Der Autor beschreibt die Organisationsformen und internen Konflikte, die die Gründung des Dachverbandes "Bund der Vertriebenen" (BdV) bis 1959 verzögerten; er analysiert das Selbstverständnis und die heimatpolitische Programatik der Vertriebenenverbände sowie deren Einfluss auf Bundesregierung und Parteien; ferner werden auch die konkreten deutschland- und ostpolitischen Forderungen der Vertriebenen erörtert und ihr Wandel in den 50er und 60er Jahren, bedingt durch die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen in der Bundesrepublik.
Ein Dokumentenanhang ergänzt die quellenfundierte Darstellung.
Ein Dokumentenanhang ergänzt die quellenfundierte Darstellung.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.12.2004In den Grenzen von 1939
Macht und Ohnmacht der deutschen Vertriebenenverbände während der fünfziger und sechziger Jahre
Matthias Stickler: "Ostdeutsch heißt gesamtdeutsch". Organisation, Selbstverständnis und heimatpolitische Zielsetzungen der deutschen Vertriebenenverbände 1949-1972. Droste Verlag, Düsseldorf 2004. 511 Seiten, 39,50 [Euro].
Wer die deutschland- und ostpolitischen Zielvorstellungen des 1959 gegründeten "Bundes der Vertriebenen. Vereinigte Landsmannschaften und Landesverbände" (BdV) in Frage stellte, mußte sich warm anziehen. Diese Erfahrung machte der Historiker Golo Mann, der im September 1961 in einer Hamburger Wochenzeitung "Realismus, Klarheit und Ehrlichkeit" von der Bonner Außenpolitik einforderte und die "Wiedervereinigungsrhetorik" als Selbstbetrug bezeichnete. Der aus Schlesien stammende SPD-Politiker Herbert Hupka konterte daraufhin im Verbandsorgan "Deutscher Ostdienst" (DOD): "In unserem Vaterland fehlt es an der nationalen Solidarität. Mit Möchtegernpolitikern, mögen sie auch einen noch so berühmten Namen tragen, werden wir nicht weiterkommen." Der seither schwelende Konflikt zwischen dem Sohn des Literaturnobelpreisträgers Thomas Mann und den Vertriebenenverbänden eskalierte im Februar 1964, als sich Golo Mann bei einer Vortragsveranstaltung der Deutschen Bibliothek in Rom für einen Verzicht auf die deutschen Ostgebiete aussprach. Später begründete er seinen Auftritt damit, daß die Aufgabe von Professoren auch darin bestehe, die öffentliche Meinung reif zu machen für eine solche Einsicht, weil der Bundesregierung und den Parteien noch die Hände gebunden wären.
Der BdV protestierte unverzüglich und forderte die Stuttgarter Landesregierung auf, "sicherzustellen, daß die an staatlichen Hochschulen berufenen Forscher und Lehrer dem Grundgesetz entsprechen, das jeden Bürger verpflichtet, darauf hinzuwirken, daß die deutsche Einheit in Freiheit wiederhergestellt wird". Ein solcher Vorwurf der Verfassungsfeindlichkeit reichte dem DOD-Chefredakteur Clemens J. Neumann nicht aus. Er verwies in einem Artikel darauf, daß die Politik des BdV identisch mit der von Bundesregierung und Bundestag sei. Mann jedoch wolle, "wie in unseligen Zeiten gehabt, die Legitimation der demokratischen Staatsorgane außer Kraft setzen und statt ihrer den selbstgestellten Auftrag usurpieren . . . , das deutsche Volk mit allen Mitteln doktoraler Kunst zu impfen und schließlich auf seine höchst private Meinung hin breitzuschlagen".
