"Umwerfend. Peter Buwaldas Genialität ist ganz und gar einmalig." The Times
"Mit dem, was Psychiater für ein stattliches Honorar Vatersuche nennen, hat es nichts zu tun" - so beginnt dieser Roman, und tatsächlich: Ludwig Smit, Stiefbruder eines genialen, aber wunderlichen Klavier- und Beethoven-Virtuosen, dessen Vater Otmar auch ihn großgezogen hat, sucht seinen leiblichen Vater nicht. Aber als der junge Shell-Angestellte, zuständig für die umstrittene Vermessung von Erdölfeldern per Dynamit, auf die sibirische Insel Sachalin reist, um dort den Geschäftsführer der Firma Sakhalin Energy zu treffen, kommt ihm der Verdacht, dass dieser Johan Tromp sein Vater ist, der ihn schon im Stich gelassen hat, als er noch gar nicht geboren war. Völlig unverhofft, nämlich in einem Schneesturm, begegnet er in diesem fernen Winkel Russlands einer früheren Mitbewohnerin wieder, der Journalistin Isabelle Orthel, die, wie sich herausstellt, mit Tromp vor Jahren in Nigeria eine Affäre hatte und nun den Plan verfolgt, diverses Dunkle ans Licht zu zerren. Bislang kam Tromp - Hedonist, Alpha-Mann, Kronprinz von Shell - immer einfach so davon.
Nach seinem fulminanten Roman "Bonita Avenue", von der "ZEIT" als "große europäische Kunst" gefeiert, schreibt Peter Buwalda nun also weiter an seinem stilistisch meisterhaften literarischen Universum - mit nicht weniger als einer Trilogie, deren erster Teil "Otmars Söhne" ist. Wieder geht es um Familie und die Bruchstücke davon, um abwesende Väter und Stiefväter, um Identität und Verantwortung, um persönliche Versäumnisse, Sexualität und Schuld - das unübersichtlich gewordene Leben in heutiger Zeit.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
"Mit dem, was Psychiater für ein stattliches Honorar Vatersuche nennen, hat es nichts zu tun" - so beginnt dieser Roman, und tatsächlich: Ludwig Smit, Stiefbruder eines genialen, aber wunderlichen Klavier- und Beethoven-Virtuosen, dessen Vater Otmar auch ihn großgezogen hat, sucht seinen leiblichen Vater nicht. Aber als der junge Shell-Angestellte, zuständig für die umstrittene Vermessung von Erdölfeldern per Dynamit, auf die sibirische Insel Sachalin reist, um dort den Geschäftsführer der Firma Sakhalin Energy zu treffen, kommt ihm der Verdacht, dass dieser Johan Tromp sein Vater ist, der ihn schon im Stich gelassen hat, als er noch gar nicht geboren war. Völlig unverhofft, nämlich in einem Schneesturm, begegnet er in diesem fernen Winkel Russlands einer früheren Mitbewohnerin wieder, der Journalistin Isabelle Orthel, die, wie sich herausstellt, mit Tromp vor Jahren in Nigeria eine Affäre hatte und nun den Plan verfolgt, diverses Dunkle ans Licht zu zerren. Bislang kam Tromp - Hedonist, Alpha-Mann, Kronprinz von Shell - immer einfach so davon.
Nach seinem fulminanten Roman "Bonita Avenue", von der "ZEIT" als "große europäische Kunst" gefeiert, schreibt Peter Buwalda nun also weiter an seinem stilistisch meisterhaften literarischen Universum - mit nicht weniger als einer Trilogie, deren erster Teil "Otmars Söhne" ist. Wieder geht es um Familie und die Bruchstücke davon, um abwesende Väter und Stiefväter, um Identität und Verantwortung, um persönliche Versäumnisse, Sexualität und Schuld - das unübersichtlich gewordene Leben in heutiger Zeit.
