Produktdetails
- Otherland Vol.2
- Verlag: Little, Brown Book Group / Orbit
- 1999.
- Seitenzahl: 736
- Englisch
- Abmessung: 178mm x 109mm x 46mm
- Gewicht: 392g
- ISBN-13: 9781857237641
- ISBN-10: 1857237641
- Artikelnr.: 08058135
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.10.1999Erlösung aus der Steckdose
Tad Williams stellt in "Otherland" das Leben unter Strom
In "Otherland" wird die Welt ein zweites Mal geschaffen. An die Stelle der Schöpfermächte (oder der Evolution) treten Programmierer und Designer. Sie bringen ein hochkomplexes virtuelles Gewebe hervor, in das - zumindest vorerst - nur eintreten darf, wer genügend Geld besitzt, um an seiner Erschaffung mitzuwirken. Während der erste Band im Grunde eine weit ausholende Exposition darstellte, geht Williams in diesem zweiten Band zur Durchführung über.
Die Neuschöpfung der Welt als eidolon der hypertrophen, technomanen Wünsche ihrer Erbauer verheißt ihren Teilhabern nicht nur grenzenlose Freiheit, sondern auch Unsterblichkeit. An der zentralen Figur des Felix Jongleur, der auf Jahrhunderte zunehmend vom Verfall bedrohter leiblicher Existenz zurückblickt, wird dieses Kernziel deutlich: Bei ihm geht es um die Frage, ob der menschliche Geist sich auch noch vom Gehirn trennen und mit dem Netz verschmelzen kann, um darin virtuell - oder eben geistig - fortzuexistieren. Das Gralsprojekt ist das ins Technomorphe übersetzte gnostische Projekt der menschlichen Gottwerdung. Otherland soll nach der Vorstellung der "Gralsbrüder" nicht nur eine andere Welt, es soll eine bessere Welt sein, ja die beste aller Welten. In der Tat: Otherland hat einen unübertrefflichen Vorteil vor der sinnlich-leibhaftigen Welt - es ist von unendlicher Plastizität, eben weil es virtuell ist.
Otherland soll eine Unendlichkeit ineinander verschachtelter Universen erschließen, in denen sich die Wanderer mit dem richtigen Schlüssel grenzenlos ergehen können, an denen sie unablässig weiterbauen können, solange ihnen nicht langweilig wird oder - weitaus trivialer - das Geld ausgeht. Kurz, Otherland ist der ins Virtuelle verlagerte amerikanische Traum von den unbegrenzten Möglichkeiten der wirtschaftlichen Expansion. Da die Ressourcen der realen Welt erschöpft sind, expandiert der unersättliche Kapitalismus in die Virtualität. Doch schlummert im Herzen von Otherland ein abgrundtiefes Grauen. Es ist jenes Grauen, das auch in der Modeströmung des Vampirismus zu Tage tritt, der in amerikanischen Fernsehserien wie "Buffy" gefeiert wird. Jenes Grauen, das die Amokläufer dem kollektiven Unbewussten der amerikanischen Seele vor Augen halten. Dieses Grauen besteht darin, dass die Simulation ihre Schöpfer frisst, ja, dass sie sogar von Menschen Besitz ergreift, die außerhalb der Simulation leben oder sich in anderen Bereichen des Netzes tummeln.
Der Vorsitzende der "Gralsbruderschaft", Felix Jongleur, hütet mit erbarmungsloser Grausamkeit das Geheimnis des schwarzen Herzens, das sich unter der Oberfläche der simulierten Welten verbirgt und selbst ihn offenbar mit Furcht erfüllt, weil er es nicht mehr beherrschen kann oder noch nie beherrschen konnte. Keiner seiner Teilhaber weiß Näheres über den finsteren "Anderen", der in der ägyptischen Simulation, in der Jongleur als Osiris figuriert, in einem schwarzen Sarkophag haust. Ist dieser "Andere" ein Mensch, ein Teilhaber des Projektes, dessen Identität uns Williams noch nicht verraten will? Ist er der finstere Doppelgänger von Felix Jongleur, dem "glücklichen Gleichgewichtskünstler", dessen Identität vor ihm selbst verborgen ist? Oder ist dieser "Andere" das Sicherheitssystem von Otherland, das sich von seinen menschlichen Schöpfern emanzipiert und die Herrschaft über das Gralsprojekt an sich reißt? Wächst in den Tiefen der Datenströme ein Wesen heran, das eine selbstbewusste Form von Intelligenz entwickelt? Jongleur scheint diesen "Anderen", dem Williams anspielungsreich den Namen jenes Seth gibt, der in der ägyptischen Mythologie Osiris zerstückelt, nicht mehr bändigen zu können.