Im April 1964 gab Golo Mann den Stuttgarter Lehrstuhl auf, was offiziell mit Rücksicht auf seinen Gesundheitszustand begründet wurde. Weil sich der Historiker weiterhin in den Medien zur Außenpolitik äußerte, stieß Neumann im DOD nach und titulierte ihn als "Magister Germaniae, genauer gesagt, als Reeducator Germaniae". Sogar den angeblich "hebräischen Namen" Golo spießte er auf und verurteilte Manns Wirken sowohl im amerikanischen Exil als auch in der Bundesrepublik mehr oder weniger offen als Landesverrat. Damit hatte der Chefredakteur und langjährige BdV-Pressereferent den Bogen überspannt. In der ersten DOD-Ausgabe des Jahres 1965 lenkte die Redaktion ein, verwahrte sich wortreich dagegen, antisemitische Tendenzen zu verfolgen, und würdigte Emigranten ausdrücklich als Opfer der "verbrecherischen Politik Hitlers".
Der Ausgang der Mann-Kontroverse war nach dem Urteil von Matthias Stickler "für den BdV ein Pyrrhus-Sieg". Zwar sei es dem Dachverband von zwanzig Landsmannschaften noch einmal gelungen, sich öffentlichkeitswirksam als Wahrer der nationalen Interessen des deutschen Volkes zu präsentieren und einen "unbequemen Kritiker durch das Erzeugen einer öffentlichen Drohkulisse aus seinem Amt zu drängen". Doch ließen sich so die Diskussionen nicht ersticken: "Der Widerstand des BdV gegen den allmählichen Wandel des deutschlandpolitischen Grundkonsenses der frühen 50er Jahre glich vielmehr dem Kampf gegen die Hydra, der für jeden abgeschlagenen stets drei neue Köpfe wuchsen."
Stickler beschreibt auf breiter Materialbasis zunächst organisationsgeschichtlich die Entstehung des BdV und seiner beiden Vorläuferorganisationen von Mitte der vierziger bis Ende der fünfziger Jahre, um dann das Selbstverständnis der Vertriebenenverbände herauszuarbeiten, die für sich beanspruchten, "nicht als Repräsentanten partikularer Interessen, sondern als nationale Avantgarde des gesamten deutschen Volkes zu handeln". Der Anspruch auf ein öffentliches Wächteramt im Hinblick auf die Deutschland- und Ostpolitik der Bundesrepublik - als eine Art selbsternannter Nebenregierung mit Vetovollmacht gegenüber Legislative und Exekutive - sei allerdings als unvereinbar "mit den Spielregeln der parlamentarischen Demokratie und deshalb von Kritikern als anmaßend empfunden" worden. Reagiert habe der BdV mit einer Politik des "Helm-fester-Bindens", was wegen der geänderten außenpolitischen Großwetterlage seit dem Mauerbau 1961 in eine Selbstisolierung geführt habe.
Die vom Verfasser nachgezeichneten "heimatpolitischen Zielsetzungen" gingen der Bundesregierung, die sich offiziell auf die Grenzen vom 31. Dezember 1937 - also vor dem "Anschluß" Österreichs im März 1938 - festgelegt hatte, viel zu weit. Für die Vertriebenenverbände stellten demgegenüber die Grenzen von 1937 nur Mindestforderungen dar, die um Danzig, Westpreußen, Posen, Ostoberschlesien, Sudetenland und Memelland erweitert werden sollten. Bundeskanzler Adenauer glaubte allerdings nicht daran, die Ostgebiete im traditionell-nationalstaatlichen Sinne wiedergewinnen zu können, während der BdV nach anfänglichen Schwierigkeiten das Heimatrecht der nach Kriegsende 1945 in den Ostgebieten angesiedelten beziehungsweise dort geborenen Menschen grundsätzlich bejahte und einen Ausgleich mit ihnen anstrebte. Jedoch unterließ es die Bundesregierung, den nach Auffassung des BdV auf friedlichem Wege anzustrebenden Grenzansprüchen unmißverständlich zu widersprechen. Stickler spricht in diesem Zusammenhang von einer seit den späten fünfziger Jahren zunehmenden "Tendenz zum unaufrichtigen Formelkompromiß".