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Buwalda entwickelt seine ganze Fabulier- und Erzählkunst (... und) ist unersättlich in der Konstruktion emotional hoch aufgeladener Einfälle und Geschichten. .(... Er) erzählt dies alles nicht als psychologisches Familiendrama, sondern als großes Panorama menschlicher Absurditäten und Gewalttaten. Lerke von Saalfeld Frankfurter Allgemeine Zeitung 20210706
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Rezensent Jens Uthoff verzeiht Peter Buwalda das Überkandidelte. Den ersten Band von Buwaldas Trilogie liest er trotz "überbordender Ideenfülle" mit Genuss. Das liegt an Buwaldas Erzähllust und seinem Händchen für Dialoge, Dramaturgie und für Abgründiges. Szenen wie von David Lynch begegnen Uthoff ebenso wie literarische Bezüge zu Sade. Ob die Handlung um Macht und Eros und um einen für Shell tätigen Geologen und seine Beziehungen, die laut Uthoff mal Züge eines Wirtschaftskrimis, mal Züge eines psychologischen Romans hat, letztlich aufgeht, vermag der Rezensent einstweilen nur zu hoffen, nicht zu sagen. Wie Buwalda Erzählstränge und Spuren legt und Bezüge andeutet, birgt für den Leser jedenfalls Unterhaltungspotenzial, findet er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.07.2021Vater, warum hast du mich verlassen?
Peter Buwaldas Roman "Otmars Söhne"
Sein Debüt "Bonita Avenue" (deutsch 2013) war ein großer Erfolg. Hier schrieb einer über viele hundert Seiten mit unglaublichem Furor über die Verwicklungen und Abgründe einer zerborstenen Familie. Der flämische Autor Peter Buwalda, geboren 1971, ringt bis heute mit dieser Thematik. 2019 erschien in den Niederlanden der erste Teil seines als Trilogie angelegten Romans "Otmars Söhne", wiederum über sechshundert Seiten stark und nun auch ins Deutsche übertragen. Gleich im einleitenden Satz heißt es: "Mit dem, was Psychiater für ein stattliches Honorar Vatersuche nennen, hat es nichts zu tun; Dolf sucht nichts, und er vermisst auch nichts, als in ihrer Wohnung in der Geresstraat ein Mann auftaucht, zu dem er noch im selben Jahr ,Papa' sagt, obwohl er doch bereits ein zehnjähriger Junge ist." Das ist gelogen, denn im Verlauf der Handlung schält sich immer stärker der Wunsch des nunmehr Erwachsenen heraus, den leiblichen Vater, der die Mutter noch vor seiner Geburt verlassen hat, ausfindig zu machen und zu verstehen.
Aber zunächst beginnt der Roman in ruhigem Fahrwasser. Dolfs Mutter verliebt sich in Otmar, den Dirigenten in einer Musikschule, und zieht ins Haus des neuen Mannes, der dort mit einem Sohn und einer Tochter lebt. Eine Patchworkfamilie entsteht - wie so oft bei Buwalda. Das Problem: Beide Knaben tragen den Vornamen Dolf. Da Otmars Sohn als pianistisches Wunderkind bereits Aufsehen erregt hat, muss der andere Dolf seinen Namen ablegen und wird in Ludwig umbenannt. Die Geschwister bleiben ungleich: Die beiden Musikerkinder sind kleine Genies, reden altklug über Musik und leben in der Einbildung, sie wären etwas ganz Besonderes. Der neue Ludwig kann nicht mithalten, er ist ein normaler Junge ohne besondere Begabungen.
Dann macht die Geschichte einen großen Sprung. Es geht auf die sibirische Insel Sachalin, der inzwischen 35 Jahre alte Ludwig arbeitet dort als Spezialist an der Entdeckung neuer Erdölfelder. Der örtliche Chef seines niederländischen Arbeitgebers ist Johan Tromp, und verschiedene Hinweise lassen bei Ludwig den Verdacht aufkommen, dieser Mann sei sein leiblicher Vater. Nun entwickelt Buwalda seine ganze Fabulier- und Erzählkunst. Der größte Teil des Romans handelt von nur wenigen Tagen des Aufenthalts in Sachalin. Eigentlich will Ludwig zurückfliegen, aber ein Schneesturm hält ihn auf. Die Halbinsel versinkt in der weißen Hölle und Ludwig in seiner Vergangenheit. Mit Rückblenden, Zwischenblenden und Ferngesprächen Ludwigs mit seiner Ehefrau verwirrt und verirrt sich die Geschichte in turbulente Szenen.
Sexualität spielt, wie in Buwaldas Debüt, eine wichtige Rolle. Eine homosexuelle Affäre wird eingeflochten, mit Geschlechtsumwandlung. Tromp hat ehedem in Holland eine von Ludwig angebetete Frau zu seiner Sexsklavin gemacht und deren Ehe zerstört. Der vermutete Vater erweist sich in Darstellungen anderer als Sadist. Auch der Stiefbruder kommt wieder ins Spiel. Dolf soll angeblich den "verlorenen" dritten Satz der Beethoven-Klaviersonate Opus 111 gefunden haben. Ludwig erzählt davon unter dem Siegel der Verschwiegenheit einer Journalistin; die jedoch bricht das Vertrauen und beginnt sofort zu recherchieren.
