Am 23. November 912 wird Otto aus dem Geschlecht der sächsischen Liudolfinger geboren, der als Otto der Große - erster Kaiser des Römisch-Deutschen Reiches - in die Geschichte eingehen soll. Anlässlich seines 1100. Geburtstags erscheint eine neue Biographie dieses bedeutenden Herrschers des Frühmittelalters. Matthias Becher skizziert zunächst den dynastischen Hintergrund Ottos, dessen Vater, Heinrich I., als Erster seines Herrschergeschlechts auf den ostfränkischen Thron gelangt war. Er erläutert sodann die dramatischen Konflikte mit Familienmitgliedern und mächtigen Reichsfürsten, denen sich Otto schon bald nach seiner Thronbesteigung 936 gegenübersah. Weitere Schwerpunkte sind den Kämpfen Ottos gegen die Ungarn mit dem Höhepunkt der Schlacht auf dem Lechfeld (955), seinem Verhältnis zu Kirche und Papst, seinem Streben nach der Kaiserwürde und seinem letztlich erfolgreichen Ringen um Anerkennung durch den Kaiser in Byzanz gewidmet; dieser gibt 972 seine Tochter Theophanu demSohn und Thronfolger Ottos des Großen, Otto II., zur Frau. Den Abschluss des Bandes bildet ein knapper Rückblick auf die Rezeptionsgeschichte Ottos des Großen bis zur Gegenwart.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Gustav Seibt ist ganz trunken von dem in diesem Buch des Mediävisten Matthias Becher panoramatisch entworfenen Bild der Macht und Machtkämpfe und einer instabilen politischen Ordnung zur Zeit Otto des Großen. Seibt staunt, wie viel die spärlichen, meist geistlichen Quellen doch hergeben. Der Biograf macht daraus eine umfassende vor Details übersprudelnde, doch vorsichtig abwägende Lebensgeschichte, die dem Rezensenten altmodischer erscheint als die sich hoch aufschwingenden Synthesen bekannter Fachleute fürs 10. Jahrhundert. Dass Seibt sie dennoch für höchst wertvoll hält, liegt an der ihr innewohnenden Kraft der Abbildung einer wilden Welt. Herausgerissene Zungen, Ränke, Familienkriege und archaische Herrschaftsformen. Vor diesem Hintergrund begreift Seibt die Kaisertradition, die Leistungen Ottos und ihre Bedeutung für Deutschland und Europa.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.06.2012Das Rätsel des Sommergewitters über dem Lechfeld
Im Gewissensbund mit seinen impliziten Lesern: Matthias Becher erzählt von Leben, Ruhm und Erbe Ottos des Großen
Die deutsche Geschichtswissenschaft, heißt es oft, könne nicht erzählen. Sie moralisiere und analysiere lieber, statt wie ihre angelsächsischen Kollegen dem historischen Stoff die Story abzugewinnen. Das ist natürlich ein Vorurteil, das durch zahlreiche Gegenbeispiele, sei es von eminenten oder minderen Vertretern der Zunft, widerlegt wird. Und dennoch hält es sich. Es gibt eben doch so etwas wie eine Unlust, ein Ungenügen der hiesigen Historiker an der Narration. Oder vielleicht sollte man besser sagen: eine Scheu.
Geschichtserzählungen arbeiten mit Begriffen und Vorstellungen, die nicht durchweg wissenschaftlich wasserdicht sind, sie müssen Farben auf die Palette bringen, die dem Grau-in-Grau der reinen Erkenntnis fremd sind. Das macht den Bericht angreifbar. Sicherer ist es, sich in die Burg der Fakten zurückzuziehen und nur gelegentlich einen Ausfall in die Gegenwart des Lesers zu unternehmen, am besten durch moralische Erwägungen. Sie stiften eine Art Gewissensbund zwischen dem Autor und jenen, zu denen er spricht. Die Faszination am Gegenstand wird ersetzt durch einträchtiges Befremden. So schlimm ist es gewesen, sagt der Historiker. Und der rechtschaffen empörte Leser stimmt ihm zu.
