Otto von Bismarck war ein Staatsmann, dessen politische Bedeutung seit jeher höchst kontrovers beurteilt wird. Die einen verehren ihn als «Reichsgründer» und begnadeten Diplomaten; die anderen verdammen ihn als reaktionären Junker und unbelehrbaren Sozialistenfeind. Seit der unverhofften Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten, die aus der Trümmermasse des von Bismarck geschaffenen Reiches hervorgegangen waren, wird über die historische Rolle des «Eisernen Kanzlers» neu nachgedacht. Die Zeit scheint reif für eine unvoreingenommene Bewertung Bismarcks - jenseits der gängigen Klischees, die sein Bild über Jahrzehnte hin verzerrt haben.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.07.1998Die große Gabe des Maßhaltens
Zwei kleine Biographien Otto von Bismarcks
Theo Schwarzmüller: Otto von Bismarck. dtv portrait. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1998. 159 Seiten, 14,90 Mark.
Volker Ullrich: Otto von Bismarck. Rowohlts Monographien, Bd. 602. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1998. 160 Seiten, 12,90 Mark.
Kurz vor dem 20. Juli 1944 besuchte einer der führenden Köpfe des Widerstandes gegen Hitler, der Diplomat Ulrich von Hassell, das Grab Bismarcks in Friedrichsruh. In seinem Tagebuch notierte er zehn Tage vor dem mißglückten Attentat: "Kaum zu ertragen, ich war dauernd in Tränen beim Gedanken an das zerstörte Werk . . . Es ist bedauerlich, welch falsches Bild wir selbst in der Welt von ihm erzeugt haben, als dem Gewaltpolitiker mit Kürassierstiefeln, in der kindlichen Freude darüber, daß jemand Deutschland endlich wieder zur Geltung brachte. In Wahrheit war die höchste Diplomatie und das Maßhalten seine große Gabe. Er hat verstanden, die Gegner auszumanövrieren und trotzdem in einziger Weise in der Welt Vertrauen zu erwecken, genau umgekehrt wie heute."
Jenes von Hassell beklagte Bild des Gewaltpolitikers Bismarck gehört - heute freilich ins Negative gewendet - zwar noch immer nicht der Vergangenheit an, doch die wirklich ernstzunehmenden Bismarck-Biographen der Gegenwart haben sich längst davon abgesetzt.
Das gilt auch für zwei neue kürzere Lebensdarstellungen des Reichsgründers, die sich in gleicher Weise durch Kenntnisreichtum, Sachlichkeit und - im großen und ganzen - auch durch Ausgewogenheit auszeichnen. Der junge Mannheimer Historiker Schwarzmüller arbeitet besonders nachdrücklich die lebensgeschichtlichen Voraussetzungen der Politik Bismarcks heraus, seine Verwurzelung in einer bestimmten Tradition des preußischen Landadels. In den Urteilen ist er zuweilen recht scharf und eindeutig, so etwa, wenn er, sicherlich zutreffend, des Kanzlers Skrupellosigkeit im Umgang mit anderen, seine Fähigkeit zur Manipulation "von Mensch und Politik" rügt oder wenn er - in diesem Fall die modernisierenden Elemente der Bismarckschen Politik doch allzusehr unterschätzend - mit den Entwicklungen seit 1866 nur den Beginn des "erstaunlichen, unheilvollen Erfolg(es) der preußischen Militärmonarchie und der adeligen Offizierkaste" wahrnehmen zu können meint.
Andererseits arbeitet Schwarzmüller deutlicher als andere die langfristigen Wirkungen der Innenpolitik Bismarcks für die politische Kultur der Deutschen heraus: "Seine Politik trennte die Gesellschaft in drei große Lager: das nationale, das katholische und das sozialistische." Noch die innere Geschichte der alten Bundesrepublik ist hierdurch entscheidend geprägt worden.
Volker Ullrich wiederum setzt etwas andere Akzente. Ebenso kenntnisreich wie Schwarzmüller schenkt auch er den von niemandem zu bestreitenden dunklen Seiten der Persönlichkeit und der Politik des ersten Reichskanzlers gebührende Aufmerksamkeit, doch andererseits verschweigt er keineswegs die unglaublichen Fähigkeiten dieses Mannes, so etwa die unbestreitbare Überlegenheit der Bismarckschen Diplomatie, "deren Erfolgsgeheimnis gerade darin bestand, daß sie sich, solange es irgend ging, alternative Optionen offenzuhalten suchte".
Neben der Kaltblütigkeit des politischen Taktikers, neben seiner Fähigkeit zum Denken in Alternativen verfügte Bismarck in besonderer Weise auch über eine andere, bei den meisten Politikern höchst seltene Gabe, die Ullrich mit Recht ausdrücklich hervorhebt: "Das Wartenkönnen auf den entscheidenden Augenblick, das entschlossene Ausnutzen einer einmaligen Gunst der Stunde - diese seltene Fähigkeit hat Bismarck zur Perfektion entwickelt."