Buwalda ist unersättlich in der Konstruktion emotional hoch aufgeladener Einfälle und Geschichten. Sein deutscher Übersetzer Gregor Seferens vermag ihm dabei gewandt und abwechslungsreich zu folgen. Am Ende des Romans bleiben viele Konflikte ungelöst, viele lose Fäden hängen in der Luft. Das bietet mannigfaltige Anknüpfungspunkte für die noch zu erwartenden zwei Folgeromane. Ludwig will Gewissheit, ist aber auch von Zweifeln geplagt; der Machtmensch und Erotomane Tromp - vielleicht eine Anspielung auf Donald Trump - stößt ihn ab und zieht ihn an. Buwalda erzählt dies alles nicht als psychologisches Familiendrama, sondern als großes Panorama menschlicher Absurditäten und Gewalttaten. Alle sind irgendwie beschädigt und drehen doch am Rad der persönlichen Geschichte, im Großen wie im Kleinen. Eines ist sicher: Die bürgerlich gefestigte Familie ist nicht zu retten.
LERKE VON SAALFELD
Peter Buwalda: "Otmars Söhne". Roman.
Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens. Rowohlt Verlag, Hamburg 2021. 621 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Peter Buwaldas Roman "Otmars Söhne"
Sein Debüt "Bonita Avenue" (deutsch 2013) war ein großer Erfolg. Hier schrieb einer über viele hundert Seiten mit unglaublichem Furor über die Verwicklungen und Abgründe einer zerborstenen Familie. Der flämische Autor Peter Buwalda, geboren 1971, ringt bis heute mit dieser Thematik. 2019 erschien in den Niederlanden der erste Teil seines als Trilogie angelegten Romans "Otmars Söhne", wiederum über sechshundert Seiten stark und nun auch ins Deutsche übertragen. Gleich im einleitenden Satz heißt es: "Mit dem, was Psychiater für ein stattliches Honorar Vatersuche nennen, hat es nichts zu tun; Dolf sucht nichts, und er vermisst auch nichts, als in ihrer Wohnung in der Geresstraat ein Mann auftaucht, zu dem er noch im selben Jahr ,Papa' sagt, obwohl er doch bereits ein zehnjähriger Junge ist." Das ist gelogen, denn im Verlauf der Handlung schält sich immer stärker der Wunsch des nunmehr Erwachsenen heraus, den leiblichen Vater, der die Mutter noch vor seiner Geburt verlassen hat, ausfindig zu machen und zu verstehen.
Aber zunächst beginnt der Roman in ruhigem Fahrwasser. Dolfs Mutter verliebt sich in Otmar, den Dirigenten in einer Musikschule, und zieht ins Haus des neuen Mannes, der dort mit einem Sohn und einer Tochter lebt. Eine Patchworkfamilie entsteht - wie so oft bei Buwalda. Das Problem: Beide Knaben tragen den Vornamen Dolf. Da Otmars Sohn als pianistisches Wunderkind bereits Aufsehen erregt hat, muss der andere Dolf seinen Namen ablegen und wird in Ludwig umbenannt. Die Geschwister bleiben ungleich: Die beiden Musikerkinder sind kleine Genies, reden altklug über Musik und leben in der Einbildung, sie wären etwas ganz Besonderes. Der neue Ludwig kann nicht mithalten, er ist ein normaler Junge ohne besondere Begabungen.
Dann macht die Geschichte einen großen Sprung. Es geht auf die sibirische Insel Sachalin, der inzwischen 35 Jahre alte Ludwig arbeitet dort als Spezialist an der Entdeckung neuer Erdölfelder. Der örtliche Chef seines niederländischen Arbeitgebers ist Johan Tromp, und verschiedene Hinweise lassen bei Ludwig den Verdacht aufkommen, dieser Mann sei sein leiblicher Vater. Nun entwickelt Buwalda seine ganze Fabulier- und Erzählkunst. Der größte Teil des Romans handelt von nur wenigen Tagen des Aufenthalts in Sachalin. Eigentlich will Ludwig zurückfliegen, aber ein Schneesturm hält ihn auf. Die Halbinsel versinkt in der weißen Hölle und Ludwig in seiner Vergangenheit. Mit Rückblenden, Zwischenblenden und Ferngesprächen Ludwigs mit seiner Ehefrau verwirrt und verirrt sich die Geschichte in turbulente Szenen.