Zum Beispiel die neue, rechtzeitig zum Ottonenjahr erscheinende Biographie Ottos des Großen aus der Feder des Bonner Mediävisten Matthias Becher, der im vergangenen Jahr bereits eine Studie über den Frankenkönig Chlodwig vorgelegt hat. Auf gut zweihundertfünfzig Seiten breitet Becher die Vorgeschichte, die ökonomischen Voraussetzungen, die Katastrophen und Triumphe von Ottos Regierungszeit aus. Dann, im Schlusskapitel, zieht er Bilanz. "Ein Herrscher des Friedens", heißt es im letzten Absatz, sei Otto nie gewesen, "was ihm in heutiger Zeit zu Recht keine Achtung einträgt, denn auch im 10. Jahrhundert bedeutete Krieg vor allem unendliches Leid." Wen will Becher mit dieser Phrase besänftigen: die Ethikkommission der Friedrich-Wilhelms-Universität oder die Aktionsgruppe Deutsches Mittelalter der "Frauen für den Frieden"? Hat Otto "zu Recht keine Achtung" verdient, weil er die auf dem Lechfeld gefangenen Ungarnfürsten nicht vor ein internationales Tribunal stellte, sondern wie Strauchräuber enthaupten ließ?
Den Autor selbst muss ein geheimes Grauen vor seinem Philistertum beschlichen haben, denn zwei Sätze später fährt er fort: "Die moralischen Kriterien, mit denen wir diese gewalttätige Zeit heute bewerten, dürfen den Blick auf die historische Person und ihre damaligen Handlungsoptionen nicht verstellen." Auf die beichtväterliche folgt so die Gutachter-Floskel. Übersetzt bedeutet sie: Ein Monarch, der sich im frühen Hochmittelalter auf dem Thron halten wollte, musste immer wieder alles riskieren, sei es im Krieg oder im Familienstreit. Fürsten ohne Fortune wurden nach körperlichen Schwächen benannt - "der Dicke", "der Kahle", "der Stotterer" -, Friedfertigkeit führte zu Gebiets- und Machtverlust, Vertragsbrüche und Bündniswechsel waren die Hausmittel der Diplomatie, und Gott hielt es mit den Schlachtensiegern.
Aber diese Übersetzung bleibt Becher schuldig. Das heißt nicht, dass seine Biographie misslungen wäre, im Gegenteil: Es steht alles darin, was man über Otto den Großen wissen muss, über seine "schwierigen Anfänge", wie Becher den fünfjährigen Dauerkrieg gegen Brüder und Halbbrüder, intrigante Herzöge und verräterische Vasallen nennt, der auf Ottos Thronerhebung folgte, und über seine späten Höhenflüge, die Siege über Ungarn und Slawen, die Kaiserkrönung, die Gesandtschaften nach Córdoba und Byzanz. Becher ist ein geschickter Arrangeur von Quellentexten, und wenn er Fragen an die Überlieferung stellt, sind es fast immer die richtigen - etwa da, wo es um das Sommergewitter geht, das in der Lechfeldschlacht angeblich die ungarischen Reflexbögen unbrauchbar machte.