Stärker noch als Schwarzmüller akzentuiert Ullrich das Bild des "weißen Revolutionärs" Bismarck, der als Modernisierer wider Willen agierte, indem er mit seinen innenpolitischen Umwälzungen in Deutschland seit 1866/67 politische und soziale Kräfte freisetzte, die später eine ungeahnte Eigendynamik entwickeln sollten. Die lange vorherrschende These vom angeblichen Bismarckschen "Sozialimperialismus", die von der Annahme ausging, Bismarck habe den Kolonialerwerb in den Jahren 1883/84 nur inszeniert, um innenpolitische Spannungen nach außen abzulenken, lehnt Ullrich ab. Statt dessen hebt er die antienglische Komponente der Kolonialpolitik des Reiches hervor: Die Beziehungen zu England sollten sich verschlechtern, um im Falle eines Thronwechsels die englischen Sympathien des neuen Kaisers zu paralysieren.
Auch die noch bei nicht wenigen Historikern verbreitete Auffassung, das von Bismarck geschaffene Reich sei von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen, läßt Ullrich zu Recht nicht gelten, denn "so festgezurrt waren die Strukturen nicht, als daß es nicht auch Möglichkeiten einer Kurskorrektur gegeben hätte. Daß diese nicht genutzt wurden, wird man nicht mehr Bismarck anlasten dürfen."
Beide Kurzdarstellungen sind empfehlenswert. Sie sind mit Sachverstand und flüssig geschrieben und befinden sich auf dem neuesten Stand der Forschung. Die unterschiedlichen Akzentsetzungen ergänzen einander: Während Ullrich den Kulturkampf gerade auf einer halben Seite abhandelt, widmet ihm Schwarzmüller nicht weniger als acht Seiten. Andererseits wird die sozialpolitische Leistung des Reichsgründers von Schwarzmüller wohl ein wenig zu knapp gewürdigt. Die beiden Bände heben sich in erfreulicher Weise von früheren und leider auch neueren Versuchen ab, Bismarck als "Dämon der Deutschen" und wieder einmal als direkten Vorläufer Hitlers zu verunglimpfen. Man wird Ullrich uneingeschränkt beipflichten können, wenn er bemerkt: "Vielleicht läßt sich sagen, daß dieser umstrittene Staatsmann erst jetzt ganz der Geschichte angehört - und daß wir ihn deshalb in seinen Grenzen und Leistungen vorurteilsfreier betrachten können, als es früheren Generationen möglich war."
Hans-Christof Kraus
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zwei kleine Biographien Otto von Bismarcks
Theo Schwarzmüller: Otto von Bismarck. dtv portrait. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1998. 159 Seiten, 14,90 Mark.
Volker Ullrich: Otto von Bismarck. Rowohlts Monographien, Bd. 602. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1998. 160 Seiten, 12,90 Mark.
Kurz vor dem 20. Juli 1944 besuchte einer der führenden Köpfe des Widerstandes gegen Hitler, der Diplomat Ulrich von Hassell, das Grab Bismarcks in Friedrichsruh. In seinem Tagebuch notierte er zehn Tage vor dem mißglückten Attentat: "Kaum zu ertragen, ich war dauernd in Tränen beim Gedanken an das zerstörte Werk . . . Es ist bedauerlich, welch falsches Bild wir selbst in der Welt von ihm erzeugt haben, als dem Gewaltpolitiker mit Kürassierstiefeln, in der kindlichen Freude darüber, daß jemand Deutschland endlich wieder zur Geltung brachte. In Wahrheit war die höchste Diplomatie und das Maßhalten seine große Gabe. Er hat verstanden, die Gegner auszumanövrieren und trotzdem in einziger Weise in der Welt Vertrauen zu erwecken, genau umgekehrt wie heute."
Jenes von Hassell beklagte Bild des Gewaltpolitikers Bismarck gehört - heute freilich ins Negative gewendet - zwar noch immer nicht der Vergangenheit an, doch die wirklich ernstzunehmenden Bismarck-Biographen der Gegenwart haben sich längst davon abgesetzt.