Das interessanteste Kapitel der wichtigen und gut lesbaren Studie ist dem Verhältnis der politischen Parteien zu den Vertriebenenverbänden gewidmet. Die Unionsparteien und die SPD buhlten natürlich vor allem wegen des Wählerpotentials um die Interessenvertretungen der fast zehn Millionen Vertriebenen, von denen in besten Zeiten immerhin ein Viertel organisiert war. Die Wahl von Wenzel Jaksch, des profiliertesten sozialdemokratischen Vertriebenenpolitikers, zum BdV-Präsidenten 1964 markierte den Höhepunkt des SPD-Einflusses im Bund der Vertriebenen. Sticker wirft insbesondere Willy Brandt vor, ein "doppeltes Spiel" gespielt zu haben, in dem der Ende November 1966 verstorbene Jaksch sowie sein Stellvertreter und späterer Nachfolger Reinhold Rehs lediglich Schachfiguren gewesen seien: "Sie sollten durch Mobilisierung der Vertriebenenklientel für die SPD dieser zur Regierungsbeteiligung verhelfen, während Egon Bahr im Hintergrund bereits die neue Ostpolitik vorbereitete . . . Daß sich die Vertriebenenverbände nach dem Regierungswechsel von 1969 betrogen fühlten, vermag nicht zu verwundern, die Abwendung des BdV von der SPD und damit die faktische Aufgabe der bisher streng beachteten parteipolitischen Neutralität war die im Grunde logische Konsequenz der vertriebenpolitischen Wende der SPD." Diese sollte für Hupka und Rehs den Anlaß für einen demonstrativen Wechsel von der SPD zur CDU bilden, wenn auch nach Sticklers Beobachtungen im Konfliktfall zwischen Verbands- und Parteiinteressen die höhere Loyalität der Vertriebenenpolitiker in der Regel ihrer jeweiligen Partei gegolten habe.
Als gefährliche Alternative bot sich seit 1964 die NPD an. Eine "schleichende Hinwendung einer wachsenden Minderheit der Vertriebenen zum Rechtsextremismus" habe es gegeben, dem der BdV durch einen strikten Abgrenzungskurs entgegengetreten sei. Daß die NPD 1966 in Hessen und Bayern, 1967 in Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz sowie 1968 in Baden-Württemberg den Sprung in den Landtag schaffte, führt Stickler keineswegs auf eine besondere Anfälligkeit der Vertrieben für den Rechtsextremismus zurück - obwohl die NPD "vor allem in den Ländern mit einem hohen Anteil an Vertriebenenwählern überproportional" zugelegt habe. Für die Bundestagswahl von 1969 stellte sich mit Linus Kather, der 1953 von Adenauer als Bundesvertriebenenminister verhindert worden und im Jahr darauf von der CDU zum "Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten" (BHE) übergewechselt war, nur ein einziger prominenter Vertriebenenpolitiker der NPD zur Verfügung. Damals lief der Verband, der nach außen stets Maximalpositionen vertreten hatte, Gefahr, an seiner eigenen Programmatik gemessen und damit von rechts überholt zu werden. "Unzweifelhaft stand der BdV dem Rechtsextremismus fern, er hatte aber gerade in Fragen der Heimatpolitik bei seinen Mitgliedern Erwartungen geweckt, die gegenwärtig kaum erfüllbar waren, von der NPD aber lautstark eingefordert wurden."