Wäre ein solches Unwetter tatsächlich passiert, wendet Becher ein, hätte sich kein christlicher Geschichtsschreiber die Gelegenheit entgehen lassen, es als Gottesurteil hinzustellen; aber die Quellen schweigen. Auch Bechers Deutung der amicitia zwischen Ottos Vater Heinrich I. und den Herzögen des Ostfrankenreichs als Bündnis unter Gleichen überzeugt. Heinrich, mit dem das Königtum von den Franken auf die Sachsen überging, konnte nur den Part des primus inter pares spielen. Sein Sohn Otto dagegen wollte der Erste im Reich sein, und diesen Anspruch setzte er in zermürbenden Kämpfen gegen Herzöge und Markgrafen, gegen seinen jüngeren Bruder Heinrich (der nach karolingischer Sitte seinen Teil am väterlichen Erbe forderte) und sogar gegen seinen Sohn Liudolf durch. Der ewige Zwist zwischen Vätern und Söhnen, der die Familien der Salier und Staufer zermürben sollte, begann mit den Ottonen, so wie auch die ewigen Rom-Züge, die Krönungen, mit denen sich die Könige Germaniens in verhängnisvolle Abhängigkeit von den Duodezfürsten im Vatikan begaben, der Teutonenhass der Italiener, die Städtekriege in der Lombardei.
Für Becher aber ist der Horizont der Geschichte mit Ottos Tod abgeschritten, und damit wird seine Darstellung ihrem Gegenstand nicht wirklich gerecht. Natürlich sah Otto sein Königtum noch nicht als "deutsches", sondern als Fortsetzung des fränkischen. Andererseits bekommt die Reichspolitik gerade unter ihm eine entschieden mediterrane Ausrichtung. Gut sechs Jahre lang hat er sich in Italien aufgehalten und als erster Westkaiser überhaupt Familienbande mit dem Byzantinischen Reich angeknüpft. Dass Becher den Leser nicht mit Details der verwickelten Herrschaftsverhältnisse in Konstantinopel oder der chaotischen Gemengelage in Rom langweilen will, ist verständlich. Andererseits wird die Sachlage nicht wesentlich klarer, wenn er immer wieder "die Römer" (welche?) gegen Otto oder den jeweiligen Papst aufbegehren lässt. Und schließlich hat auch die Tatsache, dass am Ende des zehnten Jahrhunderts drei große muslimische Dynastien - die spanischen Omajjaden, die Fatimiden in Ägypten und die letzten Abbasiden in Bagdad - um das Weltreich des Islam rangen, nicht wenig zur Ausbreitung von Ottos Macht und Ruhm beigetragen.
Bei Becher schnurrt dieser Aspekt des Geschehens auf einen längeren Absatz über den Austausch von Gesandtschaften zwischen dem Ottonenhof und dem Kalifen in Córdoba zusammen, dessen umständlicher Duktus sich zudem nur Eingeweihten erschließt. Aber damit sind wir wieder bei einer Grundfrage der deutschen Historikerzunft, dem Erzählproblem. Womöglich fehlte dieser verdienstvollen Biographie nur ein kleiner narrativer Funken, um aus ihrem Einblick einen Überblick zu machen. Aber dieser Funke kommt eben nicht. Stattdessen endet das Buch mit einer moralischen Verpuffung. Das hat der große Otto nicht verdient.
ANDREAS KILB
Matthias Becher: Otto der Große. Kaiser und Reich. Eine Biographie.
Verlag C. H. Beck, München 2012, 304 S., Abb., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Im Gewissensbund mit seinen impliziten Lesern: Matthias Becher erzählt von Leben, Ruhm und Erbe Ottos des Großen
Die deutsche Geschichtswissenschaft, heißt es oft, könne nicht erzählen. Sie moralisiere und analysiere lieber, statt wie ihre angelsächsischen Kollegen dem historischen Stoff die Story abzugewinnen. Das ist natürlich ein Vorurteil, das durch zahlreiche Gegenbeispiele, sei es von eminenten oder minderen Vertretern der Zunft, widerlegt wird. Und dennoch hält es sich. Es gibt eben doch so etwas wie eine Unlust, ein Ungenügen der hiesigen Historiker an der Narration. Oder vielleicht sollte man besser sagen: eine Scheu.