In diesem zweiten Band von "Otherland", der nahezu ausschließlich in der virtuellen Welt spielt, zerfasern die weit verzweigten Erzählstränge in alle möglichen Richtungen. Die Gefährten, die von Herrn Sellars, einer Art Amfortas, berufen worden sind und sich wie die Ritter der Tafelrunde auf die Suche nach der Sotergestalt Paul Jonas begeben haben, entdecken zu ihrem Entsetzen, dass sie aus der virtuellen Welt nicht mehr entweichen, nicht mehr "offline" gehen können. Die Gefährten, die als Hacker ins Otherlandnetzwerk eingebrochen sind, um ihre Freunde und Angehörigen aus dessen Gefangenschaft zu befreien, müssen erkennen, dass sie selbst zu Geiseln geworden sind, die ohne Ende in den Spiegelwelten und Taschenuniversen herumirren, als Spielzeug in den Händen unsichtbarer Zuschauer, als vergessene Datenpakete im unendlichen, selbstreferentiellen Fluss des schönen Scheins.
Doch im Vorüberrauschen der Bilder mehren sich die Anzeichen, dass etwas nicht mehr stimmt in Otherland. Die Instabilitäten nehmen in einem Besorgnis erregenden Maß zu. Die Gefährten, die erst gemeinsam in den virtuellen Welten dahintrieben, werden auseinander gerissen, sie entdecken, dass sich unter ihnen ein Verräter, ein Spion befindet. Niemand anders als "Dread", der Serienmörder mit seinen paranormalen Fähigkeiten zur Manipulation von Datenströmen, hat sich im Auftrag von Jongleur unter sie gemischt, um sie zu vernichten. Aber den Gefährten gelingt es, ihn zu enttarnen und in die Flucht zu schlagen.
Die Antihelden - die blinde Rechercheurin, der Junge, der an der Krankheit der Vergreisung leidet, das Mädchen, das lieber ein Junge sein möchte, der Buschmann, der das Verständnis seiner Tradition verloren hat, die weinerliche Dozentin für Simulationstechniken, der ältere Herr, der lieber ein kleiner Junge sein möchte -, sie alle schöpfen Hoffnung, trotz der Aussichtslosigkeit ihres Unterfangens. Sie entdecken, dass es zwischen den schier endlosen Simulationen von Otherland eine Verbindung gibt. Diese besteht im Fluss, der in steter Abwandlung alle Welten durchfließt, in die sie gespült werden. Er trägt ihre "Sims", ihre simulativen Entitäten, von einer Existenzform in die andere, er stellt so etwas wie den Totenfluss und zugleich den Strom des Lebens dar, aus dessen Präsenz sie neue Kraft und Hoffnung für ihre Suche nach Paul Jonas schöpfen, bei dem allein sie Aufklärung und Rettung erwarten. Wie samsara, der Kreislauf der Wiedergeburten, strömt der Fluss aus blauem Feuer durch die Welten, verbindet und trennt sie zugleich und nimmt das Leben, ebenso wie er es gibt. Doch Paul Jonas, der an Amnesie leidende, seiner selbst unbewusste gnostische Soter, wird durch das Netz geschwemmt, verfolgt von zwei bedrohlichen Gestalten, die seine Witterung nie verlieren, auch wenn er ihnen oft im letzten Augenblick entkommt. Währenddessen spielt der Zufall - oder der vom Geheimnis seines Stigmas umrankte Herr Sellars - den Gefährten Informationen zu oder Gegenstände, die sich als magische Vehikel entpuppen. Ihnen fällt ein Objekt in die Hände, durch das sie Portale zwischen den verschiedenen Welten eröffnen können, und zugleich wird die Blinde zur Seherin, die auf Grund ihres nichtvisuellen Zugangs zu Otherland einen Weg durch das Geist und Sinne zerstreuende Chaos zu erkennen beginnt.
