Dinge, die die Leere füllen. Er ist eine Gegend, die noch verhandelt wird, die bestritten wird." Sie fügt hinzu: "Unser Osten hat nicht mehr viel mit der DDR und mit dem Umbruch zu tun." Und weil sie das so sieht, kann sie flott von den Dingen sprechen, die sie an der DDR toll findet, Polikliniken, Kindergärten, Haushaltstage für die Frauen, Abtreibungen, Plattenbauten. Speziell ihr begeistertes Kapitel über die - in Wahrheit schreckliche - Oststadt in Neubrandenburg lässt sich eigentlich nur damit begründen, dass die Autorin gern auch ein bisschen provoziert. Sie sagt es ja selbst: "Ich sehe hier, in der Platte in Neubrandenburg, Schönheit, weil ich sie sehen will."
Wenn sie über die SED-Politik zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie schwadroniert, kommt sie zu dem Schluss: "Vernünftige Frauenpolitik ist kein Hexenwerk." Das aber kann man so nicht stehenlassen. Denn all die angeblich so tollen DDR-Errungenschaften sind im Kern doch gar keine. Sozialpolitik in einer Diktatur dient nie den Menschen, sondern den Interessen der Machthaber, um ihr Volk ruhigzustellen. Sie sind ein Produkt, das mit Unfreiheit erkauft wird. Der Ossi Christoph Dieckmann hatte Schönian das sogar einmal warnend gesagt, in einem Brief, der endete: "Der Staat ist gottlob futsch." Aber Schönian ist zu jung, um sich die Welt des realen Sozialismus vorstellen zu können. Ihre Bemerkungen über die DDR wirken angelesen - und sind es naturgemäß auch, zumal ihr selbst die Eltern keine allzu große Hilfe anboten: "Für mich war der Osten etwas, das ich mir gerade erst zu erobern begann. Für sie war es eine Vergangenheit, die endlich vorbei sein sollte." Aber gerade deshalb hätte sich die Autorin besser im Urteilen über die Vergangenheit zurückgehalten.
Nun, sie konnte es nicht, denn das Buch will radikal subjektiv sein. Es ist auch locker, flockig geschrieben. Wie sprudelndes Wasser im Glas. Dazu, wie das heute so ist, sehr feministisch: Männliche Formen kommen überhaupt nicht mehr vor. Ihre Gesprächspartner "ticken", alle Geschichten sind "spannend", manches "fühlt sich nicht gut an", und vieles liegt "in Schubladen". Zeitgeistgeschwätz. "Brauchen" wird nicht mehr mit "zu" gebraucht. Dafür erfährt der Leser alle möglichen Einzelheiten aus den Recherchen der Autorin. Dass sie raucht und ihre Omas bis zum Buch nichts davon wussten. Dass sie nach dem Gespräch mit Hensel stockbetrunken war. Dass einer ihrer Gesprächspartner Socken mit Palmen drauf trug. Als sie gemeinsam mit einer Freundin (aus dem Westen) den Film "Gundermann" schaute, gab es Eier und Feldsalat, außerdem Cookies und Yoga-Tee. Gut zu wissen.
Wenn Schönian vom "Ostbewusstsein" schreibt, dann meint sie nichts anderes als ihr Lebensgefühl, das Lebensgefühl von heute Dreißigjährigen, die zufällig im Osten aufgewachsen sind. Seit Florian Illies' "Generation Golf" wächst der Stapel mit Befindlichkeitsliteratur von Leuten, die im Leben eigentlich nichts mehr erleben. Aktuell liegt da Valerie Schönians Buch obenauf.
FRANK PERGANDE.
Valerie Schönian: Ostbewusstsein. Warum Nachwendekinder für den Osten streiten und was das für die Deutsche Einheit bedeutet.
Piper Verlag, München 2020. 272 Seiten, 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Man kann es wohl als Erfolg des Projekts deutsche Einheit betrachten, dass sich junge Ostdeutsche wie Valerie Schönian längst nicht mehr scheuen, diese prägenden Erfahrungen heute zu thematisieren. Denn Angriffe bleiben nicht aus.« MDR "Zeitreise" 20200929