Sexualität spielt, wie in Buwaldas Debüt, eine wichtige Rolle. Eine homosexuelle Affäre wird eingeflochten, mit Geschlechtsumwandlung. Tromp hat ehedem in Holland eine von Ludwig angebetete Frau zu seiner Sexsklavin gemacht und deren Ehe zerstört. Der vermutete Vater erweist sich in Darstellungen anderer als Sadist. Auch der Stiefbruder kommt wieder ins Spiel. Dolf soll angeblich den "verlorenen" dritten Satz der Beethoven-Klaviersonate Opus 111 gefunden haben. Ludwig erzählt davon unter dem Siegel der Verschwiegenheit einer Journalistin; die jedoch bricht das Vertrauen und beginnt sofort zu recherchieren.
Buwalda ist unersättlich in der Konstruktion emotional hoch aufgeladener Einfälle und Geschichten. Sein deutscher Übersetzer Gregor Seferens vermag ihm dabei gewandt und abwechslungsreich zu folgen. Am Ende des Romans bleiben viele Konflikte ungelöst, viele lose Fäden hängen in der Luft. Das bietet mannigfaltige Anknüpfungspunkte für die noch zu erwartenden zwei Folgeromane. Ludwig will Gewissheit, ist aber auch von Zweifeln geplagt; der Machtmensch und Erotomane Tromp - vielleicht eine Anspielung auf Donald Trump - stößt ihn ab und zieht ihn an. Buwalda erzählt dies alles nicht als psychologisches Familiendrama, sondern als großes Panorama menschlicher Absurditäten und Gewalttaten. Alle sind irgendwie beschädigt und drehen doch am Rad der persönlichen Geschichte, im Großen wie im Kleinen. Eines ist sicher: Die bürgerlich gefestigte Familie ist nicht zu retten.
LERKE VON SAALFELD
Peter Buwalda: "Otmars Söhne". Roman.
Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens. Rowohlt Verlag, Hamburg 2021. 621 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.08.2021Das tragbare Weltall
Peter Buwalda erzählt mit den Mitteln der Psychoanalyse von der europäischen Gegenwart. Sein Roman „Otmars Söhne“ ist ein neurotischer Triumph
Von dem Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung stammt die Theorie des kollektiven Unbewussten. Die Theorie besagt, dass jedes individuelle Traumbild letzten Endes auf ein Urbild zurückgeht, das den Träumen aller Menschen vorangestellt ist. Von diesen Urbildern gibt es nur eine begrenzte Anzahl, Jung nannte sie „Archetypen“. Der Gedanke war, dass sich die Träume eines jeden Patienten, wenn man sie nur lange genug verfolgte, letztlich als Variante, als Umkreisung eines bestimmten Archetypus herausstellen würden, der den Träumen aller Menschen zugrunde liegt und auf den sich letztlich der Mythenschatz der gesamten Menschheit zurückführen ließ.
In Peter Buwaldas Roman „Otmars Söhne“ gibt es so ein Urbild auch, jede Handbewegung, jede Geste, jeder Blick steht zu ihm unmittelbar in Verbindung. Dieses Urbild ist das Erdöl, das der niederländische Ölkonzern Shell in der ganzen Welt aus dem Boden holt, am rücksichtslosesten und verlustreichsten aber wohl im nigerianischen Nigerdelta. Und weil Shell der größte Konzern der Niederlande ist, bestimmt dieses Urbild in Buwaldas Roman das Unbewusste der gesamten niederländischen Gesellschaft. Shell sei weniger ein Unternehmen als ein Land im Land, heißt es an einer Stelle, und die Verwüstungen, die es im Nigerdelta anrichtet sind so etwas wie ein wiederkehrender Albtraum. Wenn die Niederländer lieben, philosophieren, trauern, ist ihrem Bewusstsein stets die brennende Hölle des Nigerdeltas vorangestellt.