Geschichtserzählungen arbeiten mit Begriffen und Vorstellungen, die nicht durchweg wissenschaftlich wasserdicht sind, sie müssen Farben auf die Palette bringen, die dem Grau-in-Grau der reinen Erkenntnis fremd sind. Das macht den Bericht angreifbar. Sicherer ist es, sich in die Burg der Fakten zurückzuziehen und nur gelegentlich einen Ausfall in die Gegenwart des Lesers zu unternehmen, am besten durch moralische Erwägungen. Sie stiften eine Art Gewissensbund zwischen dem Autor und jenen, zu denen er spricht. Die Faszination am Gegenstand wird ersetzt durch einträchtiges Befremden. So schlimm ist es gewesen, sagt der Historiker. Und der rechtschaffen empörte Leser stimmt ihm zu.
Zum Beispiel die neue, rechtzeitig zum Ottonenjahr erscheinende Biographie Ottos des Großen aus der Feder des Bonner Mediävisten Matthias Becher, der im vergangenen Jahr bereits eine Studie über den Frankenkönig Chlodwig vorgelegt hat. Auf gut zweihundertfünfzig Seiten breitet Becher die Vorgeschichte, die ökonomischen Voraussetzungen, die Katastrophen und Triumphe von Ottos Regierungszeit aus. Dann, im Schlusskapitel, zieht er Bilanz. "Ein Herrscher des Friedens", heißt es im letzten Absatz, sei Otto nie gewesen, "was ihm in heutiger Zeit zu Recht keine Achtung einträgt, denn auch im 10. Jahrhundert bedeutete Krieg vor allem unendliches Leid." Wen will Becher mit dieser Phrase besänftigen: die Ethikkommission der Friedrich-Wilhelms-Universität oder die Aktionsgruppe Deutsches Mittelalter der "Frauen für den Frieden"? Hat Otto "zu Recht keine Achtung" verdient, weil er die auf dem Lechfeld gefangenen Ungarnfürsten nicht vor ein internationales Tribunal stellte, sondern wie Strauchräuber enthaupten ließ?
Den Autor selbst muss ein geheimes Grauen vor seinem Philistertum beschlichen haben, denn zwei Sätze später fährt er fort: "Die moralischen Kriterien, mit denen wir diese gewalttätige Zeit heute bewerten, dürfen den Blick auf die historische Person und ihre damaligen Handlungsoptionen nicht verstellen." Auf die beichtväterliche folgt so die Gutachter-Floskel. Übersetzt bedeutet sie: Ein Monarch, der sich im frühen Hochmittelalter auf dem Thron halten wollte, musste immer wieder alles riskieren, sei es im Krieg oder im Familienstreit. Fürsten ohne Fortune wurden nach körperlichen Schwächen benannt - "der Dicke", "der Kahle", "der Stotterer" -, Friedfertigkeit führte zu Gebiets- und Machtverlust, Vertragsbrüche und Bündniswechsel waren die Hausmittel der Diplomatie, und Gott hielt es mit den Schlachtensiegern.
Aber diese Übersetzung bleibt Becher schuldig. Das heißt nicht, dass seine Biographie misslungen wäre, im Gegenteil: Es steht alles darin, was man über Otto den Großen wissen muss, über seine "schwierigen Anfänge", wie Becher den fünfjährigen Dauerkrieg gegen Brüder und Halbbrüder, intrigante Herzöge und verräterische Vasallen nennt, der auf Ottos Thronerhebung folgte, und über seine späten Höhenflüge, die Siege über Ungarn und Slawen, die Kaiserkrönung, die Gesandtschaften nach Córdoba und Byzanz. Becher ist ein geschickter Arrangeur von Quellentexten, und wenn er Fragen an die Überlieferung stellt, sind es fast immer die richtigen - etwa da, wo es um das Sommergewitter geht, das in der Lechfeldschlacht angeblich die ungarischen Reflexbögen unbrauchbar machte.