Das Scheitern der NPD bei der Bundestagswahl, ihr rascher Niedergang und die neue Rolle der Union, die sich nun in der Opposition als Anwalt der heimatpolitischen Interessen der Vertriebenen profilierte, habe "die Minderheit der Vertriebenen, die zur NPD abgewandert waren, rasch wieder auf demokratischen Boden" zurückgeführt. So habe sich durch die starke innenpolitische Polarisierung als Folge der Ostpolitik der SPD/FDP-Koalition unter Bundeskanzler Brandt und Bundesaußenminister Scheel die enge Allianz zwischen den Unionsparteien und den Vertriebenenverbänden herausgebildet, die für die siebziger und achtziger Jahre kennzeichnend war. "Diese auf eine im Grunde paradoxe Weise eigentlich glückliche Fügung enthob den BdV auch der Notwendigkeit, heimatpolitisch wirklich Farbe bekennen zu müssen. Es muß offen bleiben, wie er sich entschieden hätte, wenn etwa ab 1969 die Union als Regierungspartei in der Ostpolitik die BdV-Linie verlassen hätte. Einiges weist indes darauf hin, daß der BdV auch dann mehrheitlich nicht ins rechtsextreme Lager übergewechselt wäre." Die Integrationspolitik der großen demokratischen Parteien habe Wirkung gezeigt, so daß die in zwanzig Jahren gewachsenen Bindekräfte stärker als "die Dogmen der Heimatpolitik" gewesen seien.
Als "bemerkenswerten Teilerfolg" bewertet Stickler schließlich die vom BdV in den siebziger Jahren mitangestrengten Urteile des Bundesverfassungsgerichts zum Grundlagenvertrag und zu den Ostverträgen, wenn auch im nachhinein als wertlos, weil eben nicht verhindert werden konnte, daß der gesamtdeutsche Gesetzgeber 1990 realpolitisch handelte und die Bundesrepublik im deutsch-polnischen Grenzbestätigungsabkommen vom November 1990 die Oder-Neiße-Linie als deutsch-polnische Grenze anerkannte: "Diese Anerkennung, gegen die der BdV vergeblich protestierte und die zum großen Entsetzen vieler Vertriebener ausgerechnet von Helmut Kohl vorangetrieben wurde, machte schlagartig bewußt, wie sehr der Einfluß des Verbandes trotz des Regierungswechsels von 1982 zurückgegangen war." Kritisch fügt Stickler hinzu, daß viele führende Verbandsfunktionäre sich "in einen Kokon" von "akademisch-völkerrechtlich einwandfreien" Rechtspositionen eingewoben und darüber "die Realisierbarkeit völlig aus dem Auge verloren" hätten.
RAINER BLASIUS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Macht und Ohnmacht der deutschen Vertriebenenverbände während der fünfziger und sechziger Jahre
Matthias Stickler: "Ostdeutsch heißt gesamtdeutsch". Organisation, Selbstverständnis und heimatpolitische Zielsetzungen der deutschen Vertriebenenverbände 1949-1972. Droste Verlag, Düsseldorf 2004. 511 Seiten, 39,50 [Euro].
Wer die deutschland- und ostpolitischen Zielvorstellungen des 1959 gegründeten "Bundes der Vertriebenen. Vereinigte Landsmannschaften und Landesverbände" (BdV) in Frage stellte, mußte sich warm anziehen. Diese Erfahrung machte der Historiker Golo Mann, der im September 1961 in einer Hamburger Wochenzeitung "Realismus, Klarheit und Ehrlichkeit" von der Bonner Außenpolitik einforderte und die "Wiedervereinigungsrhetorik" als Selbstbetrug bezeichnete. Der aus Schlesien stammende SPD-Politiker Herbert Hupka konterte daraufhin im Verbandsorgan "Deutscher Ostdienst" (DOD): "In unserem Vaterland fehlt es an der nationalen Solidarität. Mit Möchtegernpolitikern, mögen sie auch einen noch so berühmten Namen tragen, werden wir nicht weiterkommen." Der seither schwelende Konflikt zwischen dem Sohn des Literaturnobelpreisträgers Thomas Mann und den Vertriebenenverbänden eskalierte im Februar 1964, als sich Golo Mann bei einer Vortragsveranstaltung der Deutschen Bibliothek in Rom für einen Verzicht auf die deutschen Ostgebiete aussprach. Später begründete er seinen Auftritt damit, daß die Aufgabe von Professoren auch darin bestehe, die öffentliche Meinung reif zu machen für eine solche Einsicht, weil der Bundesregierung und den Parteien noch die Hände gebunden wären.