Die Handlung dieses hochtourigen, hochneurotischen Romans erstreckt sich über den ganzen Globus, es gibt Szenen in Bonn, in Lagos, in Sibirien, ständig ist jemand am Flughafen, ständig kämpfen sich die Figuren durch brüllende Hitze oder lähmende Schneestürme. Im Zentrum aber stehen die Niederlande, dort wachsen die beiden Hauptfiguren Ludwig und Isabelle in soliden Verhältnissen auf, Ludwig in einer genialisch-idealistischen Familie, Isabelle in einer bürgerlich-kaufmännischen. Ihre Wege kreuzen sich zweimal: Zum ersten Mal an der Universität, wo sich Ludwig unsterblich in Isabelle verliebt, während sie ihn kaum bemerkt. Und das zweite Mal Jahre später auf einem sibirischen Ölfeld, wo Ludwig sein Glück über diese Begegnung kaum fassen kann, während Isabelle sich an ihn höchstens vage erinnert.
Auch die beiden Hauptfiguren sind in gewissem Sinne Archetypen: Ludwig ist ein netter, junger, niedergeschlagener Mann, der gern ein bisschen mutiger und eindrucksvoller wäre. Er ist mit zwei hochbegabten Stiefgeschwistern aufgewachsen, die jeweils früh als Wunderkinder der klassischen Musik über die Landesgrenzen hinaus Aufmerksamkeit erregten, weshalb er den Rest seines Lebens gegen das quälende Gefühl ankämpft, mittelmäßig und ungenügend zu sein. Aus Verlegenheit beginnt er eine Karriere bei Shell, aber noch bevor diese Karriere richtig anhebt, verzichtet er der Liebe wegen auf die obligatorische Auslandsstation in Aberdeen, die jeder absolvieren muss, der bei Shell etwas werden will. Daraufhin versandet er als gehemmter Neurotiker im Mittelbau des Konzerns und wirft seiner Freundin diese Niederlage stets heimlich vor.
Seinen Vater hat er nie getroffen, seine Mutter spricht von dem Mann nur abschätzig als „Erzeuger“. Der gesamte Ludwig-Strang des Roman erzählt von dessen Vatersuche, und dass der erste Satz des Romans lautet: „Mit dem, was Psychiater für ein stattliches Honorar Vatersuche nennen, hat es nichts zu tun“, gehört zu den selbstreferenziellen Späßen, die sich der Roman im Grunde ununterbrochen erlaubt. Die zweite Hauptfigur Isabelle wurde in Thailand geboren und als Kleinkind von einer reichen niederländischen Familie adoptiert. Der Familienpatriarch ist als Kinderbuchautor zu Vermögen gekommen, er trägt jede denkbare Auszeichnung und ist im ganzen Land als moralische Instanz unangefochten. Auf der moralischen Autorität und dem Vermögen des Großvaters fußt der Rang und Status der ganzen Familie, und Isabelle wächst in dem Glauben auf, es gut getroffen zu haben.
Als Teenager aber findet sie heraus, dass ihre Adoptivfamilie bis in die letzte Faser von Misogynie, Sadismus und Rassismus nur so durchwoben ist und dass die Frauen in ihrer Familie nicht einfach stille Gemüter sind, sondern ihr Leben lang mit kontinuierlichen Entwürdigungen um den Verstand gebracht wurden, bis sie ihr Heil nur noch darin suchen, still am Küchentisch zu sitzen und zu nicken. In der Schlüsselszene steht Isabelle als junge Teenagerin in der Privatbibliothek des Großvaters und entdeckt dessen umfangreiche Sammlung sadomasochistischer Literatur. Das Mädchen blättert sich durch die De-Sade-Ausgaben und studiert minutiös die namenlosen Grausamkeiten, die den Frauen dort angetan werden im Rahmen dessen, was dann kurioserweise immer noch Liebesspiel heißt, nebst der hingerissen handschriftlichen Anmerkungen ihres Großvaters, und verwandelt sich in einen neuen Menschen.
Fortan ist sie eine Art postkolonialer Racheengel biblischen Formats, der die Familie, die ein Abbild der Niederlande selbst ist, heimsuchen wird, der sich leise vornimmt, das ganze Gebilde einzureißen, eine Figur, die man sich in etwa so vorstellen darf wie Uma Thurmans Rolle in Tarantinos „Kill Bill“: eine menschgewordenen Waffe, ein Projektil, das in diesem Moment in der Bibliothek ihres Großvaters den Lauf verlässt und am Ende des Romans immer noch nicht ganz eingeschlagen ist. Zwei weitere Teile sollen auf diesen Roman noch folgen, hat der Autor angekündigt, die Kapitel werden runtergezählt: „Otmars Söhne“ beginnt mit Kapitel 111 und endet mit Kapitel 75.