Wäre ein solches Unwetter tatsächlich passiert, wendet Becher ein, hätte sich kein christlicher Geschichtsschreiber die Gelegenheit entgehen lassen, es als Gottesurteil hinzustellen; aber die Quellen schweigen. Auch Bechers Deutung der amicitia zwischen Ottos Vater Heinrich I. und den Herzögen des Ostfrankenreichs als Bündnis unter Gleichen überzeugt. Heinrich, mit dem das Königtum von den Franken auf die Sachsen überging, konnte nur den Part des primus inter pares spielen. Sein Sohn Otto dagegen wollte der Erste im Reich sein, und diesen Anspruch setzte er in zermürbenden Kämpfen gegen Herzöge und Markgrafen, gegen seinen jüngeren Bruder Heinrich (der nach karolingischer Sitte seinen Teil am väterlichen Erbe forderte) und sogar gegen seinen Sohn Liudolf durch. Der ewige Zwist zwischen Vätern und Söhnen, der die Familien der Salier und Staufer zermürben sollte, begann mit den Ottonen, so wie auch die ewigen Rom-Züge, die Krönungen, mit denen sich die Könige Germaniens in verhängnisvolle Abhängigkeit von den Duodezfürsten im Vatikan begaben, der Teutonenhass der Italiener, die Städtekriege in der Lombardei.
Für Becher aber ist der Horizont der Geschichte mit Ottos Tod abgeschritten, und damit wird seine Darstellung ihrem Gegenstand nicht wirklich gerecht. Natürlich sah Otto sein Königtum noch nicht als "deutsches", sondern als Fortsetzung des fränkischen. Andererseits bekommt die Reichspolitik gerade unter ihm eine entschieden mediterrane Ausrichtung. Gut sechs Jahre lang hat er sich in Italien aufgehalten und als erster Westkaiser überhaupt Familienbande mit dem Byzantinischen Reich angeknüpft. Dass Becher den Leser nicht mit Details der verwickelten Herrschaftsverhältnisse in Konstantinopel oder der chaotischen Gemengelage in Rom langweilen will, ist verständlich. Andererseits wird die Sachlage nicht wesentlich klarer, wenn er immer wieder "die Römer" (welche?) gegen Otto oder den jeweiligen Papst aufbegehren lässt. Und schließlich hat auch die Tatsache, dass am Ende des zehnten Jahrhunderts drei große muslimische Dynastien - die spanischen Omajjaden, die Fatimiden in Ägypten und die letzten Abbasiden in Bagdad - um das Weltreich des Islam rangen, nicht wenig zur Ausbreitung von Ottos Macht und Ruhm beigetragen.
Bei Becher schnurrt dieser Aspekt des Geschehens auf einen längeren Absatz über den Austausch von Gesandtschaften zwischen dem Ottonenhof und dem Kalifen in Córdoba zusammen, dessen umständlicher Duktus sich zudem nur Eingeweihten erschließt. Aber damit sind wir wieder bei einer Grundfrage der deutschen Historikerzunft, dem Erzählproblem. Womöglich fehlte dieser verdienstvollen Biographie nur ein kleiner narrativer Funken, um aus ihrem Einblick einen Überblick zu machen. Aber dieser Funke kommt eben nicht. Stattdessen endet das Buch mit einer moralischen Verpuffung. Das hat der große Otto nicht verdient.
ANDREAS KILB
Matthias Becher: Otto der Große. Kaiser und Reich. Eine Biographie.
Verlag C. H. Beck, München 2012, 304 S., Abb., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.09.2012Der
Gründerkaiser
Eine neue, umfassende
Biografie Ottos des Großen
Deutschland ist nicht an einem Tag erbaut worden, aber wenn es eine Gründergestalt gibt, auf deren Leistungen alles Spätere fußt, dann ist es Otto der Große, der von 936 bis 973 regierte. Da er 912 zur Welt kam und 962 in Rom zum Kaiser gekrönt wurde, gibt es einen kalendarischen Anlass, an ihn zu erinnern, was eine großartige Magdeburger Ausstellung derzeit tut (SZ vom 24. August). Die zeigt mit ihrem Blick auf die tausendjährige römische Kaisertradition, in die Otto, der aus Sachsen stammende König des Ostfrankenreichs, eintrat, die eine Hälfte seiner Leistung. Die andere besteht darin, dass er den neuen, am östlichen Rand des zerfallenen Karolingerreichs gelegenen Machtschwerpunkt um Harz und Elbe, ausgreifend bis an die Oder, befestigte.