Der BdV protestierte unverzüglich und forderte die Stuttgarter Landesregierung auf, "sicherzustellen, daß die an staatlichen Hochschulen berufenen Forscher und Lehrer dem Grundgesetz entsprechen, das jeden Bürger verpflichtet, darauf hinzuwirken, daß die deutsche Einheit in Freiheit wiederhergestellt wird". Ein solcher Vorwurf der Verfassungsfeindlichkeit reichte dem DOD-Chefredakteur Clemens J. Neumann nicht aus. Er verwies in einem Artikel darauf, daß die Politik des BdV identisch mit der von Bundesregierung und Bundestag sei. Mann jedoch wolle, "wie in unseligen Zeiten gehabt, die Legitimation der demokratischen Staatsorgane außer Kraft setzen und statt ihrer den selbstgestellten Auftrag usurpieren . . . , das deutsche Volk mit allen Mitteln doktoraler Kunst zu impfen und schließlich auf seine höchst private Meinung hin breitzuschlagen".
Im April 1964 gab Golo Mann den Stuttgarter Lehrstuhl auf, was offiziell mit Rücksicht auf seinen Gesundheitszustand begründet wurde. Weil sich der Historiker weiterhin in den Medien zur Außenpolitik äußerte, stieß Neumann im DOD nach und titulierte ihn als "Magister Germaniae, genauer gesagt, als Reeducator Germaniae". Sogar den angeblich "hebräischen Namen" Golo spießte er auf und verurteilte Manns Wirken sowohl im amerikanischen Exil als auch in der Bundesrepublik mehr oder weniger offen als Landesverrat. Damit hatte der Chefredakteur und langjährige BdV-Pressereferent den Bogen überspannt. In der ersten DOD-Ausgabe des Jahres 1965 lenkte die Redaktion ein, verwahrte sich wortreich dagegen, antisemitische Tendenzen zu verfolgen, und würdigte Emigranten ausdrücklich als Opfer der "verbrecherischen Politik Hitlers".
Der Ausgang der Mann-Kontroverse war nach dem Urteil von Matthias Stickler "für den BdV ein Pyrrhus-Sieg". Zwar sei es dem Dachverband von zwanzig Landsmannschaften noch einmal gelungen, sich öffentlichkeitswirksam als Wahrer der nationalen Interessen des deutschen Volkes zu präsentieren und einen "unbequemen Kritiker durch das Erzeugen einer öffentlichen Drohkulisse aus seinem Amt zu drängen". Doch ließen sich so die Diskussionen nicht ersticken: "Der Widerstand des BdV gegen den allmählichen Wandel des deutschlandpolitischen Grundkonsenses der frühen 50er Jahre glich vielmehr dem Kampf gegen die Hydra, der für jeden abgeschlagenen stets drei neue Köpfe wuchsen."
Stickler beschreibt auf breiter Materialbasis zunächst organisationsgeschichtlich die Entstehung des BdV und seiner beiden Vorläuferorganisationen von Mitte der vierziger bis Ende der fünfziger Jahre, um dann das Selbstverständnis der Vertriebenenverbände herauszuarbeiten, die für sich beanspruchten, "nicht als Repräsentanten partikularer Interessen, sondern als nationale Avantgarde des gesamten deutschen Volkes zu handeln". Der Anspruch auf ein öffentliches Wächteramt im Hinblick auf die Deutschland- und Ostpolitik der Bundesrepublik - als eine Art selbsternannter Nebenregierung mit Vetovollmacht gegenüber Legislative und Exekutive - sei allerdings als unvereinbar "mit den Spielregeln der parlamentarischen Demokratie und deshalb von Kritikern als anmaßend empfunden" worden. Reagiert habe der BdV mit einer Politik des "Helm-fester-Bindens", was wegen der geänderten außenpolitischen Großwetterlage seit dem Mauerbau 1961 in eine Selbstisolierung geführt habe.