Buwaldas psychoanalytischer Erzählansatz findet seinen Ausdruck in den omnipräsenten Körpermetaphern: Die Körper der Figuren sind von ihrem Bewusstsein und ihrer Entscheidungskraft weitgehend autonom, in schöner jungianischer Manier haben sie ihren eigenen Willen, sind selbst Subjekte: „Noch bevor er weiß, dass er etwas spürt, setzt sich die Reflexionsmaschinerie seines Körpers in Gang“, heißt es an einer Stelle über Ludwig, und diese vorbewusste Reflexionsmaschinerie ist bei Buwalda handlungstreibend. Sie ist schlauer als die Figuren, sie ist sensibler kalibriert, sie ist umsichtiger, und sie enthält 1000 Jahre europäischer Geschichte. Es sei ein „Rätsel der Biologie und der chemischen Kommunikation“, heißt es einmal, „wie aufkommende Vermutungen, Hirngespinste, Vorahnungen mit Nerven verbunden sind – allein schon die Möglichkeit, allein schon die einfache Annahme setzt ein Schleusensystem aus Zellwänden, Hormonen und Körpersäften in Betrieb.“
Wenn man in seiner Literatur den Gedanken voraussetzt, dass der Wille nur eine nachgeordnete Rolle spielt, wird einiges möglich, die Figuren werden zu ausführenden Kräften ihrer Ängste und Neurosen, die ganze Romanwelt ein organisches Pumpen von Säften und Neuronen, Ehrgeiz, Panik und Gier. Beim Schreiben von Romanen müsse man unterscheiden zwischen dem Thema und der Technik, hat Jonathan Franzen einmal gesagt, als er in einem Interview gefragt wurde, was ihn an dem Thema „Familie“ so interessiere, dass er einen Roman nach dem anderen darüber schreibe.
Das Thema interessiere ihn gar nicht besonders, antwortete Franzen, es sei nur eine dankbare Technik: Wenn man zwei Romanfiguren habe, müsse man erst aufwendig eine Beziehung zwischen ihnen herstellen, um eine Spannung herzustellen. Wenn es sich aber beispielsweise um Vater und Tochter handele, spare man sich die Arbeit, die Spannung sei sofort da.
Bei Buwalda besteht diese Spannung zwischen den Figuren und ihren Körpern. Wenn ihnen „sonore Projektile ins Hirn schießen“, diesem „tragbaren Weltall, in dem Freuden und Ängste ihre elliptischen Bahnen ziehen“, entsteht unmittelbar eine Kraft, die die Figuren immer wieder aufs Neue unsagbare Dinge anstellen lässt, über die sie in der Folge selbst staunen. Diese Dinge geschehen dann gewissermaßen unter Zwang, was ein ambivalentes Gefühl der Orientierungslosigkeit auslöst, das die Figuren auf unterschiedliche Weise bekämpfen. Dieses Gefühl, so steht es bei Jung und so erzählt es jetzt auch Buwalda, ist der Ursprung von allem.
FELIX STEPHAN
Der größte Konflikt besteht in
der Handlung zwischen den
Figuren und ihren Körpern
Peter Buwalda: Otmars Söhne. Roman. Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens. Rowohlt, Hamburg 2021.
620 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Peter Buwalda erzählt mit den Mitteln der Psychoanalyse von der europäischen Gegenwart. Sein Roman „Otmars Söhne“ ist ein neurotischer Triumph
Von dem Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung stammt die Theorie des kollektiven Unbewussten. Die Theorie besagt, dass jedes individuelle Traumbild letzten Endes auf ein Urbild zurückgeht, das den Träumen aller Menschen vorangestellt ist. Von diesen Urbildern gibt es nur eine begrenzte Anzahl, Jung nannte sie „Archetypen“. Der Gedanke war, dass sich die Träume eines jeden Patienten, wenn man sie nur lange genug verfolgte, letztlich als Variante, als Umkreisung eines bestimmten Archetypus herausstellen würden, der den Träumen aller Menschen zugrunde liegt und auf den sich letztlich der Mythenschatz der gesamten Menschheit zurückführen ließ.