LORENZO RAVAGLI
Tad Williams: "Fluss aus blauem Feuer". Otherland, Band 2. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Hans-Ulrich Möhring. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1999. 781 S., geb., 49,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Tad Williams stellt in "Otherland" das Leben unter Strom
In "Otherland" wird die Welt ein zweites Mal geschaffen. An die Stelle der Schöpfermächte (oder der Evolution) treten Programmierer und Designer. Sie bringen ein hochkomplexes virtuelles Gewebe hervor, in das - zumindest vorerst - nur eintreten darf, wer genügend Geld besitzt, um an seiner Erschaffung mitzuwirken. Während der erste Band im Grunde eine weit ausholende Exposition darstellte, geht Williams in diesem zweiten Band zur Durchführung über.
Die Neuschöpfung der Welt als eidolon der hypertrophen, technomanen Wünsche ihrer Erbauer verheißt ihren Teilhabern nicht nur grenzenlose Freiheit, sondern auch Unsterblichkeit. An der zentralen Figur des Felix Jongleur, der auf Jahrhunderte zunehmend vom Verfall bedrohter leiblicher Existenz zurückblickt, wird dieses Kernziel deutlich: Bei ihm geht es um die Frage, ob der menschliche Geist sich auch noch vom Gehirn trennen und mit dem Netz verschmelzen kann, um darin virtuell - oder eben geistig - fortzuexistieren. Das Gralsprojekt ist das ins Technomorphe übersetzte gnostische Projekt der menschlichen Gottwerdung. Otherland soll nach der Vorstellung der "Gralsbrüder" nicht nur eine andere Welt, es soll eine bessere Welt sein, ja die beste aller Welten. In der Tat: Otherland hat einen unübertrefflichen Vorteil vor der sinnlich-leibhaftigen Welt - es ist von unendlicher Plastizität, eben weil es virtuell ist.
Otherland soll eine Unendlichkeit ineinander verschachtelter Universen erschließen, in denen sich die Wanderer mit dem richtigen Schlüssel grenzenlos ergehen können, an denen sie unablässig weiterbauen können, solange ihnen nicht langweilig wird oder - weitaus trivialer - das Geld ausgeht. Kurz, Otherland ist der ins Virtuelle verlagerte amerikanische Traum von den unbegrenzten Möglichkeiten der wirtschaftlichen Expansion. Da die Ressourcen der realen Welt erschöpft sind, expandiert der unersättliche Kapitalismus in die Virtualität. Doch schlummert im Herzen von Otherland ein abgrundtiefes Grauen. Es ist jenes Grauen, das auch in der Modeströmung des Vampirismus zu Tage tritt, der in amerikanischen Fernsehserien wie "Buffy" gefeiert wird. Jenes Grauen, das die Amokläufer dem kollektiven Unbewussten der amerikanischen Seele vor Augen halten. Dieses Grauen besteht darin, dass die Simulation ihre Schöpfer frisst, ja, dass sie sogar von Menschen Besitz ergreift, die außerhalb der Simulation leben oder sich in anderen Bereichen des Netzes tummeln.
Der Vorsitzende der "Gralsbruderschaft", Felix Jongleur, hütet mit erbarmungsloser Grausamkeit das Geheimnis des schwarzen Herzens, das sich unter der Oberfläche der simulierten Welten verbirgt und selbst ihn offenbar mit Furcht erfüllt, weil er es nicht mehr beherrschen kann oder noch nie beherrschen konnte. Keiner seiner Teilhaber weiß Näheres über den finsteren "Anderen", der in der ägyptischen Simulation, in der Jongleur als Osiris figuriert, in einem schwarzen Sarkophag haust. Ist dieser "Andere" ein Mensch, ein Teilhaber des Projektes, dessen Identität uns Williams noch nicht verraten will? Ist er der finstere Doppelgänger von Felix Jongleur, dem "glücklichen Gleichgewichtskünstler", dessen Identität vor ihm selbst verborgen ist? Oder ist dieser "Andere" das Sicherheitssystem von Otherland, das sich von seinen menschlichen Schöpfern emanzipiert und die Herrschaft über das Gralsprojekt an sich reißt? Wächst in den Tiefen der Datenströme ein Wesen heran, das eine selbstbewusste Form von Intelligenz entwickelt? Jongleur scheint diesen "Anderen", dem Williams anspielungsreich den Namen jenes Seth gibt, der in der ägyptischen Mythologie Osiris zerstückelt, nicht mehr bändigen zu können.