Damit löste er den ostfränkischen Reichsteil endgültig aus der karolingischen Erbmasse und verlieh ihm einen neuen, entschieden nichtrömischen Charakter, den man rückblickend als deutsch bezeichnen darf. Erst vor diesem Hintergrund erhält sein Rom-Zug und sein Eingreifen in Italien die weltgeschichtliche Bedeutung: Auf den Spuren Karls des Großen, aber anders als dieser nicht mehr von altrömischen Gebieten aus, schuf Otto die römisch-germanische Struktur des zentraleuropäischen Mittelalters. Denn mit der Kaiserkrone war auch das Bündnis mit der katholischen Kirche und ihrer lateinischen Gelehrtenkultur, und so mit dem wichtigsten Kulturfaktor jener Zeit gesichert und auf Dauer gestellt. Seither waren die römischen Kaiser zugleich deutsche Könige, was Otto durch eine gezielte Nachfolgepolitik befestigte. Und zugleich war diese neue Monarchie eben kein spätrömisches Nachfolgereich mehr wie das Karls des Großen oder noch früher das des Goten Theoderich. Dass Otto zugleich den zwischen West- und Ostfrankenreich schwankenden lothringischen Mittelstreifen für das Ostreich sicherte, gehört zu dieser Leistung: Die Gebiete um Rhein und Maas mit ihrer hohen Zivilisiertheit waren für den Bestand des neuen Gebildes materiell unerlässlich. Das halb römische, halb germanische Deutschland war geboren und konnte in den folgenden Generationen seine historisch dauerhafte, bis heute fortwirkende Form annehmen.
Als vorgeschobene Grenzregion musste dieses sich festigende Gebilde auch den Westen Europas vor den wiederkehrenden Anstürmen der ungarischen Reitervölker sichern. Und auch das gelang Otto in der Schlacht auf dem Lechfeld 955, die seinen imperialen Ruhm, seine Kaisertauglichkeit also, bewies und die Ungarn endgültig zur Sesshaftigkeit bekehrte. Die auch kirchenrechtlich mühsame Gründung eines neuen Erzbistums in Magdeburg – die neue Ausstellung zeigt ehrwürdige Pergamente dazu – besiegelte diesen halb kriegerischen, halb missionarischen Vorgang.
Was für eine gewaltige Geschichte! Überliefert ist sie in einer vergleichsweise minimalen Menge von Texten, ganz überwiegend geistlicher Geschichtsschreibung, einem schmalen Urkundenbestand und in seltenen, kostbaren Kunstwerken und Baudenkmalen. Wie viel man doch wissen oder ahnen kann, zeigt die neue umfassende Biografie, die der Mediävist Matthias Becher vorgelegt hat. Sie mutet in ihrem abwägenden Detailreichtum altmodischer an als die kühnen Synthesen der Hauptfachleute fürs 10. Jahrhundert, Gert Althoff und Johannes Fried. Und doch ist sie in ihrer zuweilen verwirrenden Kleinteiligkeit nicht nur für die Seminare wertvoll, wo sie ein verlässliches Begleitbuch zu Widukind von Corvey, Liutprand von Cremona oder Roswitha von Gandersheim darstellt, den Hauptchronisten der Epoche.