In Peter Buwaldas Roman „Otmars Söhne“ gibt es so ein Urbild auch, jede Handbewegung, jede Geste, jeder Blick steht zu ihm unmittelbar in Verbindung. Dieses Urbild ist das Erdöl, das der niederländische Ölkonzern Shell in der ganzen Welt aus dem Boden holt, am rücksichtslosesten und verlustreichsten aber wohl im nigerianischen Nigerdelta. Und weil Shell der größte Konzern der Niederlande ist, bestimmt dieses Urbild in Buwaldas Roman das Unbewusste der gesamten niederländischen Gesellschaft. Shell sei weniger ein Unternehmen als ein Land im Land, heißt es an einer Stelle, und die Verwüstungen, die es im Nigerdelta anrichtet sind so etwas wie ein wiederkehrender Albtraum. Wenn die Niederländer lieben, philosophieren, trauern, ist ihrem Bewusstsein stets die brennende Hölle des Nigerdeltas vorangestellt.
Die Handlung dieses hochtourigen, hochneurotischen Romans erstreckt sich über den ganzen Globus, es gibt Szenen in Bonn, in Lagos, in Sibirien, ständig ist jemand am Flughafen, ständig kämpfen sich die Figuren durch brüllende Hitze oder lähmende Schneestürme. Im Zentrum aber stehen die Niederlande, dort wachsen die beiden Hauptfiguren Ludwig und Isabelle in soliden Verhältnissen auf, Ludwig in einer genialisch-idealistischen Familie, Isabelle in einer bürgerlich-kaufmännischen. Ihre Wege kreuzen sich zweimal: Zum ersten Mal an der Universität, wo sich Ludwig unsterblich in Isabelle verliebt, während sie ihn kaum bemerkt. Und das zweite Mal Jahre später auf einem sibirischen Ölfeld, wo Ludwig sein Glück über diese Begegnung kaum fassen kann, während Isabelle sich an ihn höchstens vage erinnert.
Auch die beiden Hauptfiguren sind in gewissem Sinne Archetypen: Ludwig ist ein netter, junger, niedergeschlagener Mann, der gern ein bisschen mutiger und eindrucksvoller wäre. Er ist mit zwei hochbegabten Stiefgeschwistern aufgewachsen, die jeweils früh als Wunderkinder der klassischen Musik über die Landesgrenzen hinaus Aufmerksamkeit erregten, weshalb er den Rest seines Lebens gegen das quälende Gefühl ankämpft, mittelmäßig und ungenügend zu sein. Aus Verlegenheit beginnt er eine Karriere bei Shell, aber noch bevor diese Karriere richtig anhebt, verzichtet er der Liebe wegen auf die obligatorische Auslandsstation in Aberdeen, die jeder absolvieren muss, der bei Shell etwas werden will. Daraufhin versandet er als gehemmter Neurotiker im Mittelbau des Konzerns und wirft seiner Freundin diese Niederlage stets heimlich vor.
Seinen Vater hat er nie getroffen, seine Mutter spricht von dem Mann nur abschätzig als „Erzeuger“. Der gesamte Ludwig-Strang des Roman erzählt von dessen Vatersuche, und dass der erste Satz des Romans lautet: „Mit dem, was Psychiater für ein stattliches Honorar Vatersuche nennen, hat es nichts zu tun“, gehört zu den selbstreferenziellen Späßen, die sich der Roman im Grunde ununterbrochen erlaubt. Die zweite Hauptfigur Isabelle wurde in Thailand geboren und als Kleinkind von einer reichen niederländischen Familie adoptiert. Der Familienpatriarch ist als Kinderbuchautor zu Vermögen gekommen, er trägt jede denkbare Auszeichnung und ist im ganzen Land als moralische Instanz unangefochten. Auf der moralischen Autorität und dem Vermögen des Großvaters fußt der Rang und Status der ganzen Familie, und Isabelle wächst in dem Glauben auf, es gut getroffen zu haben.
Als Teenager aber findet sie heraus, dass ihre Adoptivfamilie bis in die letzte Faser von Misogynie, Sadismus und Rassismus nur so durchwoben ist und dass die Frauen in ihrer Familie nicht einfach stille Gemüter sind, sondern ihr Leben lang mit kontinuierlichen Entwürdigungen um den Verstand gebracht wurden, bis sie ihr Heil nur noch darin suchen, still am Küchentisch zu sitzen und zu nicken. In der Schlüsselszene steht Isabelle als junge Teenagerin in der Privatbibliothek des Großvaters und entdeckt dessen umfangreiche Sammlung sadomasochistischer Literatur. Das Mädchen blättert sich durch die De-Sade-Ausgaben und studiert minutiös die namenlosen Grausamkeiten, die den Frauen dort angetan werden im Rahmen dessen, was dann kurioserweise immer noch Liebesspiel heißt, nebst der hingerissen handschriftlichen Anmerkungen ihres Großvaters, und verwandelt sich in einen neuen Menschen.