Die vom Verfasser nachgezeichneten "heimatpolitischen Zielsetzungen" gingen der Bundesregierung, die sich offiziell auf die Grenzen vom 31. Dezember 1937 - also vor dem "Anschluß" Österreichs im März 1938 - festgelegt hatte, viel zu weit. Für die Vertriebenenverbände stellten demgegenüber die Grenzen von 1937 nur Mindestforderungen dar, die um Danzig, Westpreußen, Posen, Ostoberschlesien, Sudetenland und Memelland erweitert werden sollten. Bundeskanzler Adenauer glaubte allerdings nicht daran, die Ostgebiete im traditionell-nationalstaatlichen Sinne wiedergewinnen zu können, während der BdV nach anfänglichen Schwierigkeiten das Heimatrecht der nach Kriegsende 1945 in den Ostgebieten angesiedelten beziehungsweise dort geborenen Menschen grundsätzlich bejahte und einen Ausgleich mit ihnen anstrebte. Jedoch unterließ es die Bundesregierung, den nach Auffassung des BdV auf friedlichem Wege anzustrebenden Grenzansprüchen unmißverständlich zu widersprechen. Stickler spricht in diesem Zusammenhang von einer seit den späten fünfziger Jahren zunehmenden "Tendenz zum unaufrichtigen Formelkompromiß".
Das interessanteste Kapitel der wichtigen und gut lesbaren Studie ist dem Verhältnis der politischen Parteien zu den Vertriebenenverbänden gewidmet. Die Unionsparteien und die SPD buhlten natürlich vor allem wegen des Wählerpotentials um die Interessenvertretungen der fast zehn Millionen Vertriebenen, von denen in besten Zeiten immerhin ein Viertel organisiert war. Die Wahl von Wenzel Jaksch, des profiliertesten sozialdemokratischen Vertriebenenpolitikers, zum BdV-Präsidenten 1964 markierte den Höhepunkt des SPD-Einflusses im Bund der Vertriebenen. Sticker wirft insbesondere Willy Brandt vor, ein "doppeltes Spiel" gespielt zu haben, in dem der Ende November 1966 verstorbene Jaksch sowie sein Stellvertreter und späterer Nachfolger Reinhold Rehs lediglich Schachfiguren gewesen seien: "Sie sollten durch Mobilisierung der Vertriebenenklientel für die SPD dieser zur Regierungsbeteiligung verhelfen, während Egon Bahr im Hintergrund bereits die neue Ostpolitik vorbereitete . . . Daß sich die Vertriebenenverbände nach dem Regierungswechsel von 1969 betrogen fühlten, vermag nicht zu verwundern, die Abwendung des BdV von der SPD und damit die faktische Aufgabe der bisher streng beachteten parteipolitischen Neutralität war die im Grunde logische Konsequenz der vertriebenpolitischen Wende der SPD." Diese sollte für Hupka und Rehs den Anlaß für einen demonstrativen Wechsel von der SPD zur CDU bilden, wenn auch nach Sticklers Beobachtungen im Konfliktfall zwischen Verbands- und Parteiinteressen die höhere Loyalität der Vertriebenenpolitiker in der Regel ihrer jeweiligen Partei gegolten habe.