Das Hin und Her vor allem der inneren Kämpfe, die Becher minutiös abwägend darstellt – all die Wendungen und Aufstände der Heinrichs, Konrads, Liudolfs, Berengars und Bruns –, mag man sich vielleicht nicht merken. Doch sie führen einen Zustand politischer Unfestigkeit vor Augen, in dem Herrschaft nur durch persönliche Beziehungen, Treueverhältnisse, Verwandtschaft und Vertrauen stabilisiert werden konnte, immer wieder auch durch rücksichtslose Gewalt: Wir lesen von herausgerissenen Zungen, von ausgestochenen Augen, aber auch von bitteren Familienkriegen mit tränenreichen Versöhnungen. Eine wilde Welt, in der übrigens die Herrscherinnen, also die Frauen, eine gewaltige Rolle spielten.
Erst vor diesem Hintergrund lebenszeitlich beschränkter, verwandtschaflich gebundener und agrarisch bedingter Herrschaftsformen erweist sich die Bedeutung der tausendjährigen Kaisertradition, in die Otto so zielsicher eintrat: Denn sie war die stabilste politische Überlieferung, die damals greifbar war – ablesbar in einer Formenwelt, die bis auf den Senat der römischen Republik zurückreicht und die auch Otto in Siegeln, Münzen und Handschriften kopierend und variierend fortsetzte. Das künftige Deutschland, wie überhaupt das Europa der Nationen, wurde nur möglich, weil die Römer unter Augustus nicht mehr über den Rhein vordrangen. Trotzdem ist auch das halbbarbarische Land, das sich vom Harz aus entwickelte, ein letztes Kind Roms geworden. Dafür steht Otto und sein Kaisertum.
GUSTAV SEIBT
Matthias Becher: Otto der Große. Kaiser und Reich. Eine Biographie. Verlag C. H. Beck, München 2012. 332 Seiten, 24,95 Euro.
Allein persönliche Beziehungen
sicherten Herrschaft
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Gründerkaiser
Eine neue, umfassende
Biografie Ottos des Großen
Deutschland ist nicht an einem Tag erbaut worden, aber wenn es eine Gründergestalt gibt, auf deren Leistungen alles Spätere fußt, dann ist es Otto der Große, der von 936 bis 973 regierte. Da er 912 zur Welt kam und 962 in Rom zum Kaiser gekrönt wurde, gibt es einen kalendarischen Anlass, an ihn zu erinnern, was eine großartige Magdeburger Ausstellung derzeit tut (SZ vom 24. August). Die zeigt mit ihrem Blick auf die tausendjährige römische Kaisertradition, in die Otto, der aus Sachsen stammende König des Ostfrankenreichs, eintrat, die eine Hälfte seiner Leistung. Die andere besteht darin, dass er den neuen, am östlichen Rand des zerfallenen Karolingerreichs gelegenen Machtschwerpunkt um Harz und Elbe, ausgreifend bis an die Oder, befestigte.
Damit löste er den ostfränkischen Reichsteil endgültig aus der karolingischen Erbmasse und verlieh ihm einen neuen, entschieden nichtrömischen Charakter, den man rückblickend als deutsch bezeichnen darf. Erst vor diesem Hintergrund erhält sein Rom-Zug und sein Eingreifen in Italien die weltgeschichtliche Bedeutung: Auf den Spuren Karls des Großen, aber anders als dieser nicht mehr von altrömischen Gebieten aus, schuf Otto die römisch-germanische Struktur des zentraleuropäischen Mittelalters. Denn mit der Kaiserkrone war auch das Bündnis mit der katholischen Kirche und ihrer lateinischen Gelehrtenkultur, und so mit dem wichtigsten Kulturfaktor jener Zeit gesichert und auf Dauer gestellt. Seither waren die römischen Kaiser zugleich deutsche Könige, was Otto durch eine gezielte Nachfolgepolitik befestigte. Und zugleich war diese neue Monarchie eben kein spätrömisches Nachfolgereich mehr wie das Karls des Großen oder noch früher das des Goten Theoderich. Dass Otto zugleich den zwischen West- und Ostfrankenreich schwankenden lothringischen Mittelstreifen für das Ostreich sicherte, gehört zu dieser Leistung: Die Gebiete um Rhein und Maas mit ihrer hohen Zivilisiertheit waren für den Bestand des neuen Gebildes materiell unerlässlich. Das halb römische, halb germanische Deutschland war geboren und konnte in den folgenden Generationen seine historisch dauerhafte, bis heute fortwirkende Form annehmen.