Fortan ist sie eine Art postkolonialer Racheengel biblischen Formats, der die Familie, die ein Abbild der Niederlande selbst ist, heimsuchen wird, der sich leise vornimmt, das ganze Gebilde einzureißen, eine Figur, die man sich in etwa so vorstellen darf wie Uma Thurmans Rolle in Tarantinos „Kill Bill“: eine menschgewordenen Waffe, ein Projektil, das in diesem Moment in der Bibliothek ihres Großvaters den Lauf verlässt und am Ende des Romans immer noch nicht ganz eingeschlagen ist. Zwei weitere Teile sollen auf diesen Roman noch folgen, hat der Autor angekündigt, die Kapitel werden runtergezählt: „Otmars Söhne“ beginnt mit Kapitel 111 und endet mit Kapitel 75.
Buwaldas psychoanalytischer Erzählansatz findet seinen Ausdruck in den omnipräsenten Körpermetaphern: Die Körper der Figuren sind von ihrem Bewusstsein und ihrer Entscheidungskraft weitgehend autonom, in schöner jungianischer Manier haben sie ihren eigenen Willen, sind selbst Subjekte: „Noch bevor er weiß, dass er etwas spürt, setzt sich die Reflexionsmaschinerie seines Körpers in Gang“, heißt es an einer Stelle über Ludwig, und diese vorbewusste Reflexionsmaschinerie ist bei Buwalda handlungstreibend. Sie ist schlauer als die Figuren, sie ist sensibler kalibriert, sie ist umsichtiger, und sie enthält 1000 Jahre europäischer Geschichte. Es sei ein „Rätsel der Biologie und der chemischen Kommunikation“, heißt es einmal, „wie aufkommende Vermutungen, Hirngespinste, Vorahnungen mit Nerven verbunden sind – allein schon die Möglichkeit, allein schon die einfache Annahme setzt ein Schleusensystem aus Zellwänden, Hormonen und Körpersäften in Betrieb.“
Wenn man in seiner Literatur den Gedanken voraussetzt, dass der Wille nur eine nachgeordnete Rolle spielt, wird einiges möglich, die Figuren werden zu ausführenden Kräften ihrer Ängste und Neurosen, die ganze Romanwelt ein organisches Pumpen von Säften und Neuronen, Ehrgeiz, Panik und Gier. Beim Schreiben von Romanen müsse man unterscheiden zwischen dem Thema und der Technik, hat Jonathan Franzen einmal gesagt, als er in einem Interview gefragt wurde, was ihn an dem Thema „Familie“ so interessiere, dass er einen Roman nach dem anderen darüber schreibe.
Das Thema interessiere ihn gar nicht besonders, antwortete Franzen, es sei nur eine dankbare Technik: Wenn man zwei Romanfiguren habe, müsse man erst aufwendig eine Beziehung zwischen ihnen herstellen, um eine Spannung herzustellen. Wenn es sich aber beispielsweise um Vater und Tochter handele, spare man sich die Arbeit, die Spannung sei sofort da.
Bei Buwalda besteht diese Spannung zwischen den Figuren und ihren Körpern. Wenn ihnen „sonore Projektile ins Hirn schießen“, diesem „tragbaren Weltall, in dem Freuden und Ängste ihre elliptischen Bahnen ziehen“, entsteht unmittelbar eine Kraft, die die Figuren immer wieder aufs Neue unsagbare Dinge anstellen lässt, über die sie in der Folge selbst staunen. Diese Dinge geschehen dann gewissermaßen unter Zwang, was ein ambivalentes Gefühl der Orientierungslosigkeit auslöst, das die Figuren auf unterschiedliche Weise bekämpfen. Dieses Gefühl, so steht es bei Jung und so erzählt es jetzt auch Buwalda, ist der Ursprung von allem.
FELIX STEPHAN
Der größte Konflikt besteht in
der Handlung zwischen den
Figuren und ihren Körpern
Peter Buwalda: Otmars Söhne. Roman. Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens. Rowohlt, Hamburg 2021.
620 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de