In diesem zweiten Band von "Otherland", der nahezu ausschließlich in der virtuellen Welt spielt, zerfasern die weit verzweigten Erzählstränge in alle möglichen Richtungen. Die Gefährten, die von Herrn Sellars, einer Art Amfortas, berufen worden sind und sich wie die Ritter der Tafelrunde auf die Suche nach der Sotergestalt Paul Jonas begeben haben, entdecken zu ihrem Entsetzen, dass sie aus der virtuellen Welt nicht mehr entweichen, nicht mehr "offline" gehen können. Die Gefährten, die als Hacker ins Otherlandnetzwerk eingebrochen sind, um ihre Freunde und Angehörigen aus dessen Gefangenschaft zu befreien, müssen erkennen, dass sie selbst zu Geiseln geworden sind, die ohne Ende in den Spiegelwelten und Taschenuniversen herumirren, als Spielzeug in den Händen unsichtbarer Zuschauer, als vergessene Datenpakete im unendlichen, selbstreferentiellen Fluss des schönen Scheins.
Doch im Vorüberrauschen der Bilder mehren sich die Anzeichen, dass etwas nicht mehr stimmt in Otherland. Die Instabilitäten nehmen in einem Besorgnis erregenden Maß zu. Die Gefährten, die erst gemeinsam in den virtuellen Welten dahintrieben, werden auseinander gerissen, sie entdecken, dass sich unter ihnen ein Verräter, ein Spion befindet. Niemand anders als "Dread", der Serienmörder mit seinen paranormalen Fähigkeiten zur Manipulation von Datenströmen, hat sich im Auftrag von Jongleur unter sie gemischt, um sie zu vernichten. Aber den Gefährten gelingt es, ihn zu enttarnen und in die Flucht zu schlagen.
Die Antihelden - die blinde Rechercheurin, der Junge, der an der Krankheit der Vergreisung leidet, das Mädchen, das lieber ein Junge sein möchte, der Buschmann, der das Verständnis seiner Tradition verloren hat, die weinerliche Dozentin für Simulationstechniken, der ältere Herr, der lieber ein kleiner Junge sein möchte -, sie alle schöpfen Hoffnung, trotz der Aussichtslosigkeit ihres Unterfangens. Sie entdecken, dass es zwischen den schier endlosen Simulationen von Otherland eine Verbindung gibt. Diese besteht im Fluss, der in steter Abwandlung alle Welten durchfließt, in die sie gespült werden. Er trägt ihre "Sims", ihre simulativen Entitäten, von einer Existenzform in die andere, er stellt so etwas wie den Totenfluss und zugleich den Strom des Lebens dar, aus dessen Präsenz sie neue Kraft und Hoffnung für ihre Suche nach Paul Jonas schöpfen, bei dem allein sie Aufklärung und Rettung erwarten. Wie samsara, der Kreislauf der Wiedergeburten, strömt der Fluss aus blauem Feuer durch die Welten, verbindet und trennt sie zugleich und nimmt das Leben, ebenso wie er es gibt. Doch Paul Jonas, der an Amnesie leidende, seiner selbst unbewusste gnostische Soter, wird durch das Netz geschwemmt, verfolgt von zwei bedrohlichen Gestalten, die seine Witterung nie verlieren, auch wenn er ihnen oft im letzten Augenblick entkommt. Währenddessen spielt der Zufall - oder der vom Geheimnis seines Stigmas umrankte Herr Sellars - den Gefährten Informationen zu oder Gegenstände, die sich als magische Vehikel entpuppen. Ihnen fällt ein Objekt in die Hände, durch das sie Portale zwischen den verschiedenen Welten eröffnen können, und zugleich wird die Blinde zur Seherin, die auf Grund ihres nichtvisuellen Zugangs zu Otherland einen Weg durch das Geist und Sinne zerstreuende Chaos zu erkennen beginnt.
LORENZO RAVAGLI
Tad Williams: "Fluss aus blauem Feuer". Otherland, Band 2. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Hans-Ulrich Möhring. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1999. 781 S., geb., 49,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main