Als vorgeschobene Grenzregion musste dieses sich festigende Gebilde auch den Westen Europas vor den wiederkehrenden Anstürmen der ungarischen Reitervölker sichern. Und auch das gelang Otto in der Schlacht auf dem Lechfeld 955, die seinen imperialen Ruhm, seine Kaisertauglichkeit also, bewies und die Ungarn endgültig zur Sesshaftigkeit bekehrte. Die auch kirchenrechtlich mühsame Gründung eines neuen Erzbistums in Magdeburg – die neue Ausstellung zeigt ehrwürdige Pergamente dazu – besiegelte diesen halb kriegerischen, halb missionarischen Vorgang.
Was für eine gewaltige Geschichte! Überliefert ist sie in einer vergleichsweise minimalen Menge von Texten, ganz überwiegend geistlicher Geschichtsschreibung, einem schmalen Urkundenbestand und in seltenen, kostbaren Kunstwerken und Baudenkmalen. Wie viel man doch wissen oder ahnen kann, zeigt die neue umfassende Biografie, die der Mediävist Matthias Becher vorgelegt hat. Sie mutet in ihrem abwägenden Detailreichtum altmodischer an als die kühnen Synthesen der Hauptfachleute fürs 10. Jahrhundert, Gert Althoff und Johannes Fried. Und doch ist sie in ihrer zuweilen verwirrenden Kleinteiligkeit nicht nur für die Seminare wertvoll, wo sie ein verlässliches Begleitbuch zu Widukind von Corvey, Liutprand von Cremona oder Roswitha von Gandersheim darstellt, den Hauptchronisten der Epoche.
Das Hin und Her vor allem der inneren Kämpfe, die Becher minutiös abwägend darstellt – all die Wendungen und Aufstände der Heinrichs, Konrads, Liudolfs, Berengars und Bruns –, mag man sich vielleicht nicht merken. Doch sie führen einen Zustand politischer Unfestigkeit vor Augen, in dem Herrschaft nur durch persönliche Beziehungen, Treueverhältnisse, Verwandtschaft und Vertrauen stabilisiert werden konnte, immer wieder auch durch rücksichtslose Gewalt: Wir lesen von herausgerissenen Zungen, von ausgestochenen Augen, aber auch von bitteren Familienkriegen mit tränenreichen Versöhnungen. Eine wilde Welt, in der übrigens die Herrscherinnen, also die Frauen, eine gewaltige Rolle spielten.
Erst vor diesem Hintergrund lebenszeitlich beschränkter, verwandtschaflich gebundener und agrarisch bedingter Herrschaftsformen erweist sich die Bedeutung der tausendjährigen Kaisertradition, in die Otto so zielsicher eintrat: Denn sie war die stabilste politische Überlieferung, die damals greifbar war – ablesbar in einer Formenwelt, die bis auf den Senat der römischen Republik zurückreicht und die auch Otto in Siegeln, Münzen und Handschriften kopierend und variierend fortsetzte. Das künftige Deutschland, wie überhaupt das Europa der Nationen, wurde nur möglich, weil die Römer unter Augustus nicht mehr über den Rhein vordrangen. Trotzdem ist auch das halbbarbarische Land, das sich vom Harz aus entwickelte, ein letztes Kind Roms geworden. Dafür steht Otto und sein Kaisertum.
GUSTAV SEIBT
Matthias Becher: Otto der Große. Kaiser und Reich. Eine Biographie. Verlag C. H. Beck, München 2012. 332 Seiten, 24,95 Euro.
Allein persönliche Beziehungen
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