Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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Im Gewissensbund mit seinen impliziten Lesern: Matthias Becher erzählt von Leben, Ruhm und Erbe Ottos des Großen
Die deutsche Geschichtswissenschaft, heißt es oft, könne nicht erzählen. Sie moralisiere und analysiere lieber, statt wie ihre angelsächsischen Kollegen dem historischen Stoff die Story abzugewinnen. Das ist natürlich ein Vorurteil, das durch zahlreiche Gegenbeispiele, sei es von eminenten oder minderen Vertretern der Zunft, widerlegt wird. Und dennoch hält es sich. Es gibt eben doch so etwas wie eine Unlust, ein Ungenügen der hiesigen Historiker an der Narration. Oder vielleicht sollte man besser sagen: eine Scheu.
Geschichtserzählungen arbeiten mit Begriffen und Vorstellungen, die nicht durchweg wissenschaftlich wasserdicht sind, sie müssen Farben auf die Palette bringen, die dem Grau-in-Grau der reinen Erkenntnis fremd sind. Das macht den Bericht angreifbar. Sicherer ist es, sich in die Burg der Fakten zurückzuziehen und nur gelegentlich einen Ausfall in die Gegenwart des Lesers zu unternehmen, am besten durch moralische Erwägungen. Sie stiften eine Art Gewissensbund zwischen dem Autor und jenen, zu denen er spricht. Die Faszination am Gegenstand wird ersetzt durch einträchtiges Befremden. So schlimm ist es gewesen, sagt der Historiker. Und der rechtschaffen empörte Leser stimmt ihm zu.
Zum Beispiel die neue, rechtzeitig zum Ottonenjahr erscheinende Biographie Ottos des Großen aus der Feder des Bonner Mediävisten Matthias Becher, der im vergangenen Jahr bereits eine Studie über den Frankenkönig Chlodwig vorgelegt hat. Auf gut zweihundertfünfzig Seiten breitet Becher die Vorgeschichte, die ökonomischen Voraussetzungen, die Katastrophen und Triumphe von Ottos Regierungszeit aus. Dann, im Schlusskapitel, zieht er Bilanz. "Ein Herrscher des Friedens", heißt es im letzten Absatz, sei Otto nie gewesen, "was ihm in heutiger Zeit zu Recht keine Achtung einträgt, denn auch im 10. Jahrhundert bedeutete Krieg vor allem unendliches Leid." Wen will Becher mit dieser Phrase besänftigen: die Ethikkommission der Friedrich-Wilhelms-Universität oder die Aktionsgruppe Deutsches Mittelalter der "Frauen für den Frieden"? Hat Otto "zu Recht keine Achtung" verdient, weil er die auf dem Lechfeld gefangenen Ungarnfürsten nicht vor ein internationales Tribunal stellte, sondern wie Strauchräuber enthaupten ließ?
Den Autor selbst muss ein geheimes Grauen vor seinem Philistertum beschlichen haben, denn zwei Sätze später fährt er fort: "Die moralischen Kriterien, mit denen wir diese gewalttätige Zeit heute bewerten, dürfen den Blick auf die historische Person und ihre damaligen Handlungsoptionen nicht verstellen." Auf die beichtväterliche folgt so die Gutachter-Floskel. Übersetzt bedeutet sie: Ein Monarch, der sich im frühen Hochmittelalter auf dem Thron halten wollte, musste immer wieder alles riskieren, sei es im Krieg oder im Familienstreit. Fürsten ohne Fortune wurden nach körperlichen Schwächen benannt - "der Dicke", "der Kahle", "der Stotterer" -, Friedfertigkeit führte zu Gebiets- und Machtverlust, Vertragsbrüche und Bündniswechsel waren die Hausmittel der Diplomatie, und Gott hielt es mit den Schlachtensiegern.