Als gefährliche Alternative bot sich seit 1964 die NPD an. Eine "schleichende Hinwendung einer wachsenden Minderheit der Vertriebenen zum Rechtsextremismus" habe es gegeben, dem der BdV durch einen strikten Abgrenzungskurs entgegengetreten sei. Daß die NPD 1966 in Hessen und Bayern, 1967 in Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz sowie 1968 in Baden-Württemberg den Sprung in den Landtag schaffte, führt Stickler keineswegs auf eine besondere Anfälligkeit der Vertrieben für den Rechtsextremismus zurück - obwohl die NPD "vor allem in den Ländern mit einem hohen Anteil an Vertriebenenwählern überproportional" zugelegt habe. Für die Bundestagswahl von 1969 stellte sich mit Linus Kather, der 1953 von Adenauer als Bundesvertriebenenminister verhindert worden und im Jahr darauf von der CDU zum "Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten" (BHE) übergewechselt war, nur ein einziger prominenter Vertriebenenpolitiker der NPD zur Verfügung. Damals lief der Verband, der nach außen stets Maximalpositionen vertreten hatte, Gefahr, an seiner eigenen Programmatik gemessen und damit von rechts überholt zu werden. "Unzweifelhaft stand der BdV dem Rechtsextremismus fern, er hatte aber gerade in Fragen der Heimatpolitik bei seinen Mitgliedern Erwartungen geweckt, die gegenwärtig kaum erfüllbar waren, von der NPD aber lautstark eingefordert wurden."
Das Scheitern der NPD bei der Bundestagswahl, ihr rascher Niedergang und die neue Rolle der Union, die sich nun in der Opposition als Anwalt der heimatpolitischen Interessen der Vertriebenen profilierte, habe "die Minderheit der Vertriebenen, die zur NPD abgewandert waren, rasch wieder auf demokratischen Boden" zurückgeführt. So habe sich durch die starke innenpolitische Polarisierung als Folge der Ostpolitik der SPD/FDP-Koalition unter Bundeskanzler Brandt und Bundesaußenminister Scheel die enge Allianz zwischen den Unionsparteien und den Vertriebenenverbänden herausgebildet, die für die siebziger und achtziger Jahre kennzeichnend war. "Diese auf eine im Grunde paradoxe Weise eigentlich glückliche Fügung enthob den BdV auch der Notwendigkeit, heimatpolitisch wirklich Farbe bekennen zu müssen. Es muß offen bleiben, wie er sich entschieden hätte, wenn etwa ab 1969 die Union als Regierungspartei in der Ostpolitik die BdV-Linie verlassen hätte. Einiges weist indes darauf hin, daß der BdV auch dann mehrheitlich nicht ins rechtsextreme Lager übergewechselt wäre." Die Integrationspolitik der großen demokratischen Parteien habe Wirkung gezeigt, so daß die in zwanzig Jahren gewachsenen Bindekräfte stärker als "die Dogmen der Heimatpolitik" gewesen seien.
Als "bemerkenswerten Teilerfolg" bewertet Stickler schließlich die vom BdV in den siebziger Jahren mitangestrengten Urteile des Bundesverfassungsgerichts zum Grundlagenvertrag und zu den Ostverträgen, wenn auch im nachhinein als wertlos, weil eben nicht verhindert werden konnte, daß der gesamtdeutsche Gesetzgeber 1990 realpolitisch handelte und die Bundesrepublik im deutsch-polnischen Grenzbestätigungsabkommen vom November 1990 die Oder-Neiße-Linie als deutsch-polnische Grenze anerkannte: "Diese Anerkennung, gegen die der BdV vergeblich protestierte und die zum großen Entsetzen vieler Vertriebener ausgerechnet von Helmut Kohl vorangetrieben wurde, machte schlagartig bewußt, wie sehr der Einfluß des Verbandes trotz des Regierungswechsels von 1982 zurückgegangen war." Kritisch fügt Stickler hinzu, daß viele führende Verbandsfunktionäre sich "in einen Kokon" von "akademisch-völkerrechtlich einwandfreien" Rechtspositionen eingewoben und darüber "die Realisierbarkeit völlig aus dem Auge verloren" hätten.
RAINER BLASIUS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main