Das gilt auch für zwei neue kürzere Lebensdarstellungen des Reichsgründers, die sich in gleicher Weise durch Kenntnisreichtum, Sachlichkeit und - im großen und ganzen - auch durch Ausgewogenheit auszeichnen. Der junge Mannheimer Historiker Schwarzmüller arbeitet besonders nachdrücklich die lebensgeschichtlichen Voraussetzungen der Politik Bismarcks heraus, seine Verwurzelung in einer bestimmten Tradition des preußischen Landadels. In den Urteilen ist er zuweilen recht scharf und eindeutig, so etwa, wenn er, sicherlich zutreffend, des Kanzlers Skrupellosigkeit im Umgang mit anderen, seine Fähigkeit zur Manipulation "von Mensch und Politik" rügt oder wenn er - in diesem Fall die modernisierenden Elemente der Bismarckschen Politik doch allzusehr unterschätzend - mit den Entwicklungen seit 1866 nur den Beginn des "erstaunlichen, unheilvollen Erfolg(es) der preußischen Militärmonarchie und der adeligen Offizierkaste" wahrnehmen zu können meint.
Andererseits arbeitet Schwarzmüller deutlicher als andere die langfristigen Wirkungen der Innenpolitik Bismarcks für die politische Kultur der Deutschen heraus: "Seine Politik trennte die Gesellschaft in drei große Lager: das nationale, das katholische und das sozialistische." Noch die innere Geschichte der alten Bundesrepublik ist hierdurch entscheidend geprägt worden.
Volker Ullrich wiederum setzt etwas andere Akzente. Ebenso kenntnisreich wie Schwarzmüller schenkt auch er den von niemandem zu bestreitenden dunklen Seiten der Persönlichkeit und der Politik des ersten Reichskanzlers gebührende Aufmerksamkeit, doch andererseits verschweigt er keineswegs die unglaublichen Fähigkeiten dieses Mannes, so etwa die unbestreitbare Überlegenheit der Bismarckschen Diplomatie, "deren Erfolgsgeheimnis gerade darin bestand, daß sie sich, solange es irgend ging, alternative Optionen offenzuhalten suchte".
Neben der Kaltblütigkeit des politischen Taktikers, neben seiner Fähigkeit zum Denken in Alternativen verfügte Bismarck in besonderer Weise auch über eine andere, bei den meisten Politikern höchst seltene Gabe, die Ullrich mit Recht ausdrücklich hervorhebt: "Das Wartenkönnen auf den entscheidenden Augenblick, das entschlossene Ausnutzen einer einmaligen Gunst der Stunde - diese seltene Fähigkeit hat Bismarck zur Perfektion entwickelt."
Stärker noch als Schwarzmüller akzentuiert Ullrich das Bild des "weißen Revolutionärs" Bismarck, der als Modernisierer wider Willen agierte, indem er mit seinen innenpolitischen Umwälzungen in Deutschland seit 1866/67 politische und soziale Kräfte freisetzte, die später eine ungeahnte Eigendynamik entwickeln sollten. Die lange vorherrschende These vom angeblichen Bismarckschen "Sozialimperialismus", die von der Annahme ausging, Bismarck habe den Kolonialerwerb in den Jahren 1883/84 nur inszeniert, um innenpolitische Spannungen nach außen abzulenken, lehnt Ullrich ab. Statt dessen hebt er die antienglische Komponente der Kolonialpolitik des Reiches hervor: Die Beziehungen zu England sollten sich verschlechtern, um im Falle eines Thronwechsels die englischen Sympathien des neuen Kaisers zu paralysieren.
Auch die noch bei nicht wenigen Historikern verbreitete Auffassung, das von Bismarck geschaffene Reich sei von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen, läßt Ullrich zu Recht nicht gelten, denn "so festgezurrt waren die Strukturen nicht, als daß es nicht auch Möglichkeiten einer Kurskorrektur gegeben hätte. Daß diese nicht genutzt wurden, wird man nicht mehr Bismarck anlasten dürfen."
Beide Kurzdarstellungen sind empfehlenswert. Sie sind mit Sachverstand und flüssig geschrieben und befinden sich auf dem neuesten Stand der Forschung. Die unterschiedlichen Akzentsetzungen ergänzen einander: Während Ullrich den Kulturkampf gerade auf einer halben Seite abhandelt, widmet ihm Schwarzmüller nicht weniger als acht Seiten. Andererseits wird die sozialpolitische Leistung des Reichsgründers von Schwarzmüller wohl ein wenig zu knapp gewürdigt. Die beiden Bände heben sich in erfreulicher Weise von früheren und leider auch neueren Versuchen ab, Bismarck als "Dämon der Deutschen" und wieder einmal als direkten Vorläufer Hitlers zu verunglimpfen. Man wird Ullrich uneingeschränkt beipflichten können, wenn er bemerkt: "Vielleicht läßt sich sagen, daß dieser umstrittene Staatsmann erst jetzt ganz der Geschichte angehört - und daß wir ihn deshalb in seinen Grenzen und Leistungen vorurteilsfreier betrachten können, als es früheren Generationen möglich war."
Hans-Christof Kraus
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