Aber diese Übersetzung bleibt Becher schuldig. Das heißt nicht, dass seine Biographie misslungen wäre, im Gegenteil: Es steht alles darin, was man über Otto den Großen wissen muss, über seine "schwierigen Anfänge", wie Becher den fünfjährigen Dauerkrieg gegen Brüder und Halbbrüder, intrigante Herzöge und verräterische Vasallen nennt, der auf Ottos Thronerhebung folgte, und über seine späten Höhenflüge, die Siege über Ungarn und Slawen, die Kaiserkrönung, die Gesandtschaften nach Córdoba und Byzanz. Becher ist ein geschickter Arrangeur von Quellentexten, und wenn er Fragen an die Überlieferung stellt, sind es fast immer die richtigen - etwa da, wo es um das Sommergewitter geht, das in der Lechfeldschlacht angeblich die ungarischen Reflexbögen unbrauchbar machte.
Wäre ein solches Unwetter tatsächlich passiert, wendet Becher ein, hätte sich kein christlicher Geschichtsschreiber die Gelegenheit entgehen lassen, es als Gottesurteil hinzustellen; aber die Quellen schweigen. Auch Bechers Deutung der amicitia zwischen Ottos Vater Heinrich I. und den Herzögen des Ostfrankenreichs als Bündnis unter Gleichen überzeugt. Heinrich, mit dem das Königtum von den Franken auf die Sachsen überging, konnte nur den Part des primus inter pares spielen. Sein Sohn Otto dagegen wollte der Erste im Reich sein, und diesen Anspruch setzte er in zermürbenden Kämpfen gegen Herzöge und Markgrafen, gegen seinen jüngeren Bruder Heinrich (der nach karolingischer Sitte seinen Teil am väterlichen Erbe forderte) und sogar gegen seinen Sohn Liudolf durch. Der ewige Zwist zwischen Vätern und Söhnen, der die Familien der Salier und Staufer zermürben sollte, begann mit den Ottonen, so wie auch die ewigen Rom-Züge, die Krönungen, mit denen sich die Könige Germaniens in verhängnisvolle Abhängigkeit von den Duodezfürsten im Vatikan begaben, der Teutonenhass der Italiener, die Städtekriege in der Lombardei.
Für Becher aber ist der Horizont der Geschichte mit Ottos Tod abgeschritten, und damit wird seine Darstellung ihrem Gegenstand nicht wirklich gerecht. Natürlich sah Otto sein Königtum noch nicht als "deutsches", sondern als Fortsetzung des fränkischen. Andererseits bekommt die Reichspolitik gerade unter ihm eine entschieden mediterrane Ausrichtung. Gut sechs Jahre lang hat er sich in Italien aufgehalten und als erster Westkaiser überhaupt Familienbande mit dem Byzantinischen Reich angeknüpft. Dass Becher den Leser nicht mit Details der verwickelten Herrschaftsverhältnisse in Konstantinopel oder der chaotischen Gemengelage in Rom langweilen will, ist verständlich. Andererseits wird die Sachlage nicht wesentlich klarer, wenn er immer wieder "die Römer" (welche?) gegen Otto oder den jeweiligen Papst aufbegehren lässt. Und schließlich hat auch die Tatsache, dass am Ende des zehnten Jahrhunderts drei große muslimische Dynastien - die spanischen Omajjaden, die Fatimiden in Ägypten und die letzten Abbasiden in Bagdad - um das Weltreich des Islam rangen, nicht wenig zur Ausbreitung von Ottos Macht und Ruhm beigetragen.
Bei Becher schnurrt dieser Aspekt des Geschehens auf einen längeren Absatz über den Austausch von Gesandtschaften zwischen dem Ottonenhof und dem Kalifen in Córdoba zusammen, dessen umständlicher Duktus sich zudem nur Eingeweihten erschließt. Aber damit sind wir wieder bei einer Grundfrage der deutschen Historikerzunft, dem Erzählproblem. Womöglich fehlte dieser verdienstvollen Biographie nur ein kleiner narrativer Funken, um aus ihrem Einblick einen Überblick zu machen. Aber dieser Funke kommt eben nicht. Stattdessen endet das Buch mit einer moralischen Verpuffung. Das hat der große Otto nicht verdient.
ANDREAS KILB
Matthias Becher: Otto der Große. Kaiser und Reich. Eine Biographie.
Verlag C. H. Beck, München 2012, 304 S., Abb., geb., 24,95 [Euro].
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